- Vor-WM
Das Turnier hatte mal wieder ein ganz besonderes Ereignis in seiner Vorgeschichte: Am 27. Mai wurde ich Vater einer Tochter namens Chiara-Pauline. Dass meine Ehe geschieden war und entsprechend die Mutter meiner Tochter eine andere Frau, mit Namen Annette, welche selbst bereits zwei Kinder hatte, diese mit ihr zusammen allesamt an meiner allzeitigen Lieblingszahl, an einem 29. geboren waren, und meine Tochter mir zu Ehren an einem 27., also meiner eigenen Geburtstagszahl geboren wurde, spiegelt in gewisser Weise die Kuriosität meines eigenen Lebensverlaufes wieder. Den Stolz kann es in keinem Maße mindern, eher im Gegenteil. Falls man Interesse an einer weiteren von mir entdeckten „Lebensweisheit“ hat, so lese man dieses hier:
Bevor ich Kinder hatte, belächelte ich die Eltern, die ihre offensichtlich absolut durchschnittlichen Kinder immer so für ihre überragenden Fähigkeiten lobten und diese permanent herausstellten. Irgendwie peinlich. Das galt aber nur, bis ich selber Kinder hatte. Jedoch zu meiner größten Überraschung stellt ich fest, dass ich absolut Recht hatte: Alle anderen Kinder waren wirklich nur durchschnittlich.
Dass die Deutsche Mannschaft sich immer qualifizierte, gibt wohl nur mir einen kleinen Anlass, ihnen weiteres Glück zu attestieren. Für mich beginnt dieses bereits sehr häufig mit der Zulosung der Gruppengegner, wo es höchst selten zu echten Gigantenpaarungen kam. Aber auch bei den stets recht einfachen Gruppen muss man immer noch eine kleine Prise Glück hinzugeben, um auf die 100% zu gelangen, die zur Qualifikation erforderlich sind. Selbst wenn man nach der Auslosung direkt schon 90% hätte. Aber lassen wir das mal an dieser Stelle.
Für diese WM hatten Dauerpartner Micha und ich eine ganz besondere Verabredung erzielt. Es gab einen Buchmacher aus Österreich –aus Holland dorthin gegangen –, der sich Gedanken darüber machte, warum er bei uns über einen längeren Zeitraum verloren hatte. Er kam zu der Erkenntnis, dass wir ganz gut waren, lud uns nach Dornbirn ein und ließ sich eine Demo unseres Programmes, unserer Überlegungen und unserer Arbeitsweise geben. Es überzeugte ihn, so dass er fortan Abonnent unserer Zahlen wurde, später sogar das gesamte Programm erwarb.
Für die WM hatten wir sowieso nach seiner und – für diesen Moment lege ich mal kurzfristig die Bescheidenheit ab — auch unserer Ansicht den besten Ansatz gefunden. Denn die im Jahre 1990 noch nicht vorhandene Grundeinschätzung der Mannschaften hatte sich durch die zahlreich in den Computer eingegebenen Ergebnisse längst recht zuverlässig ergeben. Jedoch machte ich ab diesem Jahr noch eine Zusatzarbeit: Jede teilnehmende Mannschaft wurde anhand der aufgestellten Einzelspieler eingeschätzt. Dabei wurde die Einstufung der Spieler anhand der Vereinsmannschaften, für die sie aufliefen, gemacht. Und für alle Vereinsmannschaften hatte ich durch die Erfassung der Europapokalspiele und aller großer Ligen mittlerweile längst exzellente Zahlen. Die Grundspielstärken der Mannschaften wurden anhand dieser Erkenntnisse noch einmal feinjustiert. So konnte man ein paar gute Tipps erkennen, die eventuell vom Markt nicht entdeckt wurden.
Die Simulation lief danach gewohnt zuverlässig. 1000 Durchläufe, oder mittlerweile auch längst 5000 oder gar 10000, die dank weit verbesserter Hardware- aber auch teilweise Softwaretechnik in Sekunden oder höchstens Minuten durch liefen. Und man bekommt so wirklich ziemlich gute Ergebnisse, was die Chancen der Mannschaften angeht. Zur WM gibt es immer noch eine Besonderheit: Der Markt wird ziemlich aufgebläht durch die zahlreichen Spieler, die nur zu einem großen Turnier wetten. Und in der Regel haben diese ein recht einfaches Wettprinzip: Die Quoten sind egal, ich spiele nur das was kommt. Und „was kommt“ ist nach Ansicht dieser Spieler eben das Favoritenereignis.
