Gerade diese Weltmeisterschaft hat sich mir besonders tief in die Erinnerung eingeprägt. Der Hauptgrund der, dass ich das erste Mal, wenn man so möchte, mit einer Art „professionellen Ansatz“ herangegangen bin. Im Nachhinein würde ich den zwar als ausgesprochen amateurhaft bezeichnen, aber die Basis war geschaffen. Und zwar in dem Falle eine Zahlenbasis. Aber auch hier der Reihe nach:
Privat war ich unter äußerst kuriosen Umständen in den Hafen der Ehe eingelaufen – wie gewohnt nachlesbar im entsprechenden Frauenkapitel, dieses mit dem Titel „Yüksel“, obwohl meine Frau noch nicht einmal wirklich so hieß, als ich sie kurz vor meinem 30. Geburtstag kennen lernte und dann dachte, mit 30 wäre der richtige Zeitpunkt – und war weiterhin bei der SEL als Softwareentwickler tätig. Eine dritte Version meines Fußballprogrammes hatte ich während der Arbeitszeit angefertigt und diese Tätigkeit mir selber großzügig als „Lehrprogramm“ ausgelegt. Als meine Einbindung in die Wirtschafts- und Geschäftswelt aber größer wurde, habe ich mir privat einen PC zugelegt und auf diesem dann die vierte Ausgabe erstellt.
Die Parameter und deren Verrechnung untereinander hatten sich für mich ausgesprochen logisch ergeben (Kapitel „Mein Fußballprogramm“). Erforderlich war im Wesentlichen eine Funktion, die aus diesen Parametern die Torerwartungen für die beiden Mannschaften errechnen sollte. Aus diesen Torerwartungen konnte per Simulation die Wahrscheinlichkeit für jedes einzelne Ergebnis berechnet werden und dadurch in der Summe auch die Chance für Sieg/Unentschieden/Niederlage. Als ich meinem Computer dann auch noch die Turnierregeln erklärte, konnte er bei fortgesetzter Simulation sogar die Chancen für alle möglichen Langzeitwetten – als da wären, wer wie oft ins Achtelfinale/Viertelfinale/Halbfinale/Finale gelangt, wer mit welcher Wahrscheinlichkeit den Titel gewinnt, sogar Überkreuzvergleiche mit der Fragestellung „wer kommt weiter im Turnier“ – ermitteln. Kurzum alles, was es an gängigen Wettangeboten gab, konnte mein Computer in seiner Eintrittswahrscheinlichkeit ermitteln.
Warum nun nenne ich das Vorgehen „amateurhaft“? Die Begründung ist sehr einfach: Zunächst mal hatte ich zwar alle möglichen Algorithmen entwickelt, wie man die Chancen berechnet. Jedoch gab es auch dafür eine Basis. Die Basis lautete: Spielstärkeeinschätzungen der teilnehmenden Mannschaften. Dafür hatte ich gerade mal meine Intuition und ein paar Qualifikationsergebnisse, die aber in den Fällen für die Exoten keine vernünftigen Vergleichswerte hergaben. Auch die Pflege der Spielstärken – sprich das „Update“ nachdem irgendwelche neuen Ergebnisse reinkommen, was ich bis heute als einen der wichtigsten Parameter ansehe – war noch nicht gewährleistet, wie ich gleich nach dem Erfassen des Eröffnungsspiels (mit frustrierendem Ausgang) feststellen musste und ziemlich hilflos, wie ich mich gut entsinne, vor meinem Computer saß.
Jedoch hatten die Ergebnisse von der EM1988 mich bestärkt in der Ansicht, dass es gut möglich sein müsste, mit einer vernünftigen Zahlenbasis den damals noch recht schlichten Wettmarkt zu „attackieren“. Und so war zumindest der Aufwand, den ich betrieb, ein ziemlich selbstloser und nach meiner Einschätzung bis heute gerechtfertigter. Ich hatte meinen Job nach wie vor, ging auch tagtäglich dieser Arbeit nach, um dann im Anschluss die Nacht vor meinem Heimcomputer zu verbringen. Nicht etwa, dass meine Frau mir diese spezielle Form des Freizeitvergnügens missgönnte. Aber sie war doch etwas befremdet. Zumal der Computer nur einen zugeteilten Standplatz hatte: das Schlafzimmer. Und ich kann mich wirklich gut entsinnen, wie die spärlichen Stunden Schlaf, regelmäßig bei einem neuerlichen Simulationslauf, der mir bei damaligen Stand der Hardwaretechnik für 1000 Durchläufe immerhin großzügige drei Stunden gewährte, die erforderlich Belüftung der CPU meine Ruhestunden, diese wegen Erschöpfung und Euphorie nur irrelevant, aber jene meiner Frau doch empfindlich beeinträchtigte. Sie hatte vielleicht doch etwas zu spät erkannt, mit was für einem Irren sie zu tun hatte?
Die Erinnerungen sowohl an die Vor-WM-Zeit als auch an das Turnier sind ausgesprochen vielfältig, so dass ich hier nur ein paar ganz besondere herauspicken möchte. Ich hatte also für alle Ereignisse, worauf es Wettangebote gab, auch Zahlen, die mein Computer mir ausspuckte. Die „Zahlen“ sind speziell Wahrscheinlichkeiten, die allesamt aus einer Vielzahl von Simulationen per relativen Häufigkeiten ermittelt wurden und in deren Kehrwert die von mir so getauften „Fairen Quoten“ ergaben. Allerdings rätsle ich bis heute, wie ich damit überhaupt konkurrenzfähig sein konnte. Denn, wie erwähnt, hatte mein Programm zwar seinen Job so weit zuverlässig erledigt, jedoch waren die Spielstärkeeinschätzungen, die zwingend Basis sein müssen, alles andere als verlässlich.
So hielt ich wieder den Wettzettel von SSP in den Händen. Ich hatte im Jahr zuvor mit dem noch bei SSP auf dem Konto verbliebenen Geld (auch ich hatte die meisten Gewinne abgerufen) bereits eine Langzeitwette auf Argentinien als Weltmeister platziert, 100 DM zur Quote 13.0. Ansonsten hatte ich nun die Gelegenheit, einen Abgleich mit meinen Zahlen vorzunehmen. So fand ich zum Beispiel auf die Gruppenspiele acht Begegnungen heraus, die mir mein Computer sozusagen zu wetten „empfahl“. Das bedeutete – nachzulesen in den Kapiteln „Mein Fußballprogramm“ und „Mein System“ –, dass die bezahlten Quoten höher waren als meine fairen Quoten. Und ich wettete diese acht Spiele als Systemwette 4 aus 8. Das waren 70 Reihen, jede á eine DM, gesamt 70 DM Einsatz. Natürlich lächerlich, verglichen mit anderen Beträgen, die sonst im Umlauf waren. Es ist nur eine Erinnerung.
