Stichpunktartig kurz erläutert, worum es hier geht. Es geht um:
- Die Anwendung bestehender Regeln
- Umdenken was die Auslegung der Regeln angeht
- Stückweise Verbesserungen der Regeln
- Eine psychologische Untersuchung der Schiedsrichterentscheidungen
Eine der vertretenen Grundaussagen über den Fußball besteht darin, dass er an Attraktivität gewinnen würde, wenn es mehr Tore gäbe. Es ist wohl so, dass auch FIFA-Offizielle permanent an Ideen arbeiten, die speziell diesem Zwecke dienen. Nur gibt es auch Konsens darüber, dass man den Fußball im Wesentlichen so belassen sollte, wie er ist. Demnach sind Regeländerungen eher nur als kleine Modifikationen durchzusetzen.
Ein Grund für die konservative Haltung ist natürlich jene: wenn man alles so lässt, wie es ist, behält man vermutlich den Status Quo bei. Da der Fußball weltweit die Nummer 1 ist unter den Sportarten, gibt es gerade da relativ wenig Anlass, über Verbesserungen nachzudenken beziehungsweise sie umzusetzen. Änderungen könnten eine Gefährdung der Spitzenposition darstellen. Es gibt natürlich auch bei anderen (vorgeschlagenen) Veränderungen – Beispiel: Politik – die Haltung, dass man bei Beibehaltung (also konservativem Denken) doch immerhin weiß, was man hat – den Status Quo — und damit gewohnt ist, umzugehen. Veränderungen hingegen können sowohl positiv als auch negativ wirken.
Der erste Schritt, um das hier propagierte Vorhaben — Änderungen in kleinen Schritten zur Steigerung der Attraktivität — zu realisieren ist zunächst ein dafür notwendiges Umdenken. Dieses Umdenken setzt dort an, wo bestehende Regeln von den Schiedsrichtern angewendet beziehungsweise ausgelegt werden. Denn nicht selten ist von Regelauslegung die Rede. Diese bietet per Terminus bereits einen gewissen Spielraum. Es sind auch nicht selten Aussagen wie „das war eine mutige Entscheidung“ zu hören, die bei genauerer Betrachtung bedeuten, dass es alternative Auslegungen gegeben hätte. Übrigens wird als „mutig“ meist eine Entscheidung bezeichnet, die pro Tor, pro Elfmeter oder gegen Abseits (also für laufen lassen) ausfällt.
Ein weiterer Anhaltspunkt zum Beweis der Stichhaltigkeit der Überlegungen ist der, dass zur Fußball WM 1994 in den USA — übrigens dem Umstand geschuldet, dass die Amerikaner dringend mehr Tore haben wollten — ein Passus in die Regeln aufgenommen wurde, der bewusst diesen Spielraum eröffnete. Und zwar heißt es seitdem bei Abseitsentscheidungen als Vorgabe an die Assistenten:„… im Zweifel für den Angreifer…“ zu entscheiden. Der Begriff Zweifel deutet an, dass man es so oder so auslegen kann – und dem Assistenten die Freiheit gelassen wird.
Das Umdenken sollte in allen Fällen dort ansetzen, wo die Entscheidungen, analog zu der Abseitsauslegung, die Angreifer begünstigen, im Endeffekt die Torsituationen und damit die Toranzahl – und damit, wie einleitend gesagt, Spannung und Attraktivität des Spiels — erhöhen würde. Man sollte in erster Linie den zahlenden Zuschauer im Fokus des Interesses haben. Sofern dieser Zuschauer Fan einer Mannschaft ist, wird er sicher vor allem deren Erfolgsaussichten im Visier haben. Er wird vielleicht sich immer entrüsten, wenn seiner Mannschaft ein Tor aberkannt wird, gegen seine Mannschaft ein Elfmeter gepfiffen wird, seiner Mannschaft ein Elfmeter verweigert wird oder seine Mannschaft zurückgepfiffen wird wegen Abseits und er es partout nicht einsehen will. Diese Sichtweise nennt man auch „durch die Vereinsbrille“. Von diesen Fans, die übrigens genauso Spieler, Trainer, Manager oder Präsidenten sein können, soll hier nicht die Rede sein. Diese sind auf die Gesamtanzahl der Zuschauer immer in der Unterzahl. Man sollte an den neutralen Fan denken, der einfach so ein Spiel anschauen möchte, wegen der Schönheit und der Spannung des Spieles Fußball. Falls es diese übrigens nicht mehr gibt – wofür es einige Anzeichen gibt — dann gilt es dringend, diese Zuschauer zurück zu gewinnen. Wenn die Spannung, die Gerechtigkeit und die Attraktivität und Schönheit des Spiels groß genug ist, hätte man diese Zuschauer sicher bald (wieder) mit im Boot. Gewinner: der Fußball.
