Die Europameisterschaften erfuhren nach und nach eine Aufwertung, oder, wenn man es gehässig ausdrücken möchte, die Kommerzialisierung stand immer mehr im Vordergrund und die zahlenden Zuschauer waren noch längst nicht an die Grenzen ihrer finanziellen Belastbarkeit gelockt worden. Es wurden Endturniere ausgerichtet, mit 8 Teilnehmern, zwei Gruppen á vier Mannschaften, also 6 Spiele pro Gruppe, anschließend über Kreuz die Halbfinals, gefolgt von einem Finale. Die Teilnehmer an dem Endturnier wurden über eine Qualifikationsrunde ermittelt, wo nach und nach alle europäischen Staaten teilnahmen und welche dann über die zwei Jahre zwischen WM und EM ausgespielt wurde. Die acht glücklichen Teilnehmer hatten alle damit mindestens drei Spiele garantiert, wie bei den Weltmeisterschaften, und die Stadien bekam man spielend voll, auch die Fernseheinnahmen waren gesichert durch Übertragungen in praktisch alle (europäischen) Länder. Für mich bedeutete das, dass die Vorfreude auf ein solches Turnier immer größer wurde.
Privat hatte ich die Beziehung mit Ilona kurz vor der EM beendet, insbesondere aus der sich später als richtig herausstellenden Erkenntnis heraus, dass ich sie eher behindern als ihr helfen würde bei Aufrechterhaltung. Sie hatte bald danach einen neuen Freund und nicht viel später zwei Kinder mit ihm. Unser Kontakt blieb freundschaftlich und ihr zu Ehren habe ich meiner ersten Tochter den gleichen Namen gegeben wie sie ihrer: Chiara. Meine Umschulungsmaßnahme hatte ich im Herbst 1987 beendet und sofort eine Festanstellung bei der Standard Elektrik Lorenz, kurz SEL und später Alcatel, in der Softwareentwicklung bekommen. Die Urlaube wurden sorgfältig eingeteilt, um auch ja bei allen großen Backgammonturnieren teilnehmen zu können. Das gewinnen können war doch ein viel angenehmeres Gefühl als das gewinnen müssen.
So spielte ich im Frühjahr bis Sommer eine Kette großer Turniere, und allesamt ziemlich erfolgreich – das entsprechende biographische Kapitel nennt sich anmaßend „Jackpot-Pauli“ –, so auch während der EM das Turnier in Hamburg. Den Zusammenhang zwischen den plötzlich so hoch aufgerufenen Hotelpreisen und dem Halbfinalspiel zwischen Holland und Deutschland verstanden wir nur schwerfällig…
Jedenfalls hatte ich vor dem Turnier das erste Mal einen Wettzettel in die Hand genommen. Ich verstand mich sehr wohl als Fußball-Experten und auch mathematisch fühlte ich mich einigen Aufgaben gewachsen. Dennoch machten wir – Partner Micha und ich – unsere ersten Wetten nur intuitiv. Wir beschlossen, 2000 DM auf ein Wettkonto bei „SSP overseas betting“ in England einzuzahlen und diese, in damals üblicher Zocker Ausdrucksweise „platt zu machen“.
