Ein weiteres Kapitel, was dazu dient, eine Weltanschauung, die sich auf das Denken in Wahrscheinlichkeiten stützt, näher zu bringen. In Bezug auf das so gerne und häufig zitierte „Murphies law“ hat sicher jeder eine gewisse Vorstellung. Hier wird etwas eingehender untersucht, wo diese eigentlich herkommt. Die Behauptung steht, dass die hier vertretene Auffassung bislang noch von der des Lesers abweicht. Das darf getrost als dreist bezeichnet werden.
Aus der Physik ist ein Problem bekannt, bei dem man den radioaktiven Zerfall zeitlich messen möchte. Irgendwo ist Radioaktivität ausgetreten (das soll ja mal in größeren Mengen am 26.4.1986 geschehen sein? Nannte man es ausgerechnet da den SuperGau, der so gerne mit dem Namen Murphy in Verbindung gebracht wird?). Anschließend fragt man sich, wie lange es noch strahlt. Leider lässt sich diese Frage nicht exakt beantworten. Beziehungsweise wäre die einzig halbwegs akzeptable, korrekte Antwort: „Es strahlt immer weiter. Es hört nie auf.“
Daher hat man sich in der Physik damit beholfen, dass man die Frage umformulierte. Man fragte irgendwann schlauer: „Wann ist die Strahlung nur noch halb so stark?“ oder „wie lange dauert es, bis sich die derzeit vorhandene Strahlung halbiert?“ Was einen also interessieren soll ist die Frage nach der so genannten Halbwertszeit. Es halbiert sich immer weiter und irgendwann ist es so klein, dass es irrelevant wird. Die Zeitspanne, in der es sich halbiert ist immer identisch. Also von 20 auf 10 dauert genau so lange wie von 10 auf 5 etc. Diese Gesetzmäßigkeit musste natürlich zunächst mal beobachtet (also gemessen) werden. Die Naturkonstante, die für derartige Prozesse gefunden und seitdem dafür verantwortlich ist, ist e, die Eulersche Zahl.
Aus der Praxis des Spielers ist ein ähnliches Problem recht häufig aufgetreten. Leider löst allein schon die Formulierung dieses Problems häufig genug Verwirrung aus. Die Geschichte von Pasch-Jürgen (Kapitel: „Ich würfle einen Pasch in fünf Würfen“) gab aber eine kleine, praktische, Einführung in dieses Problem. Da war es so, dass ein Mensch 5 Mal würfeln durfte, um einen Pasch zu würfeln. Er hatte fünf Mal die Chance, ein Ereignis von 1/6 zum Eintreten zu bringen. Die dafür errechnete Wahrscheinlichkeit beläuft sich auf deutlich über 50%, also, aufgrund der identischen Auszahlungsquote in der Geschichte (100 DM gegen 100 DM, wie da gespielt wurde, so genanntes gleiches Geld) hatte der Würfelnde einen klaren Vorteil.
Drei Versuche hätten nicht gereicht, um auf 50%, geschweige denn darüber zu kommen. Aber vier Versuche hätten bereits ausgereicht. Sicher wäre es auch bei 100 Versuchen nicht gewesen, da es eine Chance gibt, auch bei absolut korrekten Würfeln, dass 100 Mal in Folge kein Pasch eintritt. Erkennt man die Verwandtschaft mit dem oben erwähnten physikalischen Problem?
Allgemein formuliert würde man zwar gerne wissen, wann ein Ereignis „sicher“ oder „mindestens ein Mal garantiert eingetreten“ ist. Aber, analog zu oben, ist es nie sicher. Eben genau so, wie die Radioaktivität nie gänzlich zerfallen ist.
Die analoge Umformulierung auf dieses praktische Problem, also nach der Halbwertszeit, die hier besser heißen müsste die „Halbeintrittschance“, lautet also so:
„Wie viele Versuche auf ein Ereignis mit der Eintrittswahrscheinlichkeit von 1/n sind erforderlich, bis die Chance, dass das Ereignis mindestens ein Mal eingetreten ist über 50% liegt.“
Hier wurde eine Variable mit Namen n verwendet, die darauf hindeutet, dass es eine natürliche Zahl ist. Bei den meisten spielerischen Problemen ist das sogar adäquat. Ansonsten ist selbstverständlich die Frage und auch die Lösung nicht anders bei jedem beliebigen Problem, bei dem ein Ereignis mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit zwischen 0 und 1 wiederholt durchgeführt wird (so, wie Mathematiker teils warnend den Finger haben, dass der SuperGau , dessen Wahrscheinlichkeit, wenn auch unbekannt, so doch sehr klein und nicht durch ein n oder 1/n bestimmbar ist, irgendwann eintreten wird).
