- „Vorgeplänkel“
Zu dieser EM muss man nur eine kleine Vorgeschichte erzählen. Und die geht so:
Micha war mein Partner. Wir haben uns die ganze Saison 91/92 abgequält. Glück gab es nicht — oder war ich nur unfähig, das wahrzunehmen? Wir hielten uns gerade so. Michael Friedrich quälte uns durchgehend mit seinen Geisterspielen und gewann eins nach dem anderen, nahm dankend alle Überweisungen an, insgesamt 60.000 DM, als er aber in der nächsten Saison dieses Geld allmählich zurück verlor, war er plötzlich pleite.
Dann kam die Endphase der Saison. Die EM stand an. Fast alle Ligen waren beendet. Vor großen Turnieren gibt es immer eine längere spielfreie Zeit. Nur Italien spielte noch. Allerdings nicht die Serie A sondern die Serie B.
Wir kannten Luigi. Obwohl der Name sicher nicht in Berliner Spierkreisen übertrieben häufig vorkommt, so bekam er dennoch den obligatorischen Spitznamen verpasst: „Luigi schöner Mann“. Er kannte ein paar Italiener, mindestens zwei davon klein, falls die Kalauerhäufigkeit doch zu gering sein sollte. Es gab gar ein ganzes Lokal voll damit. Luigi wollte ihnen auch mal unsere Wettzettel zeigen. Leider gab es keine Spiele.
Nun gut, ich habe schnell die Serie B erfasst in meinem Computer. Und mutig einen Wettzettel herausgegeben.
Die Italiener waren wirklich spielfreudig. Sie haben alle gespielt, und zwar reichlich. Waren die wirklich nur spielsüchtg? Oder hatten sie ein paar Dummköpfe entdeckt? Es gingen jedenfalls haufenweise Wetten ein, die per handgeschriebenen Belegen manifestiert wurden.
Was stellten wir aber bei Ansicht der eingegangenen Wetten fest, als wir sie zu Hause durchsahen? Es hatten alle die gleichen Spiele kombiniert. In zahlreichen, unterschiedlichen Varianten und Kombinationen. Einer erklärte mir zur Beruhigung: „Ich wollte bei Monza die 1 spielen, aber dann hab ich gesehen, dass alle X hatten, da hab ich auch X gespielt.“
Ich war am Sonntagnachmittag unterwegs. Neugier, Unruhe und ein ganz merkwürdiges Gefühl veranlassten mich, Luigi anzurufen. Seinen Ausruf werde ich schwerlich vergessen können, fast noch ehe ich mich vorstellen konnte: „Habe alle gewonne.“
Wir nahmen die erforderliche Barschaft zusammen und es ging ans Auszahlen. Wie viele Messer braucht man im Rücken? Wir scheinbar eine ganze Menge, denn zum nächsten Wochenende haben wir wieder einen Wettzettel gemacht. Es war der letzte Spieltag. Pasquale, der Vorkämpfer der Italiener, sagte noch zu mir: „Moment, muss erst in Italien anrufen, wie die Spiele ausgehen.“ und bemühte sich dabei, es zum Scherz zu erklären. Heute weiß ich besser.. Jedenfalls das gleiche Szenario: Alle Spiele kombiniert, alle spielten die gleichen Ausgänge, in allen Variationen.
Allmählich beschlich uns das gesicherte Gefühl, dass Pasquale tatsächlich nicht gescherzt hatte. Wir sahen uns einer weiteren größeren Auszahlung ausgesetzt. Wir versuchten, die Wetten zu versichern. Wir hatten selber Wettkonten und riefen einen Buchmacher nach dem anderen an. Und was mussten wir feststellen? Niemand nahm auf diese Spiele Geld an. Es standen Quoten da, aber man konnte nicht spielen. Oder für absurde, längst veränderte, winzig kleine Quoten!
Wir riefen noch meinen lieben Freund Martin Schönegger, den alten Hasen, den schlauen Fuchs vom Vierklee Wettbüro in Innsbruck an. Er fand folgende, trostreiche, Worte: „Der Juni ist ein wunderschöner Monat. Ich zum Beispiel sitze gerade in einem Caféhaus. Und man kann noch so viele andere schöne Dinge machen: Radfahren, Schwimmen gehen, Golfen. Nur eines sollte man auf gar keinen Fall tun: Auf italienische Spiele Quoten anbieten.“
War er etwa auch ein gebranntes Kind? Eine wohl zu spät gewonnene Erkenntnis.