Die Verabredung war nun mit Jessi, dem Inhaber dieses Wettbüros, dass wir ihn für die Dauer des Turniers mit unseren Zahlen belieferten. Im Gegenzug würde er aber nicht etwa Geld bezahlen, sondern uns alle Wetten, die bei ihm eingingen, durchfaxen. Wir hätten dann von all diesen Wetten 50%. Wir wussten zwar nicht, was uns erwarten würde, hielten den Vorschlag aber für so gut, waren gespannt, und ließen uns gerne darauf ein.
Über die letzten Tage vor der WM hatten wir eine Hauptaufgabe: Ausreichend Fax-Papier besorgen. Denn das lief wirklich Tag und Nacht. Die eine Aufgabe bestand also darin, die Wetten überhaupt zu erhalten. Die noch schwerere war es aber, sich einen Überblick zu verschaffen. Also sahen wir davon einfach ab. Eines war aber offensichtlich: Die Leute spielten Favoriten. In allen Kombinationen. Gruppensieger, Weiterkommen, Siege in den Spielen, kombiniert, einzeln, hoch, klein. Nur waren immer die gleichen Nationen und Namen vertreten. So begann man doch gelegentlich, sich damit zu beschäftigen, was eigentlich passieren würde, wenn alles so kommen würde?
- Die Vorrunde
- Das Eröffnungsspiel Deutschland – Bolivien
Die Vorkehrungen waren getroffen. Unsere eigenen Wetten waren auch platziert. Wir hatten eine gute Arbeitsteilung. Ich war der Mann, um die Zahlen zu erzeugen. Micha war der Mann, die Zahlen zu verwerten. Das Fax besorgte den Rest. Aber auch unsere Wetten waren logischerweise auf die Außenseiter platziert. Nur da erkannte der Computer die imaginären „Vorteile“.
Der Weltmeister durfte oder musste gleich im ersten Spiel ran. Vor- oder Nachteil braucht einen Deutschen nicht zu beschäftigen. Es wird einfach gewonnen. Da man wieder einmal vom Losglück profitierte, begann man gegen Bolivien. Das Losglück bestand aber nicht allein in diesem Gegner. Die anderen Gruppengegner hießen Spanien und Südkorea. So klangvoll Spanien auch mit den Vereinsmannschaften Real Madrid und FC Barcelona sein mag, die Nationalmannschaft hat aufgrund des besonderen Stolzes der Spanier und der einzelnen Regionen im Land selten eine besonders starke Auswahl zusammen bekommen. Abgesehen davon, dass innerhalb der Vereinsmannschaften oftmals ausländische Kräfte zu den Führungsspielern aufstiegen.
Für Bolivien war es ein Großereignis. Einmal gegen Deutschland antreten dürfen. noch dazu vor der versammelten Weltöffentlichkeit! Ein Traum. Ich erinnere mich auch noch wirklich gut an die Szene, als Lothar Matthäus vor dem Star der Bolivianer, Erwin Sanchez, stand, dieser sofort vor Ehrfurcht erstarrte, brav den Ball ablieferte und … meines Wissens Lothar Matthäus ihm im Gegenzug zehn Autogramme auf dem Weg in die Halbzeitpause ausgestellt hat…
Die Deutschen kamen zu einem 1:0 Sieg. Einmal irrte noch der Torwart auf der Suche nach Autogramm-Opfern auf dem Feld herum und Jürgen Klinsmann gelang es, den Ball im verwaisten Tor unterzubringen. Mund abwischen, weiter geht’s. Nur meine Sicht war etwas anders: Es könnte doch mal, gerade in einem so schwachen Spiel, nicht zum Sieger Deutschland kommen? Für die Öffentlichkeit ists längst abgehakt. Noch dazu mit den lächerlichen Worten: „Nach dem ´wie´ fragt doch in zwei Wochen keiner mehr.“ Na, das sagt halt immer der Sieger, gell? Außerdem frage ich einfach. Es war lächerlich. Selbst wenn Deutschland besser war. Diesmal standen sicher satte 40% gegen einen Sieg… Aber was nützen mir schon Rechenspielchen? Deutschland — über alles…
Wir mussten auf der Suche nach verlorenen Wetten von Jessis Seite schon recht bald das Handtuch werfen. Den Sieg von Deutschland hatten alle Experten „erraten“.
- Spanien – Südkorea
Dieses Spiel war, wie wir beim Stöbern in ca. 80 Metern Faxrolle feststellten, noch öfter vertreten als das Deutschland – Bolivien Spiel. Im Eröffnungsspiel waren wohl ein paar Experten noch „vorsichtig“ oder „skeptisch“. Aber Spanien gewann, das stand fest.
Für mich war die Anfangszeit von etwa 2 Uhr morgens unbedenklich. Es bedeutete, dass die nicht mal gar so kleine Familie schlief. Denn die Mutter meiner Tochter hatte noch zwei Kinder aus ihrer Ehe „mitgebracht“. Ich schaute das Spiel ganz alleine.