Für das Eröffnungsspiel Deutschland – Italien hatten wir auch gleich ein paar gute Ideen, aus unserer Sicht ein paar „sichere Wetten“ ausgemacht. Ein Eröffnungsspiel zwischen solch großen Nationen auch noch musste doch einfach 0:0 ausgehen. Der fürstliche Lohn, den man erhalten sollte, spiegelte sich in der Quote von 6.50 mehr als ausreichend wieder, wie wir befanden. Dazu noch gab es auf das ebenso sichere Ereignis Halbzeit Unentschieden und Endstand ebenfalls Unentschieden – die zwangsläufige Konsequenz eines 0:0 Spieles — auch noch eine Quote von 4.0. Und, für den Fall, dass alle Stricke reißen sollten – die Mannschaften also Tore erzielen sollten, auf die Halbzeiten ungleich verteilt, aber dennoch insgesamt gleich viele –, haben wir auch noch die restlichen 600 DM auf das mit 3.20 nach unserer Einschätzung ebenfalls zu hoch bezahlte Unentschieden „abgesichert“. An Verlust war nicht zu denken…
Das Spiel begann also und wir waren widersinnigerweise ob des gesicherten Unentschiedens siegesgewiss. Die Mannschaften gingen auch brav mit 0:0 in die Kabine. Das konnte doch gar nicht anders, oder? Die erste Hälfte unseres Jackpots war drin. Mancini brachte dann die Italiener mit 1:0 in Führung und selbst wenn mich ein solches Ereignis normalerweise zu verhaltenem inneren Jubel (in einem späteren Kapitel über die WM 2006 wird die Rede davon sein, wie es bei jedem Deutschen Tor in meiner Umgebung – wohl auch in Ihrer – Mengen von Böllerschüssen zu vernehmen gab, aber bei dem 1:0 im Halbfinale für Italien gegen Deutschland kurz vor Ende der Verlängerung weit und breit nur lähmendes Entsetzen vorherrschte, welches von dem einen einzigen, von mir sorgfältig von Sylvester aufbewahrten Italien-anstatt-China-Kracher, wortwörtlich „gesprengt“ wurde; das musste ich hier einfach mal loswerden; man beachte aber auch gerade in diesem Zusammenhang meine leicht italophilen Neigungen mit den Kindernamen „Chiara“, „Giulia“ und selbst der große Junge mit trägt mit dem Ben-„Luca“ noch einen Teil Italien mit sich) hingerissen hätte, so ließ es in diesem Falle aber nur meine und Partners Kinnlade runterklappen– das konnte doch gar nicht wahr sein??? Dieses eine Mal waren wir höchstselbst für eine gute halbe Stunde echte Deutsche und stützten uns sogar auf eine der unserem Volk so gerne angedichteten Tugenden. Und diese eine ganz spezielle„Tugend“ wird ihnen nur von meiner Seite attestiert – höchstens noch im Ausland aber dort nur hinter vorgehaltener Hand, die Angst vor der Bestie ist zu groß –, dafür aber laut und überall hin vernehmlich. Diese Tugend heißt GLÜCK.
In dem Spiel bestand es darin, dass Deutschland als Ausrichter, wie gewöhnlich, nicht ausscheiden durfte. Vor dem Turnier wurde eine neue Regel für die Torhüter in Kraft gesetzt. Sie sollten den Ball nur noch drei Sekunden in der Hand halten dürfen und dann abschlagen. Als der Italienische Torwart dann nach erst 3.1 Sekunden den Ball aus der Hand gab, erkannte der Schiri auf „Zeitüberschreitung“ und sprach den Deutschen zur Verblüffung der Italiener sowie auch der Zuschauer einen indirekten Freistoß im Strafraum zu. Dieser wurde zum 1:1 verwertet. Dabei blieb es, beide begnügten sich mit dem Remis, was ja Teil unserer Vorab-Einschätzung war.
Die Wette auf das 0:0 war zwar verloren, aber sowohl die Halbzeit-Endstand als auch die Unentschieden Wette waren drin, gewonnen. Unterm Strich 2000 DM, wenn ich mich recht entsinne.
Bei Micha überwog die Vernunft. Obwohl er die Wetten mit Bedacht gemacht hatte, und im Prinzip von einem Vorteil überzeugt war, so wusste er doch, dass man für den weiteren Turnierverlauf ohne eine vernünftige Basis eher Glück brauchte, um noch mehr zu gewinnen. Bei mir hingegen hielten sich Spielfreude und Einbildung — diese auf überragende individuelle Einschätzungen bezogen — in etwa die Waage und ich beschloss, weiter zu machen. Ich zahlte Micha in bar aus und hatte fortan das Konto alleine.