Der sonntägliche Anruf beim schönen Mann mit der absolut scheußlichen Stimme, wenn man den Wortlaut bedenkt, ergab das erwartete Ergebnis: „Habe alle gewonne.“
Wir haben aber wirklich gut gespart. Pasquale hatte wohl einen Hörfehler. Denn Pisa hatte nicht gewonnen („ich habe gesagt Pisa X, Pasquale, Pisa X, nicht Sieg“; war fast wie bei „Der Clou“).
So hat uns dieser Juni jede Menge nützliche Erfahrung eingebracht. Sicher, alles hat seinen Preis, und das war wirklich eine wertvolle Erfahrung. Oder werden vom geschätzten Leser die aufgebrachten 45000 DM etwa als „zu viel“ erachtet?
Wir hatten auf diese Art jede Menge neue Freunde gefunden. War eigentlich ganz einfach, oder? Und mit den prall gefüllten Taschen konnten auch diese cleveren Italiener ihre Spielfreude nicht mehr unterdrücken. Zur EM waren sie unsere „Hauptkundschaft“. Nur spielten sie ohnehin alle ihre Wetten mit unserem Geld. An gewinnen war nicht zu denken. Der günstigste Fall hätte geheißen: Ein bisschen zurückgeholt.
2. Das Endturnier
Diese EM wurde weiterhin mit acht Mannschaften ausgetragen. Zwei Vierergruppen, Überkreuz Halbfinals und das Finale. Sechs Spiele pro Vorrunde, zwei Halbfinalspiele und das Finale, insgesamt fünfzehn Spiele. Verglichen mit einer WM immer noch klein.
Bemerkenswert an diesem Turnier, dass die Dänen nur zur Endrunde geladen wurden, da die qualifizierten Jugoslawen aufgrund der politischen Unruhen im eigenen Land kurzerhand ausgebootet wurde. Die Dänen, wie man gerne immer wieder berichtet, kamen geradewegs aus dem Urlaub zum Turnier und waren alles andere als „gut vorbereitet“.
Unsere Wettzettel wurden in alter Tradition im Belmont, und wo es sonst noch ging und Interessenten gab, wieder verteilt. Aus irgendwelchen Gründen gab es immer wieder ein paar Neider, die der Meinung waren, dass wir uns dort „die Taschen voll stopften“. Das war bedauerlicherweise aber alles andere als die Wahrheit. Erstens gab es dort nicht viel Geld und zweitens wurde immer nur ausgekippt. Auch die Italiener schienen die meisten Ergebnisse zu kennen…
Die Deutsche Mannschaft bekam es in der Gruppe mit Russland (ja, GUS), Schottland und Holland (ok, ihr müden Holländer, ich weiß auch, dass allein schon „Holland“ zu sagen eine Geringschätzung ist) zu tun. Gut, leichte Gegner zu erwarten, wäre wohl bei einer Endrunde unrealistisch. Aber diese waren doch zumindest als „machbar“ angesehen. Das Auftaktspiel gegen Russland nahm einen für Deutsche Verhältnisse gewohnten Verlauf: Man geriet mit 0:1 in Rückstand, schien die Niederlage nicht mehr abwenden zu können, bekam in der letzten Minute einen Freistoß zugesprochen, Thomas Hässler lief an und – versenkte. Vertraut an dem Spielverlauf war dieses: Das Glück.
Das zweite Spiel hatte für mich wegen der zahlreichen – insgesamt vier – blutenden Köpfe Erinnerungswert. Dass die Schotten als willenslose Opfer, wie üblich, brav und artig eine 0:2 Niederlage kassierte, kratzt in Deutschland niemanden. Es gibt immer nur einen Ausgang: Deutschland kommt weiter. Niederlagen existieren nicht. Und gewinnen tun immer „wir“, verlieren „die“. Das Weiterkommen war mit dem Sieg sichergestellt.