Bei dem Paschproblem war also n=6. Wenn n=6 ist, also die Eintrittswahrscheinlichkeit = 1/6, dann ist rasch einleuchtend, dass die Wahrscheinlichkeit „Das Ereignis tritt mindestens ein Mal ein“ bei 4 Versuchen die 50% Hürde überschreitet. Bei 3 Versuchen kann es unmöglich über 50% sein. Denn selbst bei der naivsten (aber falschen) Rechenmethode, die 1/6 aufzuaddieren, erreicht man gerade mal 50% (1/6 + 1/6 + 1/6 = 3/6 = 50%) bei 3 Versuchen. Aber dass es bei vier Versuchen die 50% überschreitet? Ja, warum nicht? Berechnen lässt es sich natürlich auch. Geschieht aber nicht an dieser Stelle.
Verwenden kann man die Antwort relativ häufig. Hier soll es aber nicht hergeleitet, sondern nur einmal erwähnt werden: Wenn n immer größer wird — man sagt dann, dass n gegen unendlich geht — nähert sich der gesuchte Wert immer weiter an ln2 * n an. Der ln2 ist ca. 0.69. Für immer kleiner werdende Wahrscheinlichkeiten bedeutet das – was intuitiv einleuchtet –, dass man eine immer größer werdende Anzahl von Versuchen durchführen muss, um die Chance auf über 50% zu erhöhen, dass das Ereignis mindestens ein Mal eintritt. Der logarithmus naturalis ist im Übrigen die Umkehrfunktion der e-Funktion. Also die Verwandtschaft existiert auch hier.
Wenn man ein Ereignis mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 1/100 hat, dann müssen ca. 0.69*100 = 69 Versuche gemacht werden, um Favorit zu sein, also über 50% zu haben, dass das Ereignis ein Mal eintritt.
Wenn übrigens ein Zufallsexperiment gesucht wird, bei der jede beliebige solche Wahrscheinlichkeit abgebildet werden kann, so empfiehlt es sich, an das Experiment „Kugel ziehen“ zu denken. Wenn 100 Kugeln in einer Trommel sind, von denen eine rot und die anderen weiß sind, hätten man ( ziemlich exakt?!; siehe andere Kapitel zu Zweifeln diesbezüglich) die Wahrscheinlichkeit von 1/100 bei einem Versuch, die rote zu ziehen.
Um eine Wahrscheinlichkeit von 1/100 zu konstruieren, kann man auch 10 Kugeln nehmen, von denen eine rot ist und die anderen neun weiß sind und 2 Mal hintereinander ziehen, zurücklegen aber nicht vergessen! Dann ist die Wahrscheinlichkeit jeweils 1/10. Da die Ereignisse „rote Kugel ziehen“ im ersten und zweiten Versuch gleichwahrscheinlich und unabhängig sind, wird multipliziert und man erhält 1/10 * 1/10 = 1/100. Die Chance, von 10 Kugeln zwei Mal hintereinander die einzige rote Kugel zu ziehen wäre dann ebenfalls 1/100.
Die 69 Versuche oder, verallgemeinert, 69% von n bzw. ln2*n, sind hier aber nur der Wert, wo es garantiert über 50% liegt. Möglich, dass auch 68 Versuche schon ausreichen. Denn bei dem Paschbeispiel brauchte man auch nur vier Versuche. Und 4/6 ist 66.67%. Und diese Zahl ist kleiner als ln 2, also kleiner als 69%.
Hier zur Veranschaulichung das Ganze im Diagramm:
Das Diagramm zeigt die Entwicklung bei einem Ereignis mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 1/100 (eine von 100 Kugeln ist rot. Wird sie gezogen?) bei bis zu 500 Versuchen. Die lila Linie beschreibt dabei die Chance, dass es bis zu der Versuchszahl bereits mindestens ein Mal eingetroffen ist, die blaue Linie ist die Gegenwahrscheinlichkeit (es ist bisher noch nicht gekommen). Die Form einer solchen Kurve nennt man auch „Hyperbel“. Eine Hyperbel schmiegt sich an ihren Grenzwert an. Der Grenzwert für lila ist 1, der für blau 0. Erreicht werden diese Werte nie. Für jede Anzahl von Versuchen kann man berechnen, wie wahrscheinlich es ist, dass es bis zu dieser Anzahl noch nicht eingetreten ist (und im Diagramm ablesen, wenn man es über die 500 hinaus wissen will). Dennoch: Bei 500 Versuchen scheint es schon so ziemlich sicher, dass es ein Mal kommt (der Wert bei 500 Versuchen ist übrigens 99.34%, dass es mindestens ein Mal gekommen ist).