Die Spanier übernahmen auch gleich das Kommando. Ich hatte Südkorea insbesondere aus der 86er WM in sehr positiver Erinnerung. Vor allem erinnerte ich mich an unglaublich quirlige, kleine Spieler, die nie müde zu werden schienen und die aus allen Lagen auf das Tor schossen. Besondere Spezialität waren Fernschüsse. Spanien ging dennoch bald in Führung. Es war nicht etwa so, dass Südkorea enttäuschte. Es war einfach nur so, dass Spanien besser war und auch Tore erzielte. Denn es stand bald 2:0 für Spanien. Nun habe ich aber alles andere getan, als mich frustriert ins Bett zu legen. Ich schaute weiter. Für wahre Enthusiasten kann jedes kleine Detail bedeutsam, informativ, aber auch spannend sein. Als die 80. Minute überschritten war, war auch meine falls jemals vorhandene Hoffnung ausgesprochen klein. Aber plötzlich, in der 85., fiel das 1:2! Es war verdient, es war eine tolle Leistung von den wirklich exakt meiner Erinnerung entsprechenden Südkoreanern. Sollte etwa doch ein Wunder möglich sein? Und tatsächlich, in letzter Minute gelang Südkorea der Ausgleich. 2:2. Das Endergebnis.
Den Rest der Nacht verbrachte ich damit, alle verlorenen Wetten auszustreichen. Wie sehr es in den Kassen klingelte, kann ich nicht mehr sagen. Aber es war eines der ganz großen Glücksereignisse in meinem Leben, behaupte ich bis heute, dem 17. November 2009. Das Spiel stand in allen Kombis, dazu kam der virtuelle Gewinn auf alle Wetten mit Weiterkommen Spanien und Gruppensieg Spanien, da beides ja noch nicht verloren war, sondern nur schlechter wurde.
- Bolivien – Südkorea
Warum picke ich mir ein solches Spiel heraus? Das langweiligste Spiel, allein von der Paarung her, bei einer Weltmeisterschaft? Nun, es hat wirklich eine besondere Bewandtnis mit diesem Spiel und ich war wirklich überrascht, als ein Schachfreund mir vor ein paar Tagen (am 14.11.09) sofort die Antwort gab, wie das Spiel endete und was das Bemerkenswerte war. Das Spiel hatte wirklich einen faszinierenden Verlauf und endete – mit einem 0:0. Ein wahres Fußballfest. Und es lief von 2 Uhr bis 4 Uhr morgens, ohne „Verlängerung“. Und für alle exakten Rechner, die sofort Zweifel anmelden, sei erwähnt: Es war wirklich so.
Der schottische Schiedsrichter Mottram (sehen Sie, ich habe das nicht recherchiert sondern meinem Elefantengedächtnis entlockt. Nur muss ich gestehen, dass ich es bereits ein anderes Mal vorher recherchiert und mir deshalb eingeprägt hatte) pfiff sein letztes „großes“ Spiel, denn er ließ scheinbar unmotiviert tatsächlich dreizehn Minuten nachspielen. Ich muss an dieser Stelle mal eine Lanze für diesen Mann brechen, wie ich auch dem Schachfreund erklären durfte: Dieses Spiel konnte man einfach nicht abpfeifen. Und das lag wirklich am Spielverhalten der beiden Mannschaften. Denn ein Schiedsrichter geht folgendermaßen vor. Zumindest zu jener Zeit, denn heute ist alles durch die Anzeige der Nachspielzeit „hingerichtet“ worden, vor allem die für den Fußball so erfreuliche und erforderliche Spannung, aber davon an anderer Stelle… er ging also so vor: Er wartete, bis ein Angriff zu Ende gespielt war, der Ball sich irgendwo in der Nähe der Mittellinie befand, die Mannschaften einsahen, dass irgendwann mal Schluss sein musste und einen Querpass spielten … und er pfiff ab. Ich habe es mir wirklich zum Spaß gemacht damals, den Zeitpunkt des Schlusspfiffes exakt vorherzusagen.