Im letzten Gruppenspiel durften sie mal wieder gegen Holland ran. Unter den glücklichen Umständen, durch das späte Tor gegen Russland bereits gesichert weiter zu sein, könnte man das 1:3 als „unerheblich“ oder „Betriebsunfall“ abhaken. Nur war es erkennbar mehr als das. Die Holländer waren so klar überlegen und nahmen die Deutschen regelrecht auseinander. Und falls man in diesem Falle hätte zielen können, dann hätte man lieber die Dänen als Schweden zum Halbfinalgegner gewählt. Die Dänen waren die Freizeittruppe, die direkt von MacDonalds – so die Legende – zum Turnier angereist war.
Für uns war der Sieg der Holländer eine Art Jackpot Ergebnis. Wir hatten höhere Beträge gewettet auf die Ereignisse „Deutschland erzielt genau drei Punkt“ und „Gruppensieg Holland“. Dazu noch in dem Spiel den Sieg der Holländer „erraten“, wie der Österreicher gerne zu einem richtigen Tipp sagt. Dazu noch sparten wir sicher ein paar Auszahlungen auf die „Geschenke für Patrioten“, da sicher viele davon auf Gruppensieg Deutschland gewettet hatten.
Von den beiden Halbfinalspielen gibt es ein paar Kuriositäten zu berichten. Zugegeben, die Deutschen machten das einzig gute Spiel in dem gesamten Turnier und waren mit dem 3:2 gegen Schweden mal wieder in Finale. Man ist geneigt, zu sagen „wie immer“. Dass dieser Sieg zugleich als „Rache für ´58“ angesehen wurde, als Deutschland mit den legendären Einpeitschern an den Seitenlinien, deren einzige Aufgabe darin bestand, das Publikum zu den frenetischen „Heja Heja Sverige“ Anfeuerungsrufen anzuhalten, war auch mal wieder typisch Deutsch. Deutschland nimmt permanent Rache für die eine einzige, jemals erlittene Niederlage. Man hätte doch trotzdem einfach ein zweites Mal ausscheiden können?
Im Spiel Holland gegen Dänemark gab es nun den eindeutigen Turnierfavoriten zu bestaunen. Und dieser versuchte, seine Überlegenheit auf gewohnt gekonnte Art auszuspielen. Geduldig aufbauen, Ball und Gegner laufen lassen, Chancen erzeugen, und ab und zu mal eine davon verwerten. Dieses Konzept ging aber in diesem Spiel nur bedingt auf. Die Holländer erzielten zwar zwei Tore, kassierten aber zugleich zwei. So kam es zur Verlängerung und zum anschließenden Elfmeterschießen. Wie oft man davor aber dachte „jetzt ist er aber drin“ und damit Holland weiter, kann ich nicht mehr wiedergeben.
Wir hatten unsere gewohnten Wettzettel für diese Spiele gedruckt, aber es gab kein besonders großes Interesse. Nur der legendäre Detlef Walden konnte gut mittun. Jedoch wollte er nicht selber wetten, sondern lieber Buchmacher sein, da nach seiner Ansicht der Buchmacher immer gewann. So drückte ich ihm 9.000 DM in die Hand. „Detlef, du bist der Buchmacher. Ich wette, Holland kommt weiter.“ Da Detlef zwar jede Menge herausragender Fähigkeiten besitzt, Rechnen aber eher nicht dazu gehört, so vereinbarten wir, Quoten unabhängig, dass er mir im Falle, dass Holland weiterkommen würde, er mir 12.000 DM auszuzahlen hätte, im Falle aber, dass Dänemark weiterkäme, er alles behalten dürfe.
Detlef war nun wirklich ein routinierter Zocker. Und er ließ sich keinerlei Aufregung anmerken. Er drückte die Bälle wohl einfach so, mit seinem längst sprichwörtlich gewordenen Glück – und auch das ist mehr als Wortspiel – eigenhändig aus dem Tor wieder heraus. Im Elfmeterschießen dann waren die Weichen gestellt. Mit so viel Glück, wie Dänemark bis dorthin gelangt war, stand der Sieger quasi schon fest. Und tatsächlich. Detlef konnte die 9.000 DM behalten, Unvergessen sein Schlusskommentar: „Kann do ma kommm. Kann do ma kommm.“ Und ich höre, er sagte diesen Satz nicht nur an diesem Abend ca. 86 Mal. Ganz wichtig dabei, dass man maximal verkürzt und sich bei der Aussprache auch auf gar keinen Fall die Mühe macht, am Schluss etwa „kommn“ zu sagen. Das wäre übertriebener Aufwand für Zunge und Mund. „Kommm“ mit drei „m“. Dann ist der echte Berliner fertig. „do“ und „ma“ spart nur minimal. Stellt der geneigte Leser etwa jetzt Rücküberlegungen auf die Befähigungen des Detlef Walden als Buchmacher an?