Zusammengefasst: Umdenken bei den Regelauslegungen zugunsten der Angreifer lautet die hier geäußerte Forderung. Sinn der Sache: Mehr Tore. Mehr Tore garantieren mehr Spannung.
Anmerkung: der Status Quo ist der, dass fast alle Auslegungen zu Ungunsten der Angreifer ausfallen. Eigentlich würde es schon genügen, wenn man nur dieses abstellen und einfach gerecht auslegen würde.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es soll keine Handballergebnisse Ergebnisse geben, das ist nicht das Ziel. Eine Steigerung um ein bis zwei Tore pro Spiel lockt sicher (noch) mehr Zuschauer an beziehungsweise sorgt es bei den aktuellen für mehr Unterhaltung. Das Plädoyer richtet sich auch eindeutig an die (Rück-)gewinnung des neutralen Zuschauers, welcher nach eigener Einschätzung weit unterrepräsentiert ist, was als Beleg für einen Mangel an Attraktivität des Spiels Fußball angesehen werden kann. Man schaut also nicht einfach, weil Fußball gespielt wird und das ein so tolles Spiel ist, sondern nur noch, weil die eigene Mannschaft am Start ist.
Nun soll die Beweisführung aufgenommen, dass die Regeln im Gegensatz zu der hier getätigten Forderung immer mehr in Richtung der Verteidiger ausgelegt werden. Dazu sollen einige typische Spielsituationen hervorgehoben werden, die praktisch in jedem Spiel vorkommen. Anschießend soll nach Ursachen für dieses Verhalten gesucht werden:
1) Abseits
Die offensichtlichste aller Entscheidungen, die permanent zu Ungunsten der Angreifer ausfällt ist ausgerechnet jene, bei der es explizit in die Regel aufgenommen wurde, dass es umgekehrt sein möge. Nach meiner Beobachtung fallen in etwa 90% der Abseitsfehlentscheidungen gegen die Angreifer aus. Es gibt ständig Situationen — gerade im immer schneller werdenden modernen Fußball, in welchem sich Angreifer und Verteidiger gegenläufig bewegen –, in denen es, auch laut Kommentar „sehr, sehr eng“ ist. Und wenn es so ist, dann wird die Fahne hochgerissen. Der lapidare Kommentar, regelmäßig nach Ansicht der Zeitlupenwiederholung zu hören lautet stets: „Oh, hier irrte er sich“ ändert daran nichts und eine derartige Fehlentscheidung wird auch nicht an die große Glocke gehängt. Er irrte, so das Urteil, aber es war auch schwer zu erkennen. Ein Fehler, ja, eine den Regeln widersprechende Auslegung, aber im gleichen Moment ein „Schwamm drüber“.
Hier nun der erste Moment, um das Umdenken auf den Weg zu bringen. Denn: genau, weil es schwer zu sehen war, ist die Frage der Auslegung zu stellen. Und diese lautet „im Zweifel für den Angreifer.“ Also: Regel falsch angewendet. Und das permanent. Auch in dieser Situation lautet die hier gestellte Forderung: Umdenken! Fahne unten lassen! Das steht sogar in den Regeln, also wendet sie endlich an!