Bei diesem Spiel gab es aber diesen Zeitpunkt nicht. Denn ein abgefangener Angriff resultierte in einem sofortigen Gegenangriff. Der Schiri kam einfach nicht dazwischen. Und wenn man die Vehemenz, die Begeisterung, mit der der folgende Angriff gespielt wurde, das offene Visier, die entblößten Abwehrreihen und zwei dermaßen spielfreudige Mannschaften sah, dann konnte man das nicht einfach durch einen schnöden Schlusspfiff unterbinden. „Lass die Kinder doch spielen!“
Zugleich ging es für beide auch wirklich um die einmalige Chance, im Turnier zu bleiben. Ein Sieg gegen den zweiten underdog der Gruppe musste im Prinzip für Beide her. Mein Kommentar: „Schönen Dank für diese tollen Minuten, Herr Mottram. Und nach meiner bescheidenen Auffassung hätten Sie die vorhersehbare Strafe seitens der berühmten Sesselpfurzer ruhig ausnutzen und das Spiel bis zu einem Tor laufen lassen können. Die Teams waren bereit. Und Sie auf der Schwelle zur Berühmtheit…“
Übrigens ein weiteres kleines Randdetail, welches mir dieses Spiel als so besonders erinnernswert erscheinen ließ: Der Kommentator war ein gewisser Wolfgang Hempel, auf Eurosport. Falls man sich auch über diese Gedächtnisleistung wundern sollte: Das ahnungslose Standard- und Einheitsblabla deutscher Sprecher ohne jeglichen Spannungsaufbau würde mir keine einzige Reportage jemals erinnernswert machen. Wolfgang Hempel war anders.
Gleich am nächsten Morgen wollte ich Eurosport und spezielle Herrn Hempel ein Dankesschreiben schicken für die in Jahrzehnten einzige hörenswerte Fernsehübertragung mit deutschem Kommentar… Heute Wiederhole ich: „Danke auch Ihnen, Herr Hempel!“
- Deutschland – Südkorea
Deutschland hatte also den grandiosen Auftaktsieg gegen Bolivien auf dem Konto. Im folgenden Spiel mir geringem Erinnerungswert gegen Spanien gab es ein 1:1 – Niederlagen gibt es einfach nicht für Deutsche. Das letzte Spiel war gegen Südkorea.
Die erste Halbzeit machte die Mannschaft auch ein wirklich tolles Spiel mit ein paar herrlichen Toren. 3:0 zur Pause. Ich schaute das Spiel mit geringer Anteilnahme und Hoffnung. Ich hatte Südkorea gut eingeschätzt. Sie hatten mit dem Remis gegen Spanien ihr Soll für mein Portemonnais erfüllt. Jetzt konnten Sie nur noch das Wunder vollbringen. Die zweite Halbzeit brachte sie diesem Wunder erstaunlich nahe. Nicht nur, dass die beiden Tore wie selbstverständlich fielen, nein, im Anschluss spielten sie eine wohl wirklich bei den hohen Temperaturen zur Halbzeit bereits im sicheren Gefühl des Sieges nachlassende und der Erschöpfung nahe kommende Deutsche Mannschaft regelrecht an die Wand. So sehr es auch in diesem Spiel verdient gewesen wäre – und, nur ein Gedankenspiel – falls das 3:3 gefallen wäre, wäre ja noch nicht automatisch der Schlusspfiff ertönt, es hätte auch noch komplett gedreht… ? Na, Gedanken eines unverbesserlichen Träumers. Deutschland gewann 3:2. Und Effenberg, der sehr wohl auf dem Platz spürte was los war und dem die Ansprüche (wohl unbewusst) zu hoch waren, machte noch eine berühmt gewordene Geste Richtung typisch-deutsch-weise-pfeifendem Publikum…
- „Geheimtipp“ Kolumbien
Es gab eine Überraschung schon vor der WM: Ein Qualifikationsspiel Argentinien – Kolumbien endete 0:5. Carlos Valderrama war der Spielmacher, Adolfo Valencia der Torjäger. „El Tren“ spielte seit 1993 bei Bayern München. Und dann hat Pele noch vor der WM einen Satz gesagt: „Mein Geheimtipp für diese WM ist Kolumbien.“
Die Folgen für uns kann man sich in etwa ausmalen. Der „Geheimtipp“ war bereits kurz nach der Äußerung nicht mehr ganz so geheim. Eher im Gegenteil. Sämtliche Wetter, die etwas auf sich hielten, spielten Kolumbien. Die meisten spielten es dann aber kursunabhängig. Denn Pele hat gesprochen. Und das ist vergleichbar mit Winnetou.
Bei uns waren also haufenweise Wetten auf Kolumbien eingegangen. Kolumbien soll möglichst viele Punkte in der Vorrunde machen. Kolumbien als Gruppensieger. Aber auch ganz konkret im einzelnen Spiel wurden die Siege gewettet.
