Gibt es eine Wahrheit?
Man könnte sich auf viele Arten der Fragestellung oder, demzufolge, dem aufgeworfenen Problem nähern. Ein Beispiel wäre: es ist ein Wort. Jedes Wort hätte seine Bedeutung und seine Berechtigung. Es ist vom Menschen erdacht, in aller Regel in der Absicht, etwas von ihm Beobachtetes zu abstrahieren, in ein Wort zu fassen, welches in der Folge in der Rückabstraktion – der „Konkretisierung“ – beim dies Wort zur Kenntnis Nehmenden, eine ähnliche Assoziation, möglichst natürlich die identische, auszulösen. Als der Mensch erstmals dem Phänomen einer Wahrheit begegnete, vor allem dem Gegenteil davon, war er sozusagen gezwungen, sich einen Begriff dafür auszudenken. Insofern: den Begriff gibt es, demzufolge auch eine Bedeutung desselben. Da es das Wort gibt, gibt es auch einen Inhalt. Es gibt „Wahrheit“. Fertig.
Man könnte sich jedoch auch auf andere Art der Fragestellung nähern: dieser Text ist in deutscher Sprache verfasst. Es gibt das deutsche Wort für etwas, was man möglicherweise woanders ähnlich auffasst. Möglich aber auch, dass bei Übersetzung in eine andere Sprache eine winzig kleine Änderung in der Auffassung auftaucht? Hier wäre bereits die Frage deutlich: bei anderen Begriffen mag dies eine untergeordnete Rolle spielen. Bei der Wahrheit hätte man allen Anlass, kleinlich zu sein. Aber nur, falls es die eine Wahrheit gäbe.
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Zweiter Versuch:
Falls es eine Wahrheit gäbe: mit welchem Medium würde man diese übermitteln? Sie existiert, ok, alle sind sich einig, es gibt diese eine Wahrheit. Nun ist nur noch die Frage, wie man sie festhält? Man könnte sie aufschreiben. Nur würde man dazu a) bereits eine Sprache verwenden, welche nicht jeder versteht und welche, bei Übersetzung in andere Sprachen, zu gewissen Verlusten ihrer selbst führen könnte, b) würde jedoch jegliche beabsichtigte oder gar notwendige Intonation entfallen. „Du musst natürlich hier die Betonung setzen und nicht dort, sonst stimmt es natürlich nicht mehr.“ Sollte man sie versuchen, mit einer Videoaufnahme einzufangen, dann wären auch hier bereits Authentizitätsverluste nicht nur möglich, denkbar, sondern eigentlich eher gesichert. Zumal eine Kameraaufnahme – wie ein Physiker oder Techniker verstehen, bestätigen oder deutlich machen könnte – aufgrund der Bildabfolge ohnehin schon immer nur Teile der „Wahrheit“ aufzeichnen könnte, jene, welche der (höchst)möglichen Ablaufgeschwindigkeit entsprechen.
Genauso verhielte es sich bei einer Tonaufzeichnung. Selbst Bild UND Ton können dieses Problem gemeinsam nicht bewältigen. Da ist etwas drauf, aber ist es auch alles, was relevant wäre oder was interessiert hätte? Dies gilt natürlich ebenfalls für eine schriftliche Aufzeichnung.
Nun könnte man sich mit den Adjektiven beschäftigen, welche man der „Wahrheit“ hinzufügen könnte und nicht nur das, es sogar häufig genug tut. Man möchte gerne die Wahrheit erfahren. Die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Als Beispiel. Wenn es sich jedoch um die bereits im Begriff enthaltene, vorher festgelegte Wahrheit handelte, dann wäre dieser Zusatz nicht nur absolut überflüssig, sondern im Prinzip sogar mit liefernd das Eingeständnis, dass es sie gar nicht gibt.
Ein Beispiel im Dialog: „Ist das wahr, was du gesagt hast?“ „Ja, es ist wahr.“ „Ist es aber auch die reine Wahrheit, ist es die vollständige Wahrheit, hast du nichts hinzugefügt und nichts weggelassen?“ „Nein, danach wurde ich ja nicht gefragt. Ich wurde gefragt, ob ich die Wahrheit gesagt habe. Das habe ich. Von vollständiger Wahrheit oder reiner Wahrheit war keine Rede.“
Bereits an dieser Stelle dürfte es deutlich werden, dass man zwar genannte Adjektive oder gar ganze Sachverhalte – nichts hinzugefügt, nichts weggelassen – mit der Wahrheit in Verbindung bringt, dass man aber zugleich den Begriff damit bereits erkennbar aufweicht, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ganz richtig wahr ist es erst dann, wenn die Zusätze ebenfalls eingehalten sind? Dann kann es zuvor noch lange nichts mehr der Wahrheit zu tun gehabt haben.
Aus der Mathematik kennt man das Bemühen, eine Wahrheit herauszubekommen und diese beweisbar zu machen. Nur weiß mindestens jeder Mathematiker, dass es auch hier einer Vielzahl von Konventionen bedarf, bis es so weit ist. Und einer Grundvoraussetzung bedarf es ohnehin: den Axiomen. Die Axiome sind kleinste, nicht beweisbare Aussagen, ohne die man gar nicht anfangen kann, Mathematik – die Wissenschaft von „wahr“ und „falsch“ – zu betreiben. Auch im Leben gibt es sowohl diese Axiome als auch eine Vielzahl von Konventionen.
Bei der Fülle von möglichen Missverständnissen, welche man allein mit scheinbar sinnvoll aneinander gereihten Worten auslösen kann, sollte man sich viel mehr darüber wundern, warum man sich eigentlich überhaupt verständigen kann? Auch die Wahrheit – als Begriff, aber vielleicht mit einem Sinn gefüllt, von dessen Illusion etwas existiert – bildet hier nicht die Ausnahme. Es ist ein notdürftiges, unbeholfenes Wort, welches sich der Unvollkommenheit des Menschen selbst angleicht: es ist unvollkommen.