Die paar Fragen, die ich so an das Universum stelle: Wieso passiert eigentlich Deutschland so was nie?
Ausbaden musste diesen finanziellen Verlust übrigens mal wieder der arme Ronny. Ronny war ein Buchmacher, der schon zu Wendezeiten ein kleines Wettbüro eröffnet hatte, welches ihm aber wieder und wieder geschlossen wurde, und der das schicksalsmäßige Gegenstück zu Detlef Walden darstellt. Ronny = Pech. Er hatte vor dem Halbfinale eine 5.0 auf Weiterkommen Dänemark gezahlt und wir hatten dort 2.000 DM platziert Ronny refinanzierte unsere Verluste also mit einem Verlust seinerseits von 8.000 DM. Nebenbei gab es aber genügend Holland Enthusiasten, schon vor dem Turnier, die uns den Rest wieder einspielten.
3. Das Finale
Nun, in diesem Finale haben die Deutschen das Pech gehabt, dass wir uns nur dieses eine Mal auf ihr Glück verlassen wollten. Mein Computer war nach den Darbietungen der Dänen, der Voreinschätzung und speziell der Beobachtung des Spieles gegen Holland nicht davon abzubringen, dass Deutschland klarer Favorit war. Auch wir ließen und davon überzeugen und wetteten selber, dass Deutschland das Turnier gewinnen würde. Mit den Italienern lautete dann die gewohnte Formulierung „hat Cup in der Hand“. Außerdem war ich noch so naiv, mir auch immer wieder den einen Satz vorzusagen: „Kann do ma kommm?“ Egal, ob die Wette gut oder schlecht war. Stimmt nicht?
Nun, mich wundert es im Nachhinein relativ wenig, dass Detlef Walden irgendwie prinzipiell Recht hat. „Kann do ma kommm“. Andererseits verstehe ich auch, wenn man einen zweiten, leicht modifizierten Satz für das Schicksal der Deutschen verwendet: „Kann do nich imma kommm.“ Der Schlüssel zum (Miß-)Erfolg: Ich muss sie einfach nur wetten. Oder?
Egal, wie gut (oder schlecht) die Deutschen in dem Spiel auch waren. Sie verloren einfach. Mit 0:2. Und in Dänemark gibt es seit diesem Tag eine Legende mehr…
Und ich hatte wohl ein System gefunden, Niederlagen für Deutschland zu erzeugen?
Die Medienreaktion war gewohnt „distanziert“. Es gibt keine Trauer für Deutsche Fans. Nicht einmal Enttäuschung. Es verwandelt sich sofort in Fehlersuche und Schuldzuweisungen. Diese zweite Form der Reaktion: Siege wie selbstverständlich hinzunehmen und nicht einmal wirkliche Freude zu entwickeln sondern es einfach den „deutschen Tugenden“ zuzuschreiben ist die eine Seite, die mich den Deutschen keine Erfolge gönnen lassen. Die andere Seite ist die Reaktion auf Verluste. Und diese Seite ist eigentlich fast noch bedauerlicher. Einmal ein paar Tränchen sehen, ein paar Gratulationen trotzdem zu dem immer noch glänzenden Ergebnis, Dank für die netten Stunden, die spannenden Spiele und die immer noch reichlichen Siege. Dank für die guten Leistungen, selbst wenn es nicht zu dem ganz großen Triumph reichte. Und man muss doch einfach zugeben, dass wieder mal alle für Deutschland gespielt haben. Vorrunde überstanden mit drei Punkten gegen Schottland und Russland, Schweden im Halb-, Dänemark im Finale? Da gibt es doch andere Kaliber? Wenn ich über Europa nachdenke fallen mir ein – ohne exakte Reihenfolge – Italien, Holland, Spanien, England,, Portugal. Wo waren diese Länder alle? Warum denkt in Deutschland nie jemand darüber nach? Die Antwort ist einfach, die ich höre: „Na, die Anderen sind eben zu blöd.“ Dann der Zusatz: „Und die Deutschen 92 auch.“