Kolumbien hatte schon gegen Rumänien verloren. Kleine kuriose Geschichte hier nebenbei: ich sollte bei der deutschen Meisterschaft im Subbuteo, einem wenig bekannten Tischfußballspiel, wo ich aber immerhin zwei Welt- und zwei Europameisterschaften mitspielen durfte, teilnehmen. Mein Vereinsvorsitzender, Marcus Tilgner, wollte mich unbedingt überreden. Aber es war Fußball WM. Ich willigte ein unter einer Bedingung: Er müsse seinen Videorekorder mitnehmen und die parallel stattfindenden Spiele aufzeichnen. Er versprach es. Und, ein Mann, ein Wort: Er tat es auch. So spielten wir zusammen die deutsche Mannschaftsmeisterschaft, kehrten spät nachts ins Hotel zurück, warteten noch den Abpfiff aller Spiele ab und schauten dann die aufgezeichneten Spiele die ganze verbleibende Nacht hindurch. Auf Schlaf wurde meinerseits gänzlich verzichtet. Aber es lohnte sich. Das beste aller Ergebnisse und Spiele Kolumbien – Rumänien, mit dem Endergebnis von 1:3. Ein phantastisches Spiel. Alle Rumänen trugen die Farbe ihres Trikots als Haarfarbe: Gelb.
Dann kam das Spiel: USA – Kolumbien. Dieses zweite Spiel war offensichtlich sehr wichtig für Kolumbien, Und für uns. Die Kolumbianer mussten es gewinnen. Sie mussten. Ich schaute das Spiel wie gewohnt alleine in der Wohnung von Freundin und Kind(ern) in Ruhleben. Das Glück war auf meiner Seite. Jedoch mit einer gewissen tragischen Konsequenz. Wer auch immer dafür verantwortlich war oder wie es zustande kam: Das Endergebnis lautete 2:1 für USA. Besiegelt wurde das Endergebnis durch ein Eigentor des Kolumbianers Pablo Escobar. Und ich zitiere hier wörtlich, was ich im Internet darüber soeben fand:
„ Beim Vorrundenspiel gegen die Mannschaft der USA am 22. Juni 1994 erzielte Escobar ein Eigentor; Kolumbien verlor 1:2 und schied aus dem Turnier aus. Wenige Tage später, am 2. Juli 1994, wurde Andrés Escobar vor einer Bar in Medellín mit 12 Schüssen getötet.
Der Täter Humberto Muñoz Castro handelte möglicherweise als enttäuschter, wütender Fan, oder aber als Auftragsmörder der kolumbianischen Wettspielmafia. Vermutet wird jedenfalls, dass der Grund für Escobars Ermordung jenes Eigentor war. Muñoz Castro wurde im Juni 1995 zunächst zu 43 Jahren Haft verurteilt, im Jahre 2005 aber wegen guter Führung entlassen.“
So tragisch dieses Tor auch für Kolumbien und noch mehr für diesen Mann war: Für uns bedeutete es in diesem Moment einen der höchsten Gewinne jemals von ca. 120.000 DM. Kolumbien war raus, Kolumbien hatte das Spiel verloren. Und von dem späteren Unglück wussten wir noch nichts.
Aber auch meine Vermutung war später ähnlich: Irgendjemand hatte wohl etwas zu viel verloren?!
- Die Italien Gruppe und ein unsäglicher Kommentar
Diese Gruppenkonstellation hat es verdient, einmal genauer beleuchtet zu werden. Noch immer waren die Regeln so, dass von 24 Mannschaften in sechs Gruppen die vier besten Drittplatzierten weiterkommen würden. Italien hatte im Auftaktspiel 0:1 gegen Irland verloren, Torschütze Ronny Whelan, wie mir nicht entfallen ist. Das bedeutete für die Rechenkünstler, dass das zweite Spiel gegen Norwegen gewonnen werden musste. Und dieses Spiel begann äußerst ungünstig mit einem berechtigten Platzverweis gegen den Torhüter der Italiener. Jedoch hatte er außerhalb des Strafraumes gefoult, so dass die Folge nur Platzverweis und nicht noch Gegentor war. Die Italiener bündelten dennoch ihre Kräfte und kamen zu einem 1:0 Sieg.
Im letzten Gruppenspiel ging es gegen Mexiko. Für uns war zwar wichtig, dass Italien das Spiel nicht gewinnt und nicht Gruppensieger wird, darüber hinaus hatten wir selber den Gruppensieg von Mexiko getippt. Aber für Italien war es besonders wichtig, das Spiel nicht zu verlieren. Das Parallelspiel war Irland – Norwegen. Und da Italien gegen Norwegen, aber ebenso Norwegen gegen Mexiko und Mexiko gegen Irland gewonnen hatten, waren alle Mannschaften vor den Spielen punktgleich. Das bedeutete aufgrund der Regeln, dass Mexiko und Italien beim tatsächlichen Spielstand zur 70. Minute von 1:1 und dem 0:0 im Parellelspiel praktisch sicher weiter waren. Mexko sowieso, da sie ihren Sieg mit einem 2:1 feiern durften, was ihnen in der Tabelle bei Punkt- und Tordifferenz Gleichheit die mehr erzielten Tore und damit das gesicherte Weiterkommen einbrachte. Durch den Zwischenstand von 1:1 aber hatte auch Italien ein Torverhältnis von 2:2, genau wie Irland, aber Norwegen nur eines von 1:1. Das bedeutete für Italien zwar „nur“ den dritten Platz, da der direkte Vergleich gegen Irland bei Punkt- und Torgleichheit dann gegen sie sprach, jedoch reichte dieser Platz aus, um im Vergleich der Gruppendritten gesichert weiter zu sein.