Ich war ziemlich ausgelastet mit der Programmweiterentwicklung, nahm mir aber dann zum Mai hin meine drei Wochen Resturlaub, um mich voll und ganz dieser Aufgabe widmen zu können. Und in der Vorbereitung sammelte ich nicht nur wie gewohnt die Fußballbilder – zwecks Kaderkenntnisauffrischung –. pickte mir auch meine Idole heraus, und diese waren nicht, wie man sich denken kann, jene, die mir von Hanuta aufgezwungen werden sollten, sondern vielmehr solche Spieler wie Emilio Butrageno, Spanier, kurz „El buitre“, der Geier, genannt, der mir imponierte, aber auch Michael Laudrup, Dänemark,, der ganz junge Paolo Maldini, Italien, oder Enzo Francescoli von Uruguay.
Aus anderen Zeitschriften, die Vorberichte hergaben, stieß ich plötzlich gerade in diesem Jahr vermehrt auf andere, österreichische Wettanbieter. Partner Micha war flugs reaktiviert und recht bald von der Qualität meines Programmes überzeugt. So zahlten wir bei einigen Anbietern wieder höhere Beträge ein, denn diesmal hatten wir nicht den einen einzigen heißen Tipp, sondern die erforderlich Zahlenbasis, trotz ihrer erheblichen Qualitätsmängel. Andererseits halte ich mir zugute, dass der Wettmarkt längst noch nicht so durchforstet war und die Anbieter teilweise ohne jegliche Absprache untereinander höchst widersprüchliche Quoten veröffentlichten – und auf Nachfrage auch „hielten“, also Geld darauf annahmen, so dass ich von Gewinnvorteilen ausgehen konnte.
Zum Beispiel konnten wir bei einem Anbieter wetten, dass Österreich nicht ins Viertelfinale kommt und beim anderen, dass sie mindestens das Achtelfinale erreichen. Und wir hatten bei entsprechender Wetthöhe bereits gesicherten Gewinn, egal, wie es ausging, aber zusätzlich die Chance, dass Österreich genau im Achtelfinale ausschied. In dem Falle hätten wir sogar beide Seiten gewonnen. Auf meine Nachfrage bei Micha, was er glaubte, wer dort den Fehler machen würde, gab er die absolut korrekte Antwort: „Beide machen einen Fehler.“
Wir hatten also alle Hände voll zu tun, unser Geld unterzubringen und bei all den Anbietern die widersprüchlichen und viel versprechenden Quotenangebote herauszufinden. Ich war sowieso durchgehend ausgelastet, war aber von der dauerhaften Adrenalinproduktion dermaßen aufgedreht, dass sich der Schlafmangel einfach nicht bemerkbar machen wollte. Ich hatte meine Mission, ich hatte meinen neuen Traumberuf entdeckt, und dafür ist die Formulierung „ein paar Opfer bringen“ nicht mal passend; ich war nicht zu bremsen im für Programmierfreaks so typischen Entwicklungswahn. Es gab keine bessere Zukunftsperspektive, als meine (selbstverständlich ausnehmend bescheidenen) Fähigkeiten in dieser Form ideal zu kombinieren: Mathematik, Fußball und Programmieren.
Ich sehe ein, aus Lesersicht, dass es jetzt irgendwann mal losgehen muss. Und so war es auch. Wie ich dazu kam, die Kameruner so weit hinten in der Rangliste einzustufen, ist mir bis heute ein Rätsel. Denn ich als Dauer-WM-Gucker hatte doch bereits 1982 alle Partien von den Löwen gesehen und mich von deren hoher Qualität überzeugen können, als sie mit drei achtbaren Unentschieden nur deshalb ausschieden, weil meine Freunde, die Rechenkünstler aus Italien, mit ebenfalls drei Unentschieden aber einem mehr erzielten Tor weiter kamen.
Mein Computer hatte mir geraten, im Eröffnungsspiel die Argentinier auf Sieg gegen Kamerun zu wetten. Die lächerliche Quote, die man erzielen konnte war nur eine 1.40. Meine Siegwette bereits Folge der „Fehleinschätzung“ von Kamerun. Ich schaute in diesem Jahr mit einer ganz anderen Anspannung dieses Eröffnungsspiel und kann mich auch gut an den tiefen Frust, den das 0:1 im Endergebnis auslöste, erinnern.
Dabei war der weniger relevante Aspekt das verlorene Geld, denn der Betrag war eher bescheiden. Ich saß im Anschluss vor meinem Computer und sinnierte, was dieses Ergebnis für eine Bedeutung hätte. Zumal der Eindruck, dass er nicht einmal unverdient zustande gekommen wäre, tiefe Zweifel an meiner Grundeinschätzung hinterließ. Ich wollte spontan Kamerun in der Spielstärke hochsetzen, fragte mich aber, auf welchen Wert? Sind sie jetzt besser als Argentinien? In der ganzen Entwicklungszeit hatte ich mich mit zahlreichen Problemen befasst, aber diesen einfachen Fall nicht vorhergesehen: Wie reagiert man auf die Ergebnisse? Ich beschloss, eine Nacht darüber zu schlafen und veränderte, auch am nächsten Tag — nichts.
Die neu veranlassten Simulationen ergaben aufgrund dieses Ergebnisses natürlich Verschiebungen in allen Chancen, vor allem der betreffenden Mannschaften. Das war für mich alles Neuland, vor allem die Fragestellungen, was man jetzt, nach dieser Niederlage auf das Ereignis „Argentinien wird Weltmeister“ oder „Argentinien erreicht das Achtelfinale“ beziehungsweise die gleichen Ereignisse mit Kamerun erhielte oder selber zahlen müsste. Mein Computer gab auf sein Art Auskunft. Erfreulicher Nebeneffekt: Überall Chancen und Wahrscheinlichkeiten und überall Quoten, die angeboten werden und auf die man wetten konnte. Wieso sollten die alle stimmen? Die Zustände waren einfach so: Paradiesisch!