Das garantiert mehr Torsituationen. Mehr Tore. Mehr Spannung. Mehr Zuschauer. Nix geändert, nur endlich korrekt angewendet. Das Problem wird übrigens längst von mehr und mehr Stimmen erkannt. Kommentar dann: „Es steht zwar in den Regeln, dass es im Zweifel für den Angreifer heißen sollte, aber ich weiß nicht, ob diese Regel jemals angewendet wurde.“
2) Mauerabstand
In den Regeln steht, dass die Mauer 10 yards, umgerechnet 9,15 Meter Abstand zum Ball haben muss bei Ausführung eines Freistoßes. Bitte, setzt es doch einfach durch. Bei Zuwiderhandlungen gibt es eine Strafe. Und alternativ zu Gelb könnte man sogar, wie in England jüngst vorgeschlagen, den Abstand um zwei Meter erhöhen, wenn sich die Mauer nicht zurückbewegen lässt.
Stattdessen sieht man immer häufiger die Situation, dass ein Verteidiger sich bereits lange bevor der Schütze den Ball berührt aus der Mauer löst und dem Ball entgegenläuft. Dazu noch haben die Spieler in der Mauer früher immer ihre Weichteile geschützt, heute hingegen halten sie den Arm angewinkelt in Kopfhöhe, offensichtlich in der Absicht, dem Schiedsrichter vorzugaukeln, dass man damit lediglich den Kopf schützt, jedoch oft genug mit dem Arm den Ball abfängt. Und weit mehr als einmal hat man gesehen, dass die Schiedsrichter das so erfolgte Handspiel großzügig übersehen. Dazu bedenke man bitte, dass für den Schützen die Lage auch eine Rolle spielt. Man ist bereits beim Anlauf irritiert und verliert an Konzentration. Man weiß, dass ein Fehlverhalten erfolgt, ein Spieler auf einen zuläuft oder alle die Arme über den Kopf halten. Zugleich weiß man aber auch, dass diese Vergehen nicht geahndet werden. Darüber hinaus möchte man den Ball auch aufs Tor bekommen. Und wenn man das physikalische Hindernis der Arme sieht, ist bereits der Ansatz zum Schuss anders, da man nicht dagegen schießen möchte. Das kostet entscheidende Prozente an Konzentration, so dass die Ausführung darunter leidet. Auch Vergehen, welche nicht realisiert werden – sondern nur angedeutet – bewirken auf diese Art einen Vorteil für die Verteidigung.
3) Foul im Strafraum
In England ist es längst erkannt worden. Da lautet der Kommentar bei einer solchen kritischen Foulsituation immer wieder: „Anywhere else on the pitch its a free-kick. In the area ist nothing.“ Überall auf dem Feld wäre das ein Foulspiel. Im Strafraum wird es nicht geahndet. Dass es so ist, darüber gibt es wohl kaum Zweifel. Man müsste eher die Frage klären, warum es so ist. Dazu soll im Anschluss Stellung genommen werden.
Es gibt so unendlich viele Situationen, bei denen sich der Verteidiger einen Vorteil verschafft durch winzige Behinderungen. Das Problem besteht für den Stürmer ohnehin darin, die eine einzige Richtung einzuschlagen, den möglichen Schuss so exakt zu platzieren, dass er nicht nur aufs Tor kommt, sondern auch noch einschlägt, also am Keeper vorbei. Der Verteidiger hat jede andere Richtung des Balles, die ihm hilft. Egal, wohin er klärt, Hauptsache geklärt. Der Schütze muss den Ball ins Tor bekommen. Das gibt dem Verteidiger einen permanenten Vorteil im Zweikampf. Das ergeben auch die Zweikampf Prozentwerte in den Datenbanken. Jedoch verschafft der Verteidiger sich in kritischen Situationen oft genug einen noch größeren Vorteil, indem er den Angreifer mehr als es die Regeln erlauben behindert. Sowie man den Satz hört: „Das reicht nicht für einen Elfmeter“ oder „dafür kann man keinen Elfer geben“ oder noch besser „das ist kein elfmeterreifes Foul“, weiß man hier, woran man ist. Es handelt sich zwar um ein Foulspiel, wie allseits erkannt wird, nur reicht die Größe des Vergehens nicht aus, um einen Elfmeter dafür als Strafe auszusprechen.