Die einzige Möglichkeit, die es für Italien zum Ausscheiden gab, bestand darin, dass bei dem Spiel Norwegen gegen Irland beide Mannschaften noch genau zwei Tore erzielten (gut, für spitzfindige Leser: auch drei oder vier oder mehr, Hauptsache gleich viele und mehr als eines hätten das gleiche Ergebnis gebracht). Schon ein 1:1 hätte aber nicht genügt, da zwar dann Norwegen und Italien punkt- und torgleich gewesen wären, aber im direkten Vergleich dann wieder Italien dank des 1:0 Sieges gegen Norwegen die Nase vorne gehabt hätte. Diese zwei oder mehr Tore für beide Seiten war ab der 80. Minute in etwa so wahrscheinlich wie das Einstürzen des Eiffelturmes.
Entsprechend der ererbten Fähigkeiten eines italienischen Fußballers hat Trainer Arrigo Sacchi seine Mannen nach hinten beordert, wie die laufenden und in alle Länder im übrigen gleichen Bilder auch illustrierten. Jedoch der Deutsche Kommentator, der es nicht einmal für nötig hielt, sich mit ein paar Eventualitäten zu beschäftigen und mit den möglichen Konstellationen in etwa so vertraut war, wie jede andere Hausfrau, wollte die Italiener mit seinen Kommentaren nach vorne schicken. „Die Italiener brauchen noch ein Tor.“ Wenn also die vorab Recherche ihn in keiner Weise veranlasst hat, sich mit der besonderen Konstellation dieser Gruppe zu beschäftigen – meine Interpretation dafür ist ganz einfach: Deutschland spielt nicht und demnach schaut oder hört sowieso keiner zu, abgesehen davon, dass in Deutschland prinzipiell keine Rolle spielt, welche anderen Mannschaften im Turnier verbleiben, wer unter welchen Umständen auf wen treffen würde, weil a) es eh keinen interessiert und b) Deutschland sowieso immer gewinnt –, so hätte doch spätestens diese eindeutige Geste des italienischen Trainers ihn davon unterreichten müssen, dass die Italiener offensichtlich mit dem Punkt zufrieden waren. Er hätte dann so viel Genialität aufbringen müssen, dass er für den Moment mal schweigt, dem dafür zuständigen Italiener das Rechnen überlässt und nach Beendigung des Spieles mit Erstaunen feststellt, dass Italien doch weiter gekommen ist. Aber so viel Genialität besitzt eben nicht jeder. Mein eigenes Erstaunen ging so weit, dass ich feststellte, dass in Deutschland nicht einmal eine derartige Inkompetenz so weit interessiert, dass es einen einzigen Kommentar dazu gab. Der Sprecher verrichtet gewohnt zuverlässig seinen Job. Das, was Herrn Mottram unverschuldet von offizieller Seite zum Verhängnis wurde, geht hier locker durch. Da kräht kein Hahn nach. Erzähle ruhig 90 Minuten lang Unsinn. Weiter so! Es hört eh (bald wirklich gar) keiner mehr zu.
Mich würde übrigens noch Eines interessieren: In wie vielen anderen Ländern war der Sprecher ähnlich naiv (der Betreffende mag sich angesprochen fühlen, aber ich könnte mich auch beim besten Willen seines Namens nicht entsinnen, und das aus gutem Grunde, aber ich nenne das Verhalten ruhig unverhohlen „dumm“, nein „dämlich“) und hat den Italienern bedingungslose Attacke verschrieben?