Meine eigens im Kopf angefertigten Recherchen ergeben soeben, dass das Backgammon Turnier in Hamburg am Wochenende vor dem Halbfinale war. Erinnern kann ich mich insofern, als ich das letzte Gruppenspiel der Holländer gegen Irland mit dem glücklichen, kurz vor Schluss erzielten Siegtreffer durch Wim Kieft, in der Spielbank von Hamburg an der Kleinen Fontaney im Interconti auf Großbildleinwand geschaut habe. Durch diesen glücklichen Umstand sind nämlich die Holländer überhaupt in dieses Halbfinale gelangt.
Wir beschlossen, noch ein paar Tage in Hamburg zu bleiben, da man dort unter besonders günstigen Bedingungen Black Jack spielen konnte. Meine Taschen hatten sich dankenswerterweise auch mit dem Jackpot Gewinn weiter gefüllt, so dass das Lebensgefühl einfach nur dem der Stadt Hamburg von„großer weiter Welt“ , gleichkam.
Die Kapitel-eingangs erwähnte Verblüffung kam dann vor der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, als unser unbefristet gehaltener Hotelzimmervertrag am Morgen kurzerhand seitens der Rezeption aufgekündigt wurde. „Es tut uns leid, Sie müssen die Zimmer räumen, wir sind ausgebucht.“ Wir waren sowohl zahlungskräftig als auch –willig und hielten das zunächst für einen schlechten Scherz. Jedoch wurde das auf Nachfrage bestätigt, während uns ganz allmählich der Zusammenhang zwischen dem Halbfinalspiel und der Ausbuchung auffiel. So fuhren wir einfach zurück nach Berlin und schauten das Spiel dort.
Ich persönlich hatte meine Form der Vorkehrungen für das Spiel getroffen. Der Videorekorder war eh schon programmiert — ein solches Großereignis wollte ich mir später genussvoll anschauen können – aber auch die Wetten waren platziert. Und meine Vaterlands- und Glücksverachtung konnte ich in diesem Spiel das erste Mal auch monetär untermauern. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass die Holländer die bessere Mannschaft hatten. Aber ich wettete nicht einfach nur auf Sieg oder Weiterkommen Holland. Mein Fußballverstand riet mir intuitiv dazu, eine Halbzeit- Endstand Wette abzugeben. Denn, so war ich überzeugt, die Mannschaften würden sich in einer sicher beiderseits vorsichtig geführten ersten Halbzeit erstmal „abtasten“ und nicht zu viele Risiken eingehen. Demnach war mein Tipp: Halbzeit X, und am Ende gewinnt Holland. Kurz gesagt: X-2. Die Quote war eine 6.50, welche unter den Umständen, dass Deutschland tatsächlich Favorit gewesen wäre auch gerechtfertigt gewesen wäre (wie mir viel später meine Datenbank verriet). Jedoch hatte ich meine eigene Meinung… Oder war das nur Missgunst?
Verliebt hatte ich mich auch gerade in Andrea – auch die Details darüber in dem dafür zuständigen Kapitel nachzulesen – und ich sprach noch vorher mit ihr, um ihr von meinen Wetten zu erzählen. 300 DM auf so ein Ereignis nehmen sich vielleicht eher bescheiden aus gegenüber den Tausenden, die regelmäßig bei meinen Backgammon Matches „at stake“ waren, aber ich wusste sehr wohl, dass man nicht einfach so Vorteile aus dem Hut zaubern konnte und ich wohl eher nur eine kräftige Portion Anfängerglück abbekam.
Das Spiel begann und ich gestehe, eine gewisse Vorfreude und Aufregung verspürt zu haben. Es war für mein Empfinden die Einleitung einer neuen Karriere. Ich wusste zwar, dass eine Menge Arbeit vonnöten war, in meinem Kopf kristallisierte sich das richtige Vorgehen aber allmählich heraus. Und am Wettmarkt waren täglich Umsätze, vielleicht auch hohe bis sehr hohe möglich. Und bei der Menge von Wettangeboten mussten einfach irgendwo Fehler versteckt sein. Das Hochgefühl im Lauf, wenn man einfach so gewinnt, ist schwerlich zu beschreiben. Im Prinzip rechnet man sich jeden Gewinn irgendwie als verdient an. Man schreibt ihn einer überlegenen Spielführung im Backgammon, einer besseren Einschätzung im Fußball, dem höheren Spielverständnis in der Schachpartie zu, die kleinen erforderlichen Zufälligkeiten ignorierend. Den Gedanken an „Glück“ verdrängt man sehr gerne. Wohingegen man aber bei einer Serie von fünf verlorenen Spielen, Matches oder Wetten sehr schnell das Wörtchen „Pech“ herbeizitiert.