So verfolgte ich die nächsten Spiele mit der bemühten Aufmerksamkeit, wo ich Fehler in der Ursprungseinschätzung finden konnte. Wir hatten auch noch lange vor Turnierbeginn zahlreiche Wetten auf „Wer wird Weltmeister“ oder „wer wird Gruppensieger“ abgegeben, diese in der Mehrzahl auf Außenseiterereignisse. Es gab nur eine Mannschaft, deren Wertigkeit offensichtlich von der Welt erkannt und von dem von mir höchstpersönlich gefütterten Computer verkannt wurde: Wie üblich die Deutsche Mannschaft. Schon bei ihrem ersten Auftritt war zu erkennen, dass sie sich in Galaform befanden. Das 4:1 mit den zwei Toren, die durch den unwiderstehlichen Lothar Matthäus erzielt wurden und die ihn so ganz allmählich in den Legendenstatus versetzten hätten mir vielleicht doch etwas mehr als das übliche mit Achselzucken quittierte „ja, typisch Deutsch, die gewinnen eben immer, egal, wie gut sie spielen“ entlocken sollen. Im Nachhinein hätte man für dieses eine Turnier die Bedenken an der Qualifikation dieser Mannschaft von „reiner Glücksspieltruppe“ auf „veritabler Titelkandidat“ modifizieren sollen. Ich bildete mir ein, mit den Italienern, als Ausrichter ohnehin in einer besonderen Favoritenstellung, den Brasilianern oder auch den Argentiniern, trotz des enttäuschenden Auftaktspieles, noch Stolpersteine in Form von dicken Brocken in den Weg wälzen zu können.
Das zweite Spiel der deutschen manifestierte im Prinzip die Weltmeinung, dass bisher nur eine Mannschaft, die typischste aller Turniermannschaften, wirklich in Form geraten war. Das 5:1 gegen die Vereinigten Arabischen Emirate war aber für mich nur insofern bemerkenswert, als dass der glückliche Torschütze mit einer Luxuslimousine belohnt wurde, was insbesondere den weltweiten Respekt vor der Deutschen Mannschaft eindrucksvoll illustrierte. „Wir wollen doch nicht gewinnen und träumen nicht einmal davon. Wir verlieren brav und artig, aber, so Gott (oder in dem Falle Allah) will, können wir noch unseren Enkelkindern erzählen, dass wir gegen sie ein Tor erzielt haben.“
Die Deutschen waren durch und wer das 1:1 gegen Kolumbien als „Rückschlag“ – so wie der Naivling, der kleine Träumer, der Vaterlandsverächter, Paulilein – deuten wollte, hätte wohl eher eine kleine Gehirnwäsche verdient. Der Gruppensieg war den Deutschen dadurch nicht zu nehmen. Und das berühmte „Zielen“ oder das permanente Losglück bescherte den Deutschen ein wahrhaftes, aber zu dem Zeitpunkt noch nicht abzusehendes, scheinbares „Hammerlos“. Die Oranjes, der Dauerfeind, der Nachbar im Westen, die Niederlande hatten über alle Jahre immer eine schlagkräftige Truppe. Und wie kam es nun zu der Paarung und warum hat sie Deutschland nicht einfach durch eine Niederlage vermeiden können und was waren die besonderen Begleiterscheinungen dieses Aufeinandertreffens?
Eins nach dem anderen: Deutschland bekam absehbar durch den Gruppensieg einen Drittplatzierten zugeordnet, was zu dieser Zeit schon die Bedeutung haben konnte, dass man ein leichteres Los „zieht“. Die Holländer waren ein möglicher Gegner, aber eben nur möglich (ich erinnere mich noch gut daran, welche Mühe ich hatte, meinem Computer das komplexe Paarungsverfahren beizubiegen; es stand ja nicht einmal fest, aus welchen Gruppen die Drittplatzierten weiter kommen würden). Die Holländer hatten noch das Schlussspiel gegen Irland offen – gerade jene Iren, die ihnen beinahe schon 1988 den Weg ins Halbfinale verbaut hätten und die sicher ein paar Beschwerden beim Gerechtigkeitsverantwortlichen eingereicht hatten –, was sie unter keinen Umständen verlieren durften. Und sicher traute ihnen die gesamte Fachwelt es zu, zumindest ein Unentschieden zu erzielen. Die Holländer drehten auch für das eine Spiel wirklich auf und waren klar auf Siegkurs, als die Iren doch zu dem in diesem Fall glücklichen Ausgleich kamen. Die Konsequenz war, so auch in meiner Erinnerung wegen der Folgen für mein Computerprogramm, dass die beiden Mannschaften punkt- und torgleich waren. Es musste das eine einzige Mal in der Historie der Weltmeisterschaften das Losverfahren eingesetzt werden. Dieses hatte nur insofern eine gewisse sportliche Bedeutung, als sie über Platz zwei und drei entschied und auf diese Art die Holländer auf Platz 3 verwies, mit der weiteren Folge, dass die Deutschen ihr Gegner wurden.
Die Folgen für mein Computerprogramm waren ebenso bemerkenswert. Ich hatte meinem Computer alles beigebracht. Sogar das für mich verwunderliche Losverfahren, welches selbstverständlich bei den tausendfachen Simulationen beständig zur Anwendung kam. Jedoch loste er so immer wieder neu aus, ob Holland oder Irland auf Platz 3 gelangte. Als mir dieses kleine Problem auffiel, musste ich in meiner Software einen bemerkenswerten Eingriff vornehmen: Ich musste für diesen einen Fall das Losverfahren außer Kraft setzen und den Iren hardcoded den zweiten Platz zuschustern. Naja, nur ein kleiner Schwank aus der Welt der Computerfreaks. Man begegnet immer wieder kuriosen, unvorhersehbaren Problemen in der wundersamen Welt dieser wirklich „doofen Computer“. Sie machen immer nur, was man ihnen sagt. Und doof ist man selber…
Weiterhin war es so, dass die Holländer in allen Spielen eher enttäuscht hatten. Und in den Vorberichten erfuhr man auch hierzulande was die Landsleute längst wussten: Die Mannschaft war in sich zerstritten. So ein Erfolg wie der von 88 schafft wohl gerne mal ein paar kleinere Probleme. Die alten Haudegen verteidigen ihre Plätze mit Verweis auf ebenjenen Erfolg, wohingegen die nicht minder guten Nachrücker allmählich Ansprüche anmelden.. So darf man getrost auch dieses Los als Glückslos für Deutschland unter den gegebenen Umständen einstufen.