- Das Achtelfinale Deutschland – Belgien
Ich gehe in Gedanken mal wieder alle anderen Mannschaften des Achtelfinales durch, inklusive jener, die gar nicht erst dorthin gelangt waren oder die gar nicht erst zur WM durften. Darf ich an dieser Stelle mal erwähnen, dass Frankreich zum Beispiel auf unglaubliche Art und Weise gegen Bulgarien und meiner Erinnerung nach davor gegen Israel ausgeschieden war? Sie benötigten aus den letzten beiden Qualifikationsspielen noch einen Punkt, beide auf eigenem Platz, und verloren zunächst gegen Israel, waren dann gegen Bulgarien sogar 2:0 vorne (alles nur Erinnerung, ohne Recherche) und doch hat ihnen Kostadinov kurz vor Schluss das 3:2 zum Entsetzen des gesamten, längst in Jubellaune befindlichen Publikums, nein, einer ganzen Nation, eingehämmert. Warum passiert so etwas niemals Deutschland? Und auch England schaffte die Quali nicht. Ich weiß, die sind allesamt „zu blöd“…
Belgien war mal wieder das leichteste Los. Na gut, die Saudis, die gerade in jenem Jahr aber eine besonders starke Truppe hatten und auch Belgien besiegt, mögen ähnlich gewesen sein. Deutschland hatte mal wieder einen leichten Weg erwischt. Bolivien und Südkorea in der Vorrunde, mit dem beschriebenen Verlauf, und nun Belgien.
Die erste Halbzeit boten sie wieder wirklich guten Fußball, das gebe ich gerne zu. Die „Turniermannschaft“ kommt wohl wieder ins Rollen. Sie führten mit 3:1. Als Albert dann kurz vor Schluss das 2:3 erzielte, hatte ich noch einmal kurz Gelegenheit, den Sessel als Stehplatz zu verwenden. Denn jetzt war Belgien „dran“. Aber auch in diesem Spiel brachten die Deutschen das 3:2 über die Zeit. Ok, meine Hoffnung war auch gering. Nur: es hätte für uns auch mal wieder geheißen: „Mach mal das Fenster auf. Ein Geldregen.“ Deutschland musste raus. Meine Seele habe ich zwar eh längst verkauft. Das bringt das Geschäft mit sich. Aber um für den Misserfolg der Deutschen zu drücken hätte es auch längst keiner finanziellen Unterstützung mehr bedurft.
- Das Viertelfinale Deutschland – Bulgarien
Tja, auch hier waren meine Sympathien recht eindeutig verteilt. Und selbstverständlich ging es auch um jede Menge Kohle. Es kann doch nicht immer wieder das gleiche Glück geben, Fortuna dem gleichen zulächeln?
Das Spiel kann ich aber wirklich getrost als ein sehr gutes Spiel der Deutschen bezeichnen. Sicher, die Objektivität wird stets durch den Gewinn wesentlich leichter. So kenne ich haufenweise Schachspieler, die dem unterlegenen Spieler im Nachhinein „wirklich gut gespielt zu haben“ attestieren. Es war sogar im Nachbarland, der DDR, üblich, den Gegner stets über den grünen Klee zu loben. Ausgelegt wurde es den Kommentatoren und im Prinzip der ganzen Nation als „Schönfärberei“ und vor allem so, dass man einen möglichen Erfolg damit noch höher stellen wollte. Für mich persönlich bedeutete es, dass ich die Spiele, die im DDR Fernsehen übertragen wurden, wesentlich lieber geschaut habe, ab einem bestimmten Zeitpunkt. Und die Berichterstattung hatte definitiv wesentlich mehr Objektivität als die westdeutsche.
Deutschland spielte das Spiel sehr stark. ging auch mit 1:0 in Führung und war drückend überlegen. Eine Frage der Zeit, wenn man so will, bis das zweite Tor fiele. Und es fiel…
Und genau dieses Tor macht das Spiel für mich besonders und erinnernswert. Jedoch, wie man sicher von mir schon gewohnt ist, ist es eine (genauer: die) Darstellung der Szenenabfolge. Kurz gesagt: Böller von Möller, Pfosten, Nachschuss von Völler. Das 2:0 und das Halbfinale. Dachten alle. Gejubelt wurde nicht nur in der Sprecherkabine und wäre damals die Tradition der hochsommerlichen Sylvesterböller bereits geboren gewesen, so wären sicher reichlich gezündet worden. Nur Schieds- und Linienrichter hatten etwas dagegen. Man wunderte sich zunächst etwas, denn der Spielerjubel verebbte. Dann rieb man sich die Augen. Dann stellte man fest, dass der Linienrichter die Fahne gehoben hatte. Dann realisiert man, wie einst 1966, als der Linienrichter Bakhramov den Schiedsrichter von der Gültigkeit des Tores überzeugen musste, dass dieses Tor hier nicht zählte. Und ging zur Analyse über. Die Fernsehbilder belegten: Beim direkten Torschuss von Möller stand Rudi Völler tatsächlich der Torlinie näher als der letzte Verteidiger. Der Sprecher akzeptierte das Abseits meines Wissens auch nach einigem Nachdenken. Ganz Deutschland akzeptierte diese Entscheidung wohl. Die Welt sowieso. Denn es betraf ja die übermächtige und allseits gehasste Bestie, die, falls überhaupt, benachteiligt wurde.
