1) Erste Begegnung
Wenn ich das Wort Chaos-Theorie höre, muss ich sofort an diesen Satz hier denken: „…der Flügelschlag eines Schmetterlings kann die Welt verändern…“. Also im Prinzip beinhaltet sie die Aussage, dass eine möglichst kleine Ursache eine maximale Auswirkung haben kann. Und nach meiner Ansicht steckt auch eine Menge Wahrheit darin. Auf der anderen Seite: man wird es nie prüfen können. Es sei denn, die Zeitmaschine wird doch noch erfunden. Und wie bei „Zurück in die Zukunft II“ kann sogar ein „paralleler Zeitstrahl“ entstehen und dann wieder abgeschnitten werden (Danke, Michael J. Fox!), indem man sich an den Punkt in der Vergangenheit begibt, wo er entstanden ist (alles Chaos? Auch die Kapitelordnung; an anderer Stelle ist von Biff Tannen die Rede, der im Fußballalmanach sämtliche Sportergebnisse der Zukunft fand und darauf ein Weltimperium aufgebaut hat…; suchen Sie bitte das Kapitel).
Nun fühlt man sich nicht unbedingt wohl bei dem Gedanken: „Alles ist Zufall.“ Ich kann geboren werden (worden sein) oder auch nicht: Zufall. Ich kann 100 Jahre alt werden oder 52, zufällig bestimmt. Ich kann die Frau meines Lebens finden oder für immer alleine bleiben. Und Letzteres nur wegen diesem dämlichen Schmetterling. Wäre er doch bloß nach links anstatt nach rechts geflogen… Insofern sucht man als Mensch auch ganz gerne mal nach Indizien, die darauf hindeuten, dass es doch nicht zufällig ist. Irgendwie vorbestimmt. Dass es vielleicht auch jemanden gibt, der unser aller Schritte lenkt. Oder dass alles in dem großen Buch steht, Schicksal eben. Und dann passiert einem dieser Riesenzufall, den man sich nicht recht erklären kann und man glaubt, den Beweis gefunden zu haben, dass es doch einen Zusammenhang gibt, dass es womöglich das Schicksal gut mit einem meint oder dass ein solch großer (glücklicher) Zufall nicht einfach so passieren kann und man fragt sich, wer da seine Finger im Spiel hatte.
Diese Suche nach dem Sinn oder auch, allgemeiner ausgedrückt, diese philosophischen Fragen sind im Prinzip die Suche nach der Ordnung im Chaos. Intuitiv spürt man vielleicht, dass es einfach diese Riesenzufälle geben kann und dass es eigentlich keine Erklärung dafür gibt. Aber diesem Chaosprinzip ausgeliefert zu sein macht einem eben ein wenig Angst, also wehrt man sich dagegen.
Und so sehr ich auch grundsätzlich an die Chaostheorie glaube, so gerne nehme ich dennoch jeden Hinweis dankbar auf, dass es doch noch etwas anderes gibt, was für das Schicksal verantwortlich ist. Die Geschichte meiner Zwillinge ist ein geradezu verführerisch gutes Beispiel, dass es tatsächlich so ist (Kapitel: „Meine Zwillinge“).
Dennoch habe ich viele der Grundlagen der Chaostheorie geradezu verinnerlicht und glaube felsenfest daran. Zum Beispiel, wenn mir wieder mal ein Reporter erklären möchte, dass der Sieg dieser Mannschaft „verdient“ war. Dann denke ich jedes Mal: Hat er denn diese Großchance, jenen Pfostenschuss und diese Schiedsrichter Fehlentscheidung schon vergessen? Und wenn das Tor erst mal für die anderen gefallen wäre, dann wäre nicht nur vom Ergebnis her alles anders verlaufen.
Also ich kann mich sogar an meine erste Begegnung mit der Chaostheorie erinnern: Es war im Jahre 1970, es war Fußballweltmeisterschaft. Die war in Mexiko. Die Spiele waren nachts. Ich war 11 Jahre alt. Ich durfte die Spiele schauen, wenn ich vorher geschlafen hatte. Ich hatte alle deutschen Spiele gesehen. Es kam der Tag des Halbfinales, Deutschland – Italien. Ich war äußerst gespannt, Fußballfan, nein, verrückt, den Fußball durfte ich nicht ganz so sehr lieben wie die Mathematik, denn der Fußball ist ja männlich; nichts, aber auch gar nichts hätte mich vom Schauen dieses Spieles abhalten können. Ich schlief also vor. Ich musste, Bedingung meiner Eltern.