Aber trotz allem, egal, wie sehr ich und Außer-Deutsch-Welt der Mannschaft den Sieg missgönnt (sicher, ich vorwiegend aus monetären Erwägungen heraus; gut gespielt ist gut gespielt und dann bin ich immer bereit, zu gönnen und anzuerkennen) haben mögen. Das war eine echte Glanzleistung dieser Mannschaft. Ein 2:1 Sieg, der wahrhaft Eignung hat, sich ins Gedächtnis einzubrennen und im Prinzip zu knapp ausfiel. Der Anschlusstreffer für die Holländer fiel aber erst kurz vor Schluss durch Elfmeter, so dass der Sieg nicht sehr ernsthaft in Gefahr war. Die überragenden Kräfte und sicher eines der besten Länderspiele der beiden: Jürgen Klinsmann und Guido Buchwald. Das ausgerechnet Guido Buchwald, der von Auftreten und Bewegungsablauf alles andere als „Ballkünstler“ war, den Spitznamen „Diego“ in Anlehnung an den „redoubtable“ Maradonna, bekam, war weit mehr als nur ein billiges Wortspiel. Es war wirklich beeindruckend, wie er in die Rolle schlüpfte, das Spiel der Mannschaft immer wieder anzukurbeln und das gesamte Spielfeld, inklusive des gegnerischen Strafraums, aber auch der Außenbahnen, „beackerte“, dabei aber mit präzisen Flanken und genauen Zuspielen bestach. Auch Jürgen Klinsmann, der oft nur belächelt wurde wegen seiner teilweise unbeholfenen Aktionen, hatte allen Anlass, sich in diesem Spiel über seinen Aufstieg zum Nationalhelden zu freuen und diesen würdig erlangt. Immer wieder riss er sich los von den Gegenspielern und strebte unwiderstehlich auf das Tor zu, was er nicht nur mit dem einen erzielten Tor immer wieder in Gefahr brachte. Einfach Klasse, ohne Wenn und Aber. Wenn sie immer so spielen würden, dann könnte sogar ich wieder zum .. na, so weit wollen wir nicht gehen.
Bemerkenswert aber mal wieder in diesem Spiel die für mich doch nicht ganz objektive Form der Berichterstattung über den frühen doppelten Platzverweis gegen Völler und Rijkaard, der das besonders gute Spiel eventuell erst möglich machte, da beide mit offenem Visier spielten und ihnen der größere Raum beim Spiel 10 gegen 10 in diesem Sinne entgegenkam. Ich sehe diese Szene noch vor mir und trotz meiner längst eingestandenen Abneigung – bezogen auf Menge des Glücks und Berichterstattung – gegen die deutschen Erfolge, und gerade in diesem Spiel aufgrund der laufenden Wetten als reiner Holländer auftretend, bemühe ich mich stets um allerhöchste Objektivität. Hier also die Szene aus meiner Sicht, die zumindest hierzulande so noch niemals beschrieben wurde.
Der Auftakt der Szene war eine ganz klare Schwalbe von Völler, als der Ball bereits verloren war. Völler „stürzte“ über einen virtuellen Fuß. Ich sehe das noch heute vor mir, wie Rijkaard, ein sehr erfahrener und überragender Spieler– der gekürt beste der EM 1988 –, der auf dem Platz sehr wohl wusste, was sich abgespielt hatte, sich nach dem Deutschland zugesprochenen Freistoß e über den noch am Boden liegenden Völler lehnte und diesen mit dem Zeigefinger bedrohte. Zugegeben eine Provokation. Aber in dem Sinne gerechtfertigt, als dass er eben einfach wusste, dass es eine Schwalbe war, wie auch die TV-Bilder später belegten. Rudi Völler — und an dieser Stelle tragen mich meine Assoziationen mal wieder noch weiter davon, dennoch sei erwähnt, dass es wirklich nur „ein Rudi Völler, es gibt nur ein Rudi Völler“ gibt – sprang daraufhin ziemlich erbost seinerseits Richtung Rijkaard, damit wohl anscheinend andeutend, dass er wirklich gefoult worden war. Völler war ziemlich sauer, und das, Entschuldigung Herr Völler, zu Unrecht. Die Aktion ging sofort weiter, der Freistoß der Deutschen wurde unerreichbar Richtung holländisches Tor geschlagen, aber Völler ging diesem Ball dennoch nach. So kam es, dass der Torhüter der Holländer, Hans von Breukelen, zwar gerade noch dieser Attacke ausweichen konnte und nicht zu Schaden kam. Jedoch war zu spüren, dass Rudi Völler im wahrsten Sinne des Wortes „rot sah“. Das erkannte auch der Schiri und zeigte ihm diese Karte im Anschluss. Jedoch hatte Frank Rijkaard zuvor noch die Liebenswürdigkeit besessen, Rudi Völler auf seine wirklich unbeherrschte Attacke aufmerksam zu machen, indem er dem schon wieder am Boden liegenden Deutschen am Ohr drehte. „Junge, lass den Schieß“, so meine Deutung, und auch das mit einiger Berechtigung. Dass er gleich im Anschluss Völler wirklich anspuckte, hatte nach meiner Einschätzung keinerlei Einfluss auf die Doppel-Rot Entscheidung, war aber auch für mich eine wirklich unethische und –ästhetische Aktion. Kein Zweifel, das ist auf dem Fußballplatz ein wenig vergleichbar mit der Position von Kinderschändern im Knast.
Der Schiedsrichter hatte offensichtlich erspürt, dass mit Völler die Gäule durchgegangen waren. Rijkaard hatte sich seine Rote Karte auch redlich verdient, wenn ich auch als Fan der Gerechtigkeit und des Fußballs sagen darf, dass Frank Rijkaard auch als Fußballer ein Ästhet war und hier teilweise Opfer einer Provokation wurde. Ich kämpfe nur für das Verständnis für die andere Seite, da die ganze Spielszene immer wieder so einseitig dargestellt wurde.