Die erste Halbzeit ergab das erwartete vorsichtige Abtasten und ich hatte selten das Gefühl, dass meine Einschätzung und Wette – auf das Halbzeit-Remis — in Gefahr geriet. Keine echten Torchancen. Die Halbzeit war rum und der erste Teil der Wette erfüllt. Jetzt musste nur noch Holland aufdrehen und das Ding gewinnen!
Die zweite Halbzeit begann mit einem Paukenschlag. Die Deutschen bekamen einen Elfmeter zugesprochen, über dessen Berechtigung ich hier keinerlei Abwägungen anstellen möchte. Es war typisch, so dachte ich. Selbst wenn man das Spiel mit viel Wohlwollen aus deutscher Sicht als „gerade noch ausgeglichen“ bezeichnen konnte bis zu diesem Zeitpunkt, so war die Berechtigung der Führung auf keinen Fall gegeben. Mal wieder das Glück, dieses unverschämte? Ich sank erstmal in meinem Sessel zusammen und begann, wie üblich unter solchen Umständen, mit dem Philosophieren.
Noch bevor ich rechte Ergebnisse dieser Überlegungen ausformulieren konnte, hatte der Schiedsrichter ein Einsehen mit mir und den allmählich immer besser werdenden Holländern. Er gab auch drüben einen Elfmeter, der die gleiche Größe an Berechtigung hatte wie der hüben. Ich richtete mich wieder auf und drückte den Ball mit über die Linie – obwohl mich das DSF noch nicht auf den geistreichen Gedanken gebracht hatte, zu diesem Behufe einfach den Fernseher zu kippen, zwecks Ballbeschleunigung. Das 1:1! Nach und nach saß ich nicht nur aufrecht im Sessel im fieberhaften Kampf für Gerechtigkeit (nebenbei: ich überlegte genau an dieser Stelle, für wie viel DM ich meine Seele verkaufen und jetzt für Deutschland sein würde), denn die Holländer spielten die Deutschen jetzt wirklich an die Wand. Jeder Spielzug wirkte so durchdacht, die Deutschen waren in jedem Zweikampf einen Schritt zu spät und hatten außer Kampfgeist nichts mehr entgegenzusetzen. Ab der 80. Minute stand ich im Sessel und wechselte abrupt den Standort Richtung Tisch, als van Basten den langen Ball vor Kohler erreichte und — ich sehe auch die Lücke, links vorbei am Keeper, mit dem langen Bein, ja, der trudelt über die Linie, er schafft es, der passt! Das 2:1! Mein Untergrund verwandelte sich umgehend in eine Tanzfläche. Ich hatte das Telefon auch schon zur Hand, um die Verehrte von dem glücklichen da späten, aber natürlich völlig verdienten, Ausgang mit dem Schlusspfiff zu informieren. Sie bezeichnete mich als „Zocker“, aber lächelnd, was ich mir für den Moment gerne gefallen ließ…
Im anderen Halbfinalspiel hatte ich auch noch auf die gleiche Art den Außenseitererfolg der Russen gegen die Italiener „erraten“, diesen aber nur mit 100 DM zur gleichen Quote, hatte dazu noch vor dem Halbfinale die Russen auf Turniersieg für Quote 8.0 gewettet, so dass ich auch dem Finale relativ gelassen entgegensehen konnte. Ich hatte noch eine gute Wette am Laufen und hatte bereits gesichert über 2500 DM Gesamtgewinn.
Ich gönnte den Holländern aber durchaus den Sieg, Sie waren einfach die Besten. Und van Bastens Traumtor kann einen einfach nur mit der Zunge schnalzen lassen, selbst wenn es in dem Moment Geld kostet. Ich war ausgesprochen versöhnlich mit ihm…