Ich wachte irgendwann nachts auf. Irgendwas war komisch, irgendwas stimmte nicht. Ich rannte ins Schlafzimmer meiner Eltern. Ich weckte meinen Vater. Er, schlaftrunken „4:3 für Italien nach Verlängerung“. Ich war fassungslos. Ich wollte es nicht gehört haben. Es konnte nicht sein, es war unmöglich, nicht, dass Deutschland verloren hatte, aber dass ich es verpasst hatte. Ich habe am nächsten Morgen die Schule geschwänzt, das Spiel wurde wiederholt im Vormittagsprogramm. Aber ich konnte weder Spannung noch irgendetwas empfinden. Alles war dumpf und Depression. Italien ging nach sieben Minuten mit 1:0 in Führung und es war ein langweiliges Spiel. Man näherte sich schon dem Schlusspfiff, also stimmte das doch nicht, was ich im zweiseitigen Halbschlaf gehört zu haben glaubte. Aber dann, die letzte Minute, tatsächlich das 1:1 in für Deutschland, Torschütze Schnellinger mit seinem einzigen(!) Länderspieltor und… sollte etwa doch?
In der Verlängerung, ich kann nicht behaupten, dass ich aufgeregt war, ich zweifelte nur immer wieder: wie soll das 4:3 werden? Dann das 2:1, einkurioses Tor durch Gerd Müller, das 2:2 wieder, dann gar das 3:2 für Italien, noch einmal Gerd Müller zum 3:3, allmählich wurde es Gewissheit, der letzte Schuss, dass 4:3 für Italien durch Gianni Rivera, Sepp Maier warf sich verzweifelt auf den Boden, es stimmte also, Deutschland war raus, durch ein 3:4 nach Verlängerung. Das Spiel des Jahrhunderts, und ich war in Trance, unfähig überhaupt irgendetwas zu fühlen oder zu denken.
Aber ich habe anschließend philosophiert, Und ich habe überlegt, ob es möglich sein könnte, dass, wenn ich es gesehen hätte, alles ganz anders gekommen wäre. Ich habe immer weiter gesponnen, um es mir vorstellen zu können. Die Nachbarsfamilie hätte mich am Fenster gesehen, hätte deshalb ein Telefonat nur 3 Sekunden später durchgeführt, das Telefonat ging ans andere Ende der Welt, alles kommt anders. Nur, um eine Ausbreitungsmöglichkeit der Veränderung zu beschreiben. Keiner konnte mich verstehen. Aber es war meine persönlich Geburtsstunde der „Chaos Theorie“. Ich fand keinen Beweis, dass es sowieso und unvermeidlich so kommen musste. Es hätte auch ganz langweilig beim 1:0 bleiben können. Dank meiner haben Sie das Spiel des Jahrhunderts erlebt. Zweifel? Ach so, meine Eltern haben mir später versichert, dass sie alles Menschen mögliche getan hätten, um mich wach zu bekommen. Ich glaube ihnen bis heute nicht.
So gerne ich auch zur Philosophie überleiten würde, ich bleib mal bei der Mathematik (gab es nicht sogar zwischen diesen beiden eine anerkannte Verwandtschaft?).
2) Die Suche nach der Ordnung im Chaos
Ich möchte doch noch mal einen etwas genaueren Blick auf diesen Begriff und die dahinter steckenden Zusammenhänge werfen.
Die Chaostheorie beschäftigt sich also auf eine Art mit der (Nicht-)Vorhersagbarkeit zukünftiger Ereignisse. Meine damalige Beobachtung oder Begegnung damit war ja ein wenig anders. Ich hatte den Verdacht, dass ein eingetretenes Ereignis durch die Veränderung eines winzigen kleinen Parameters möglicherweise seinen Ausgang verändert hätte.
Dazu kann man zwei Dinge sagen: 1) wie groß der Einfluss sein müsste, ist nicht festgelegt und 2) man kann die alternative Variante nie überprüfen.
Wenn es ein so kleiner Parameter ist wie der damalige, als ich nachts nicht geweckt wurde und das Spiel des Jahrhunderts verpasste, ist es natürlich fraglich, ob ich mit meinem Doch-Aufstehen einen Einfluss hätte nehmen können und wie dieser Einfluss ausgesehen hätte (das ist eben der Flügelschlag des Schmetterlings…). Aber das leitet direkt zu 2) über. Denn: Man wird es niemals nachprüfen können. Also ist hier der fließende Übergang zur Philosophie.
Eine Bedeutung hat diese Überlegung aber wirklich fast täglich bei mir. Denn: wann immer ich eine Wette platziere oder noch besser nicht platziere ist es für mich müßig, darüber nachzudenken, was passiert wäre, wenn… Denn das werde ich nie prüfen können. Es zählt also nur das, was wirklich gemacht, gewettet wurde. „Ich wollte die spielen, aber gerade in dem Moment ist mir das Internet abgestürzt…“ zählt nicht. Ich weiß nicht, wie das Spiel ohne Absturz ausgegangen wäre. Ich hatte doch auch die kleine Roulettegeschichte erlebt, als ich beim zur Kasse gehen (versehentlich) 100 DM auf die 27 gesetzt hatte, die ich zufällig aus meiner Tasche gegriffen hatte, (es sollten 20 sein), ich die 100 wieder herunternahm, für den 20er zu spät war und die 27 kam. Das wäre eben auch so ein Beispiel. Wäre es vielleicht wirklich noch anders gekommen? Hätte ein anderer bei Ansicht meines Satzes irgendeine andere Entscheidung getroffen, sich deshalb anders bewegt, ein Windhauch, eine Berührung, davon ausgelöst, den Kessel, irgendetwas, und die Kugel hätte ihren Lauf doch verändert?