Im Verlaufe des Turniers, in welchem man in seiner Umgebung natürlich bald täglich nur noch über Fußball sprach, auch bei meiner täglichen Arbeit bei der SEL zum Beispiel, stellte sich heraus, dass sehr viele Menschen wettverrückt geworden waren. Die Kollegen machten auch alle ihre kleinen Tippspiele, alle mit Geldeinsätzen, aber, wie üblich, nur um Äpfel und Eier, dennoch war eine Lawine losgetreten. Das hatte wohl etwas mit der gerade in jener Zeit mehr und mehr beginnenden Verbreitung der Wettanbieter aus dem Ausland zu tun. Jeder kannte einen, hatte selber schon einen Wettzettel in den Händen gehalten oder diskutierte auch sonst eifrig mit. Zumindest für die Dauer des Endturniers schienen alle Gesetzte des „du sollst nicht spielen“ oder „das ist illegal“ außer Kraft. In meiner außerarbeitlichen Gesellschaft befanden sich ohnehin bereits haufenweise „Zocker“, wobei wohl ein jeder über diese Bezeichnung erbost wäre, da sie sich selbstverständlich alle als „kühle Rechner“ bezeichnen würden. Das Wort „Zocker“ behält bis zur verbindlichen Definition und meinerseits durchgeführten Aufklärungskampagne diesen unangenehmen Beigeschmack. Jedenfalls wurde da gewettet, was das Zeug hielt, gerade zur WM.
So kamen Micha und ich auf den Gedanken, selber einen Wettzettel herauszugeben. Wir erstellten Wettangebote in absoluter Analogie zu den ausländischen Anbietern. Quoten auf die Spiele, Ergebniswetten und Halbzeit-Endstand Wetten, sowie auch Langzeitwetten vor allem mit den Fragestellungen, wer kommt wie weit. Ich legte mir einen Quittungsblock, packte mir ein paar Kopien des Wettangebotes ein und begab mich einfach unter Leute. Und da kann ich wirklich mal sagen, dass quasi Jeder mitgemacht hat. Dabei war mir egal, ob 10 DM oder 100 DM. Es war, man kann es auch so nennen, eine Art Experiment. Ich hatte den Gedanken, im Zuge der EU-Gesetzgebung würde bald das Wetten und Spielen europaweit legalisiert werden, wie auch teilweise von Gesetzgeber Seite angedeutet, da es in einigen Ländern bereits legal war. So hatte ich zu der Zeit die Idee im Hinterkopf, ein Wettbüro zu eröffnen. Das war der Probelauf. Sind die Zahlen gut? Was spielen die Leute und wie hoch? Was müsste oder könnte man noch anbieten? Und letzten Endes natürlich: Kann man gewinnen?
Es ergab sich logischerweise allmählich eine Häufung von Wetten, die alle möglichen Erfolge der Deutschen Mannschaften unterstützten. So gab es bei jedem deutschen Auftritt die konkreten Siegwetten, aber auch perspektivisch „Deutschland wird Weltmeister“ oder „Deutschland kommt ins Finale“. und so weiter. Allmählich wurde uns schon etwas mulmig was für den Fall des SuperGAU, Deutschland wird Weltmeister, in der Summe als Auszahlungen auf uns wartete. Die Spannung hierzulande war selbstverständlich groß, so lange die Mannschaft im Turnier war. Die anderen Spiele wurden auch mit anwachsender Begeisterung verfolgt. Man verglich sicher die eigene Mannschaft mit den andern Teilnehmern, aber zur „Überbrückung“ bis zum nächsten Deutschland-Spiel waren andere Spiele auch willkommen. Und auch auf diese wurde nach und nach eifrig gewettet.
Unsere eigenen, im Ausland abgeschlossenen Langzeitwetten verloren allmählich an Bedeutung. Wenn ich mich recht entsinne, waren sie zwar nicht schlecht und ergaben unterm Strich einen kleinen Gewinn. Wichtig wurde für uns aber nur noch, dass Deutschland irgendwann mal rausfliegt. Diesmal war es nicht mehr nur ein emotionaler Wunsch, dass es nicht immer wieder heißen sollte „Fußball einfaches Spiel – 22 Mann – ein Ball – und am Ende gewinnt Deutschland“, es war ein direkt pekunärer. Nun, wie oben angedeutet, hatte ausgerechnet diese Deutsche Mannschaft das Potenzial, auch leidenschaftliche Deutschland-Verachter in ihren Bann zu ziehen. So langsam wurde mir auch klar, in welch unangenehme Lage ein Buchmacher selber geraten kann. Man kann nicht mehr für das sein, was man gerne möchte. Man gerät in eine richtige Außenseiterrolle, da man immer gegen das sein soll, was andere sich wünschen. Nun hatte gerade das bei mir eine längere Vorgeschichte. Bitte, bitte, alles, nur nicht wieder und wieder und wieder Deutschland!
Im Viertelfinale traf die Mannschaft auf die Tschechen. Und angesichts der zahlreichen Namenswechsel ignoriere ich kurzzeitig mal die politisch korrekte Bezeichnung des allseits bekannten Landes. Wir schauten mit geringer Hoffnung auf einen Misserfolg der Deutschen dieses Spiel. Die Quoten waren aber auch wirklich klein auf den Sieg selber, so dass eine Großausschüttung unsererseits ausblieb. Dennoch kann ich den Gegeneffekt, wenn das Wunder geschehen sollte, gerne so zum Ausdruck bringen: „Mach mal das Fenster auf. Da regnet Geld rein.“ Tja, für solche Ereignisse mussten bei mir aber weiterhin Träume herhalten. Die Deutschen gewannen das Spiel. Nur, wenn man bei diesem Spiel den Begriff „einfach“ verwenden sollte, dann wäre es hierfür nicht zutreffend.
Es war das Spiel, wo schon recht früh im Spiel ein Tscheche vom Platz gestellt wurde und die Deutschen gerade da zu siegessicher wurden und sogar mit 11 gegen 10 näher an das Wunder gerieten, als ihnen lieb war. Es war auch das Spiel, nach welchem Franz Beckenbauer, Coach der Mannschaft, trotz des 1:0 Sieges ziemlich heftig schimpfte, vergleichbar mit so einer Vogelart, äh dem …? Die Deutschen hatten in ihrem Anliegen, das Spiel frühzeitig zu entscheiden, recht undiszipliniert nach vorne gespielt und etliche Großchancen der Tscheche zugelassen. Nur: nach Siegen kann man wunderbar schimpfen, oder? Wir waren mal wieder Neese. Nischt mit Fenster uff und so. Das Zittern ging weiter.