4) Handspiel im Strafraum
Bei einem Handspiel im Strafraum verhält es sich nicht viel anders. Wo da alles Verteidigerarme herumfliegen ist schon sensationell. Und immer wieder, wenn ein Ball dagegen geht, wird einem noch erklärt, dass „da die Hand nicht zum Ball ging“ oder „aus der Entfernung kann er gar nichts machen“ oder auch „da bekommt er den Arm nicht weg.“ Das ist im Prinzip absurd, wie es ausgelegt wird.
In der Jugend gab es eine einfache Regel, an die sich jeder Verteidiger hielt. Die lautete: „Arme an den Körper.“ Denn: wenn man sie nicht am Körper hatte und den Ball gegen bekam, gab es einen Elfmeter, egal, wie sehr man es beabsichtigt hat. Das Verhalten der Verteidiger erinnert heute eigentlich viel mehr an jenes eines Handballtorhüter. Der macht bei einem Wurf aufs Tor – bei dem noch viel schnelleren Ball — seine typischen Hampelmannbewegungen und bekommt den Ball eventuell ab. An der Stelle, wo der den Ball abbekommt, hat er den Körperteil sicherlich nicht absichtlich hingehalten. Dennoch lag grundsätzlich die Absicht vor, den Ball aufzuhalten.
Genau diese Absicht hat der Verteidiger auch. Er macht den Körper damit etwas breiter, teils erheblich. Und fühlt sich gut beschützt. Denn: wenn er den Ball gegen den Arm bekommt, wird ihm die Absicht nicht konkret unterstellt. Der Schiri nutzt die mögliche Regelauslegung, dass keine Absicht vorlag. Die günstige Spielsituation ist erneut unterbunden. Wieso werden dem Verteidiger diese Freiheiten gewährt, die keinem anderen Zwecke dienen als jenem, Tore zu verhindern, häufig genug auf illegale Art?
Man darf insgesamt die Frage aufwerfen: Wem nützt es, dass es so ausgelegt wird? Oder schadet es nicht eventuell doch dem Fußball, dem Sport?
5) Flanke in den Strafraum, Gerangel
Eine weitere, immer wichtiger werdende Situation: Eine Flanke kommt in den Strafraum. Häufig genug nach einem Eckball, wo sich meist besonders viele Spieler im Strafraum aufhalten. Der Ball segelt also herein und während er noch in der Luft ist hört man einen Pfiff. Man weiß, was gepfiffen wird, ist doch klar: Stürmerfoul. Es ist immer Stürmerfoul Und wenn man es partout nicht erkennen kann, dann sagt der Kommentator: „Da wird er wohl irgendwas gesehen haben.“, so auch hier der lapidare Kommentar. Hier werden erhebliche Zweifel an dem „irgendwas gesehen haben“ erhoben. Er pfeift einfach so. Das könnte er auch mit verbundenen Augen tun Erstens würde er in Schutz genommen werden, vom Kommentator, von den Offiziellen, wie oben angedeutet, außerdem war sicher praktisch immer „irgendwas.“ Nur, so hier die Behauptung, hat sicher der Stürmer die Regeln nicht mehr verletzt als der Verteidiger.
Es ist die entscheidende Frage: Hat ein Stürmer mehr gefoult als ein Verteidiger? Wer Fußball gespielt hat, der weiß, dass es immer Arme gibt, die einen umschlingen, ein kurzer Trikotzupfer, der gerade den Angreifer entscheidend aus der Balance bringt bei seiner Absicht, das Tor zu treffen, oder auch ein Schieben, Ziehen, Drücken, Schubsen. Das ist normal. Nur teilt es sich ziemlich genau auf in 50:50, so die Schätzung. Die Stürmer tun es genauso wie die Verteidiger. Jedoch fällt die Entscheidung zu 99% für die Verteidigung aus. Falls das mal reicht.