Dies ist der eine Aspekt der Chaostheorie. Der andere ist eben jener: In wie weit lassen sich Ereignisse in ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit doch vorherbestimmen? Sicher, man kennt die (Grundaussage) der Heisenbergschen Unschärferelation, nach welcher sich bei Kleinstteilchen nicht gleichzeitig Ort und Geschwindigkeit bestimmen lassen (da fällt mir gerade der kleine Scherz ein: Als Heisenberg in eine Verkehrskontrolle geriet und gefragt wurde, ob er wisse wie schnell er gefahren sei, antwortete er: „Nein, das nicht. Aber dafür weiß ich, wo ich bin.“). Das deutet auf eine gewisse Unordnung auch im Mikrokosmos hin. Das ist auch in gewisser Weise die Widerlegung der Laplaceschen Vermutung, dass, wie ich zitierte „Ein Dämon…“, also, wenn man alle Parameter kennen würde, würde sich ein jedes Ereignis exakt vorherbestimmen lassen.
So weit ich also weiß, sind auch die (Natur-)Wissenschaftler mit dem Begriff „Chaostheorie“ selber nicht mehr ganz einverstanden. Denn viele Gebiete in der Forschung beschäftigen sich eben gerade mit dem Thema, in wie weit man trotz des scheinbaren Chaos eine Ordnung finden oder auch herstellen kann. Nicht zuletzt die Schicksalsüberlegung ist auch ein Beweis für die Suche nach der Ordnung im Chaos.
Es gibt aber eine weitere Widerlegung, nach meiner Ansicht. So lange man nur Experimente macht und beobachtet, bei denen lediglich leblose Elemente in Bewegung versetzt werden (besser gesagt: bleiben, denn es bewegt sich ja alles ständig, aber gezielt bewegt werden, der geworfene Würfel) genügen möglicherweise die Kenntnisse der physikalischen Gesetze noch nicht mal gänzlich (s.o.), um es für „ exakt vorhersehbar“ oder „berechenbar“ einzustufen. Also wenn wir den Würfel wieder herausholen und den LaPlaceschen Dämon wieder bemühen, so dürften selbst dann, auch bei Kenntnis sämtlicher für den Ausgang verantwortlicher Parameter, diese nicht ausreichen, um den Ausgang des Wurfes exakt berechenbar zu machen. Der Grund hierfür eben noch mal: die Kleinstteilchen benehmen sich selber chaotisch. Zumindest reicht der augenblickliche Stand der Wissenschaft (noch?) nicht dafür aus. Die Wissenschaft befindet sich ohnehin immer nur auf dem momentanen Stand des Irrtums.
Aber was, wenn Menschen im Spiel sind? Und das im wahrsten Sinne des Wortes „Spiel“? Wie sollte ich deren Reaktionen vorherbestimmen können? Selbst wenn diese auch von chemischen und physikalischen Prozessen her geleitet werden. Das scheint dann aber doch gänzlich aussichtslos. Und es sind ja nicht nur die Beteiligten selber, die Spieler, sondern auch noch die Spielleiter, deren Entscheidungen maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang des Geschehens haben können.
Zusammengefasst bewegt sich die Wirklichkeit zwischen den beiden extremen Polen: Exakte Berechenbarkeit und absolute Nichtvorhersagbarkeit. Also irgendwas zwischen 1 und 0. Wie üblich in der Wahrscheinlichkeitstheorie. Ich möchte darüber jetzt auch nicht weiter philosophieren oder einen Prozentsatz angeben, in welche Richtung ich neige.
Nur noch so viel dazu: Der Lebensweg, den ich beschreite, beschäftigt sich gerade mit der Ordnung des Chaos. Ich versuche, die absolute Nichtvorhersagbarkeit einzuschränken. Schauen Sie, ganz einfach, Fußball ist ein Spiel, 22 Spieler, ein Ball, und am Ende gewinnt Deutschland (Gary Lineker). Nichts scheint vorhersehbar (außer das). Wer soll gewinnen? Oder gar Remis? Und die absolute Ordnung, Vorhersagbarkeit, Kenntnis aller Größen, Parameter, Bewegungen, gänzliche Ordnung des Chaos, würde dazu führen, dass man ein Ereignis auf 100% setzt (und das dann auch eintritt). Ich versuche in dem Sinne eine Näherung, dass ich sage, 56.6% Bayern, 27.9% X, 15.5% HSV. Also diese Form der „Festlegung“ bringt eine teilweise Ordnung des Chaos mit sich. Besser noch ist es eine Voraussetzung dafür.
Das reine Chaos wäre die Prognose 33.33% — 33.33% — 33.33%. Es ist keine Ordnung festzustellen. Aber, wie ich hoffentlich beweisen konnte, gibt es doch eine gewisse Ordnung. Und diese kann man sogar langfristig nachweisen.