1) Viertelfinale England – Kamerun
Das anfängliche Problem der Spielstärkeanpassung für Kamerun oder überhaupt, für alle Mannschaften pflanzte sich fort. So hatte mir mein Computer geraten, einen völlig verfehlten Kurs von 1.40 auf England zu bezahlen. Das ergab auf der Gegenseite, also auf Sieg Kamerun (in 90 Minuten; ohne Verlängerung), eine 6.75. Ich habe damals in grenzenloser Naivität diese Quote unverändert gelassen. Obwohl doch jeder gesehen hatte, was Kamerun konnte. Und den Buchmacherquotenvergleich habe ich noch nicht zurate gezogen. Der hätte mir sicher gezeigt, wie ein vernünftiger Buchmacher das Spiel einschätzte. Kamerun hatte ja bereits im Eröffnungsspiel Argentinien geschlagen. Der Fehler war jedenfalls die 6.75.
Als Konsequenz der Fehleinschätzung auf das Spiel ergab sich noch eine weitere, völlig absurde Quote: Für Halbzeit-Endstand, das Ereignis England führt zur Pause aber Kamerun gewinnt am Ende (nach 90 Minuten) spuckte mein Computer die sagenhafte Quote von 70.0 aus! Und auf die wurde gewettet, wenn ich mich recht entsinne 110 DM insgesamt. Das allein hätte also schon 7700 DM gekostet.
Also es war einiges Geld auf Kamerun Sieg, Kamerun kommt weiter, Kamerun Halbzeit-Endstand, Kamerun, quasi immer nur Kamerun. Meine England Leidenschaft bekam einen weiteren, unerwarteten „boost“.Als England in der ersten Halbzeit in Führung ging, konnten wir uns nicht direkt beklagen, was hätten wir uns denn wünschen sollen? Tore, Tore, Tore, immer für England. Aber dann, in der zweiten Halbzeit: Während die Gesichtsfarbe des meist Ball führenden Spielers immer dunkler wurde, (Klammerauf Klamauf Klamauk Kalau Komma Kamau Kamü Komma Kame, Kamerun übernahm Kommando) wurde unsere Gesichtsfarbe parallel immer heller. Kamerun drehte das Spiel, 1:1 und dann gar das 2:1, zu unserem Entsetzen auch noch völlig verdient. Sie schienen in ihrer dadurch ausgelösten Euphorie, aber auch Überheblichkeit, die die Engländer hilflos hinterher rennen ließen und sie geradezu narrten, einem einfachen Sieg zuzustreben.
Wir wurden reine Rassisten, noch verstärkt durch unsere Gesichtsfarbe, und benötigten dringend Hilfe. Diese kam tatsächlich in doppelter Form des grünen schwarzen Mannes und des weißen schwarzen Mannes. Der grüne schwarze Mann (Trikot grün – Haut schwarz; kommt das Buch jetzt auf den Index? Ich verweise auf „Wortspiel“) hatte die unendliche Güte, beim Stande von 2:1 für Kamerun, in erkennbarer Überheblichkeit, die absolute Monsterriesenchance zum 3:1 zu vergeben und den Ball über die Latte zu hämmern, wohingegen der weiße schwarze Mann, also der Pfeifenmann, seine ebenso große Güte und das für seinen Namen verantwortliche Instrument dazu einsetzte, einen Elfmeter für England kurz vor Schluss zu geben. Gary Lineker, ich liebe dich, 2:2, Verlängerung, Geld gerettet, sicher 10000 DM. Dort noch ein Elfer, wieder Lineker, England war weiter, noch mehr Geld gespart. Noch heute erinnert sich zumindest jeder Engländer an diesen überaus glücklichen Sieg. Und ich glaube, dass sogar Deutschland, der kommende Halbfinalgegner des Siegers, ein paar Schweißperlen abgewischt hat. England kannte man immerhin. Kamerun hätte in der Verfassung alles möglich machen können.
Jedenfalls, da muss man einfach ehrlich sein, habe ich garantiert keine besonders guten Quoten gemacht. Das sieht man schon an diesem Beispiel. Das war reines Glück, und auf keinen Fall das des Tüchtigen. Also lehrte mich das auch schon, dass es nicht gar so erfreulich ist, Wetten anzubieten. Man macht Fehler, die Leute sind da, wetten darauf. Und in diesem Fall brauchte ich die Portion Glück. Und die Hilfe von oben?!
2) Das Halbfinalspiel England – Deutschland
Micha und ich haben die Spiele meist im Belmont, dem Schachcafé angeschaut. An diesem Abend war aber irgendwie alles anders. Meine eigene Gefühlslage kann ich am besten so beschreiben: Deutschland sollte ausscheiden, rausfliegen, am besten demontiert werden. Immer wieder dieses Glück. Selbst wenn sie die beste Mannschaft im Turnier gewesen sein mögen (meine Zweifel wie folgt begründet: Brasilien schied bereits im Achtelfinale gegen Argentinien aus, war aber über die gesamte Spielzeit die klar bessere Mannschaft und nur der Geistesblitz von Maradonna gefolgt von dem Sturmlauf von Caniggia kurz vor Schluss sicherte Argentinien den unverdienten Sieg und sie kamen später sogar ins Finale). Auch die Besten brauchen noch das nötige Quäntchen Glück. Die Chancen mögen vpr dem Turnier bei 20% auf Weltmeister gewesen sein. Um dann wirklich Weltmeister zu werden, muss man die zu 100 verbleibenden 80% an Glück aufbringen. Das ist Mathematik und Philosophie zugleich.
Aber das gigantische Glück alleine würde mich nicht gegen sie aufbringen. Es ist die Wahrnehmung dessen, wie der geneigte Leser hoffentlich mittlerweile nachvollziehen kann. Das bessere Wort wäre aber die „Nicht-Wahrnehmung“. Die Deutschen wissen nichts davon und würden überaus empfindlich reagieren, wenn sie es sich selbst attestieren sollten. Es ist ein Standardverhalten bei allen Menschen, die Glück haben: In der Zeit des Glücks wird es nicht wahrgenommen. Erst, wenn’s vorüber ist und umschlägt. Und dann nennt man es einfach Pech. Das ist wie Rückenwind beim Fahrrad fahren („heute fährt sich’s aber schön, ganz windstill“), verglichen mit Gegenwind („dieser verfl… Sch… Gegenwind“).