Ja, was hat das nun mit Murphys law zu tun? Eine kurz durchgeführte Recherche im Internet ergab, dass die intuitive Verwendung „alles geht schief“ im Grunde sogar richtig ist. Jedoch gibt es eine tatsächliche Gesetzmäßigkeit, sofern man nur geringfügig umformuliert: „Alles geht schief. Wenn man es oft genug probiert.“ Oder, kürzer: „Alles geht irgendwann schief.“
Die wirkliche und – da Murphy Englischsprachig war, wie man dem Namen nach bereits vermuten könnte – tatsächlich im Englischen verwendete Formulierung des mathematischen Gesetzes lautet so: „What ever can go wrong, will go wrong.“ Diese Aussage ist absolut Vertrauen erweckend. Das Gesetz der großen Zahlen – es gibt eigentlich zwei, die sich aber sehr verwandt sind – wird damit zum Ausdruck gebracht. Die Aussage dessen ist oben im Diagramm anschaulich gemacht: Jedes Ereignis mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit >0 wird irgendwann eintreten, wenn man es nur lange genug probiert. Die Hyperbel schmiegt sich an die 1 an. 1 ist das sichere Ereignis. Es tritt irgendwann ein. Der Mathematiker formuliert das dann so merkwürdig (aber in seiner Welt korrekt): „die relative Abweichung geht unter jedes epsilon“. So, wie man es im Diagramm anschaulich sieht: Die Kurve nähert sich unaufhaltsam der 1. Aber sie wird die 1 nie berühren. Es gibt immer einen Zwischenraum. Der wird immer kleiner, kleiner gar als epsilo, und das darf, bei aller Beliebigkeit, auch gerne man 10^-100 sein.
Die Grundannahme war die, dass Murphy dieses Gesetz in einem einfachen, für jeden verständlichen Satz ausgedrückt hat. Und daraus, so die weitere Annahme, wäre die Legende entstanden, dass er derjenige war, der den Teufel an die Wand malte: „What ever can go wrong, will go wrong.“ Alles, was schief gehen kann, wird irgendwann schief gehen, also auch so schlimme Dinge wie SuperGAUs. All diese Dinge sind wahr, gehen aber einfach nicht auf Murphy und dessen Erkenntnis zurück. Er hat es in einem anderen Zusammenhang gesagt und sogar so gemeint. Also so, wie man es vermutlich bisher kannte. Irgendwas mit der größtmöglichen Katastrophe halt, die auch noch sicher eintreten wird. Der Volksmund hat auch seine eigenen Gesetze…
Wenn man sich also in Zukunft auf Murphy berufen mächte, weil mal wieder etwas daneben gegangen ist, möge man ruhig dabei bleiben. Es existiert dennoch ein mathematisches Gesetz, welches entfernt dahinter steckt – und Gültigkeit hat.
Noch einmal zurück zu dem Beispiel mit der „Halbeintritszeit“. Es wurde zunächst der Punkt gesucht, ab welchem das einmalige Eintreten eines, auch sehr unwahrscheinlichen, Ereignisses die 50% erreicht. Das war insofern sinnvoll, als man keinen Zeitpunkt gewährleisten kann, ab dem es sicher ist, dass es eintritt. Das bezieht sich tatsächlich auf jedes Ereignis mit einer Wahrscheinlichkeit >0. Ereignisse mit sehr kleinen und mit sehr großen Eintrittswahrscheinlichkeiten unterscheiden sich dabei nicht: Die Frage: „Wann wird die 50% Hürde überschritten?“ ist eine feste und bestimmbare Anzahl von Versuchen. Wann es 100% sind, also sicher ist, ist nicht bestimmbar. Nur, dass es eintritt ist sicher. Nicht vergessen: Lange genug probieren. Für viele, und zwar sehr kleine, Chancen reicht vermutlich die Lebenszeit nicht.
Es gilt für große und kleine Wahrscheinlichkeiten ebenso wie für erfreuliche und höchst unerfreuliche Ereignisse. In diesem Sinne also: Lottoschein abgeben nicht vergessen! Irgendwann kommt es.
Hier noch ein weiteres Diagramm mit einem wesentlich unwahrscheinlicheren Ereignis. Man sehe:
Hier ist die Wahrscheinlichkeit aufgezeichnet für die wiederholte Durchführung eines Ereignisses mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 1/20000. Die Hyperbel kommt noch nicht so recht in Bewegung. Denn bei 20000 Versuchen (Excel ist irgendwann überstrapaziert. Dabei bedenke man: 1/20000 ist noch kein extrem unwahrscheinliches Ereignis.) steigt die Chance gerade mal so auf knapp über 60%, dass bis zum ca. 20000. Versuch mindestens ein Mal eingetreten ist (hier nur bis 17034 dargestellt; der Wert ist abgelesen). Nicht zu verwechseln dieser Wert mit der Chance, wann die 50% überschritten werden. Das geschah nämlich bei Versuch Nummer 13863. Das sind 69.31% (von 20000). Der Logarithmus Naturalis (kurz: ln) von 2 ist ebenfalls 0.6931.
Die Hyperbelbewegung würde selbstverständlich so weiter gehen und sich ebenso an die 1 (und die 0) anschmiegen. Selbst wenn man den SuperGau als noch wesentlich unwahrscheinlicher einstuft: Der Kurvenverlauf wäre ähnlich. Wenn man es oft genug (hier: lange genug) versucht, tritt es irgendwann ein. Auch der Lottogewinn. Also: dran bleiben.