Nur kommt hier meine unglaubliche Behauptung: Vor dem Tor gab es diese Form der Abseitsentscheidung noch gar nicht. Es wurde durch dieses (Nicht.-)Tor erst hoffähig. Früher hätte man, wie weiter oben erwähnt und für mich ohnehin absolut schlüssig, auf „direkten Torschuss“, bei welchem es anerkanntermaßen sowieso kein Abseits gab – auch das heutige „Sicht behindern“, welches angeblich im Weg stehende Spieler dem Torwart antun würden, gab es nicht in der Form; es war ja auch zu Zeiten, da man sich noch freute, wenn Tore fielen…; aber auch darüber an anderer Stelle mehr –, und im Anschluss an den Torschuss auf „neue Spielsituation“ plädiert. Ich finde, dass es keinen Anlass gab, an dieser Auffassung etwas zu ändern.
So wurde Deutschland noch spätes Opfer einer derartigen neuen Regelauffassung. Ich nehme die zu erwartende Prügel gerne auf mich. Nur sehe ich einer Einspielung der Szene recht gelassen entgegen. Demonstrationen von vorherigen derartigen, dieser gleich zu setzenden Entscheidungen, würde ich auch gerne anschauen und ..meine Aussage revidieren, meinetwegen.
Eines werde ich aber garantiert nicht tun: Auf meine persönlichen Helden Hristo Stoichkov und Yordan Letchkov jemals etwas kommen lassen, da sie das Spiel drehten zum 2:1. Und auch nicht … das wieder herausgeben, was der nach Öffnen des Fensters ausgelöste warme (Geld-)Regen hereinspülte. Muss ich doch auch nicht? Selbst wenn mit Glück gewonnen? Wie war das Gleichnis mit dem geschenkten Pferd oder so? Gings um dessen des-Reimes-Willen „Wert“? Ich hab auch oft genug leiden .. und zahlen müssen…
Hatte die (Schwarz-Rot-)Gold-Medaille etwa doch eine andere Seite, als nur (Bundes-)Adler oder (Deutschland-)Wappen?
Die Medienreaktion war die gleichermaßen gewohnt-unbefriedigende wie bei der 92er Finalniederlage gegen Dänemark. Es gibt in Deutschland für solche Fälle nur im günstigsten Falle „Fehleranalyse“, im Normalfall Schuldzuweisungen und Vorwürfe. Und es wurde der Begriff der „Katastrophen-WM“ geprägt, man hörte ein „ihr Pfeifen habt verloren und unsere Ehre verletzt“. Ihre heilige Pflicht des Siegens haben diese Kicker nicht erfüllt. Neuer Trainer, neue Spieler müssen her. Oder? Abgesehen davon: Es gibt in Deutschland nie mehr jemanden der trauert. Wie ist so etwas möglich? ´66 oder ´70, das waren die letzten Male.
Ich frage dennoch: Wie kann man einen Viertelfinaleinzug als „Katastrophe“ bezeichnen? Wenn man mal ehrlichen (und ungewohnt objektiven) Herzens die Nationen aufzählt, die einem spontan bei dem Begriff „Weltspitze“ einfallen – einfach mal in den Raum geworfen fielen mir ein Brasilien, Italien, England, Frankreich, Argentinien, Spanien, Holland, Portugal dann bin ich bereits bei 8. Und ein Vierteilfinale bedeutet immer noch, unter den besten acht der Welt zu sein. Und wer könnte denn ebenso ehrlichen Herzens behaupten, dass die deutsche Mannschaft besser ist als die aufgezählten ist? Objektiv betrachtet könnte eine genaue Untersuchung des Spielermaterials ein „gleichgut“ ergeben. Aber wirklich nur im besten.. Das Prädikat „Turniermannschaft“ bekommt man automatisch durch Erfolge. Das ist also Unsinn. Das dementsprechend das eigene Selbstvertrauen gestärkt und das der anderen in gehörigen Respekt umschlägt, mag zu einem ganz kleinen Teil zu den Dauererfolgen beigetragen haben. Ansonsten war es Glück. Und man sollte diesen Begriff doch bitte wieder in den (Fußball-)Sprachgebrauch aufnehmen. Dankbarkeit, Freude und Trauer könnten dann auch parallel wieder Aufnahme finden und unsere ganze (Fußball-)Welt wieder etwas schöner machen.
Vor allem, da es die Wahrheit ist… Und was spricht selbst für einen Deutschen dagegen, diese ab und zu mal auszusprechen?