Nun war ich aber Engländer mit Leib und Seele. Es war vor der Kündigung bei der SEL. Ich hatte insgesamt vier englische Arbeitskollegen. Im Büro sprach ich fast nur Englisch. Ich mochte sie sowieso, hat sich auch bis heute nicht geändert. Aber der finanzielle swing an diesem Tag hätte auch einen finanziell potenten Leser seine Wurzeln vergessen lassen. Sicher hätte sich dieser aber nicht in solche Wetten verwickelt, schon klar.
Das Belmont quoll über. Alles war nur Schwarz-Rot-Gold. Ein weiteres Jubelfest stand an. Ganz Deutschland im WM-Fieber. „Wir werden gewinnen, ganz klar. Wie immer.“ lautete das überall wahrzunehmende Motto. Irgendwie scheine ich immer deplatziert auf dieser Welt. Es war einfach nicht auszuhalten, unerträglich.
Ich verließ das Lokal. Immerhin hatte ich noch eine kleine Hoffnung: Einer meiner Kollegen, Neville Hughes, wohnte in der Nähe. Ich klingelte an seiner Tür, bangend, flehend, bitte, bitte, ein Landsmann, erbarme dich! Aber er öffnete nicht. Ich hatte mir das vorher nicht überlegt, wie unerträglich es gerade an diesem Tage sein würde, auch noch gegen England. Und alle Deutschen sind seit 1966, trotz aller danach erfolgten „Revanchen“, immer noch überzeugt, dass ihnen der Titel geraubt wurde. Ich musste doch zurück ins Belmont. Endlich konnte ich leibhaftig nachempfinden, wie das Spirchwort von der „Höhle des Löwen“ entstanden ist, Sie war praktisch ein ganzes Land groß, es gab kein Entrinnen. Ein ganzes Land in Nationalfarben!
Dann der abgefälschte Freistoß, Brehme, 1:0, eine Explosion, das Lokal bebte, ach was, nicht nur das Lokal. Was hatte ich nur auf dieser Welt verloren? Und dann noch an diesem Ort? Es war ein wirklich tolles Spiel, England begann zu drücken. Nur wollte einfach kein Tor fallen. Die Anspannung wurde immer größer, aber es könnte doch einmal, nur dieses Mal. Ich habe die Hoffnung, dass Gary Lineker meine schon vor dem Turnier geäußerte Verehrung – immerhin erhielt er in seiner Karriere vor dem Turnier noch keine einzige Gelbe Karte – erspürte. Denn diesen einen Pfeil hatten wir noch im Köcher, wieder Lineker, setzt sich gegen Jürgen Kohler durch, ein ganz ehrliches Tor, toll gemacht, das 1:1! Diesmal fand die Explosion allein in meinem Körper statt, denn um mich herum gab es nur lähmendes Entsetzen. Äußern konnte ich die Freude im Höchstfall mit einer aufgehellten Mine, die sich nicht unterdrücken ließ.
Es gab Verlängerung. Es war ein so unglaubliches Spiel. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, das Spiel mit englischem Kommentar hören zu dürfen. Chancen auf beiden Seiten. Chris Waddle, die Riesenchance — Pfosten. Das kann doch nicht… Brehme senst Gascoigne von hinten um. Das muss doch Rot sein? Was tut Gascoigne? Er steht auf, ohne Lamentieren … und hilft dem noch am Boden liegenden Brehme lächelnd auf die Beine. Das nenn ich mal Fairplay! Gibt es denn eine Gerechtigkeit auf der Welt? Dass die „Guten“ gewinnen ist wohl doch eine Erfindung vom Film.
Es kommt zum Elfmeterschießen. Alle im Lokal waren mitgerissen. Ich auch, Die letzten Minuten hatte ich nur noch stehend auf einem Tisch zugebracht und das ist die reine Wahrheit, hatte nicht mal direkt etwas mit den dort oben verbesserten Sichtmöglichkeiten zu tun. Das Elfmeterschiessen auch. Es muss doch einmal … ich hatte sogar eine Anfrage von einem Wetter, der behaupten wollte, dass Illgner im Turnier keinen Elfmeter halten würde. Zumindest drückte es aus, was er von Illgner hielt. Und dann: Stuart Pierce läuft an, , er schießt —Illgner an! NEEEEEEEEEEIIIIIIIIIIIIIIN! Illgner war schon auf dem Weg in die Ecke, hat aber die Füße nicht schnell genug weg bekommen, der Ball prallte dagegen. Er hat es einfach nicht geschafft, dem Schuss auszuweichen. Dann der letzte Elfer, Waddle, in den Nachthimmel. Die Engländer wussten wohl auch schon, dass es ein unausweichliches Schicksal war… Unvergessen auch, wie Sir Bobby Robson, Englands Trainer, direkt danach zu Beckenbauer ging, mit einem ehrlichen Schulterzucken, freundlichen Lächeln, und gratulierte.
Ich habe mir gerade eben noch mal das Video bei YouTube angeschaut. Gascoignes „honest tears“ haben mich auch zum Weinen gebracht. Ich bitte auch den echten Deutschland Fan, er möge sich diese Tragödie einmal anschauen, dann verstünde er. Dann noch der Schlusskommentar des englischen Fernsehmoderators: „You think it is forever? It is now!“ Die damals noch mühsam unterdrückten Tränen habe ich einfach jetzt nachgeholt…
Es ging längst nicht mehr ums Geld.
Wenn doch bloß endlich mal ein Deutscher sagen würde: „Ja, wir haben riesige Suppe gehabt.“ Es ist keine Zwangsläufigkeit dahinter, dass es immer wieder den gleichen Sieger gibt. Dieses Halbfinalspiel war komplett ausgeglichen. Deutschland war nicht schlecht. Es war dramatisch, ein phantastisches Fußballspiel. In puncto Fairplay sehe ich die Engländer vorne. Es gibt kein verdient oder unverdient. Es ist einfach so: Der Glücklichere hat gewonnen. Und der trug Schwarz-Rot-Gold.
Um einen Eindruck von den finanziellen Dimensionen zu bekommen: Der Unterschied allein in diesem Spiel waren etwa 7.000 DM für mich.
3) Halbfinale Italien – Argentinien
Es lohnt sich auch, über dieses Spiel ein paar Worte zu verlieren. Dabei geht es vor allem um die Reaktionen auf solche tragischen Ereignisse im Ausland.
Italien war Ausrichter dieses Turniers. Und Italien hat eine gigantische Tradition im Fußball. Dass sie das Thema „Taktik“ perfektioniert haben, ist mehr als nur ein Gerücht. Ich hörte von dänischen Bekannten von einem Spieler, der in der Serie B in Italien gespielt hat. Er erzählte, dass er als Flankenläufer monatelang keinen einzigen Ball gespielt hat. Es ging nur um Laufwege und taktisches Verständnis. Und als ich in Italien einmal auf einer Tribüne saß, konnte ich auch bezeugen, dass die Zuschauer die Spielszenen nach ihrer Qualität beurteilt haben und nicht nach dem Ergebnis der Aktion. Jeder schien zu wissen, was richtig und was falsch ist. In Deutschland wird einem auf Gedeih und Verderb beigebracht, dass es ausschließlich um das Ergebnis geht. Tor war gut, kein Tor schlecht. Insofern wundert mich auch gar nicht mehr, dass die Zuschauer in Italien nach einem 0:0 zufrieden nach Hause gehen, während in Deutschland schon zur Halbzeit gepfiffen wird, wenn es 0:0 steht. In der Konsequenz bedeutet es aber auch, dass man der Konkurrenz den erforderlichen und angebrachten Respekt entgegenbringt, welches im Sieg gewohnten Deutschland auch zu kurz kommt. Auch in dieser Hinsicht gönne ich den Bescheidenen – und das sind so ziemlich alle, außer den Deutschen – den Erfolg eher.
Italien wurde als Ausrichter von den eigenen Fans noch mehr als ihnen lieb war in die Favoritenrolle gedrängt. Und sie hatten auch eine tolle Mannschaft zusammen. Die Entdeckung damals: Salvatore „Toto“ Schillaci. Sie spielten auch ein überragendes Turnier, die Fans mussten diese Mannschaft einfach lieben und taten es auch. Das Finale war im Prinzip das Minimum, was sie erreichen mussten.
Die Argentinier ihrerseits haben eigentlich immer eine starke Mannschaft gehabt, eine der ganz großen Nationen, und den Titel bereits 1978 und 1986 gewonnen. Jedoch war Maradonna nicht in der Verfassung in diesem Jahr. Und auch sonst spielte die Mannschaft merkwürdig farblos in diesem Turnier. Der Sieg gegen Brasilien war überaus glücklich. Der Farbtupfer Cannigia mit der blonden langen Mähne hatte das Siegtor kurz vor Schluss aus der so ziemlich einzigen Chance erzielt, nachdem die Brasilianer etliche gute Gelegenheiten ausgelassen hatten.
Im Halbfinale wurde zwar auch verbissen gekämpft, aber auch da gab es nur eine Mannschaft, bei deren Sieg man von verdient hätte sprechen können: Italien. Sie waren einfach besser, und das in nicht unerheblichem Maße. Dennoch kam es beim Stande von 1:1 zur Verlängerung. Diese blieb torlos, so dass das Elfmeterschießen entscheiden musste. Argentinien gewann.
Das ganze Land Italien war fassungslos. Aber es wurde hemmungslos geweint. Ich sehe noch die Titelfotos sogar in unserer Presse, die die weinenden Fans eingefangen hatten. Auch in Fernsehberichten wurde das nicht verheimlicht. Ein Land in Tränen. Da muss man doch einfach mitweinen. Da geht es nicht um Schuldzuweisungen oder taktische Fehler – wie es wohl in Deutschland der Fall gewesen wäre. Es wurde einfach getrauert.
Zu erwähnen noch, dass das Glück der Deutschen sogar in den Parallelpaarungen nicht abreißt. Denn es ist doch offensichtlich, dass Italien im Finale der klar stärkere Gegner gewesen wäre?!
3) Das Finale Deutschland – Argentinien
Alles war vorbereitet für den großen Triumphmarsch der Deutschen. Sie hatten wirklich ein gutes Turnier gespielt, das sage sogar ich. Dennoch gab es hier oder da ein paar Fallstricke, so wie jener für Brasilien. Ich persönlich verfolgte das Spiel in Agonie. Ich war zwar, wie üblich, im Belmont, konnte aber nicht mehr diese Kraft aufbringen, gegen die Deutschen zu drücken oder zu hoffen. Es ist eine unwiderstehliche (Glücks-)kraft, die diese Mannschaft immer weiter nach vorne treibt, nicht aufzuhalten, nicht dagegen zu stemmen. Vielleicht ist es ja die gleiche Agonie, in die die Argentinier in dem Spiel verfallen sind? Sie haben 1986 unter größten Mühen tatsächlich das Glück gezwungen und die Bestie besiegt. Aber zwei Mal hintereinander? Das war nicht zu schaffen, das spürten sie von Anfang an.
Den vertretbaren Elfmeter, der erst in der 81. Minute beim Stande von 0:0 verhängt wurde, nahm ich wie selbstverständlich hin. Kein Aufbäumen, ich hatte nicht einmal so wenige Minuten vor Schluss ernsthafte Hoffnungen, das Spiel gewinnen zu können. Brehme verwandelte, der sogar an einem geschichtsträchtigen Datum geboren wurde: Dem 9.11., dem Tag des Mauerfalls.
Ich setzte mich in mein Auto und musste durchs Zentrum, um nach Hause zu gelangen und mir den Strick zu knüpfen. Diese Jubelszenen auch noch ertragen zu müssen, das ging einfach zu weit. Dennoch gelang es mir, unbeschadet und ohne Deutschlandfahne hindurch zu kommen. Ich machte vor der Vollendung meines Planes nur noch rasch einen Kassensturz. Und was musste ich feststellen? Trotz des absoluten SuperGAUs hatten wir immer noch einen Gewinn erzielt, ca. 2000 DM pro Nase.
Ich nahm das virtuell geknüpfte Seil wieder ab, ging daran, alle Gewinner auszuzahlen, am nächsten Tag zur Arbeit und – reichte die Kündigung ein. Ich hatte einen neuen Beruf gefunden.