Es bleibt damit wieder mal eine Frage der Auslegung: Was möchte man gerne sehen, was übersehen?
Es soll zu Punkt 3, 4 und 5 welche sich alle auf Elfmetersituationen beziehen, kurz noch ein Einwurf gemacht werden: Falls man diese Aktionen den Regeln entsprechend mit Strafstoß ahnden würde, was wäre dann die absehbare Folge? Es wäre nicht etwa jene, dass wir plötzlich Ergebnisse von 10:13 oder 8:7 sehen würden, geschweige denn 20 Elfmeter pro Spiel, wie Berti Vogts einmal sagte, als er angesprochen wurde, ob man in einer bestimmten Situation nicht Elfmeter hätte geben müssen. Nein, die Folge wäre die, dass die Verteidiger wüssten, was sie dürfen und was sie nicht dürfen und sie würden sich daran, so gut es geht, halten. Die Arme wären am Körper, der Gegenspieler würde nicht permanent behindert werden, selbst wenn jedes einzelne Vergehen nur winzig wäre. Er würde es vermeiden, den Strafstoß zu verursachen, da er gepfiffen würde. Weitere Folge: man hätte mehr Torsituationen mit Schüssen und Paraden und — einer erhöhten Anzahl von Einschlägen. Wünschenswert? Oder einfach nur gerecht UND spannend zugleich?
6) Torhüterschutz
Die Torhüter sollen einem besonderen Schutz unterliegen im Fünfmeterraum. Das ist eine festgeschriebene Regel. Nunman darf ruhig bei allen Regeln skeptisch sein, welche in der Wirksamkeit gegen das Fallen von Toren gerichtet sind. Also dürfte man sie gerne auch löschen. Warum eine Ungleichbehandlung von Spielern und Torhütern? Die Schutzzone hatte vielleicht mal ihren Sinn, in Zeiten, da es das Toranzahlproblem noch nicht gab. Aber heute? Wenn sie nun aber geschrieben steht, kann man mal über die Auslegung und Anwendung nachdenken.
Ein Ball kommt in den Strafraum, sogar in den Fünfer. Haben Angreifer dort Zutritt? Wenn nicht: ein Zutrittsverbot aufnehmen als neue Regel vielleicht. Wenn sie es aber haben, dann fragt man sich, warum sie nicht an den Ball kommen können/dürfen? Der Torhüter wird sich immer dort aufhalten bei der Flanke, sicher. Wenn der Stürmer aber die Chance hätte, den Ball zu erreichen, dann stürzt sich der Torhüter auf ihn oder über ihn. Da er bei dieser Kamikaze-Aktion selbstverständlich zu Fall kommt, und es eine Berührung gab, gibt es nun eine Auslegung der Regel. Nur lautet diese in 99% auch hier: Stürmerfoul. Sogar, wenn er sich nicht einmal bewegt. Das letzte Prozent geht aber nicht auf Torhüterfoul. So etwas gibt es nicht. Wenn der Stürmer sehr viel Glück hat, läuft das Spiel weiter – und selbstverständlich fliegt der Ball über das Tor bei der durch die Behinderung unkontrollierte Berührung des Balles.
Noch dazu geschieht es oft genug, dass sich die ganze Situation außerhalb des Fünfers abspielt. Und auch dann wird die Regel angewendet, so als ob es im Fünfer wäre. Der Torhüter bekommt einen Freistoß. Hauptsache, so scheint man zu denken, es gibt kein Tor.
Wozu dieser übertrieben Schutz? Es gäbe mehr Torchancen und mehr Tore, falls nicht. Durch einfache Anwendung und dem Spielraum der Auslegung bestehender Regeln.
7) Die Psychologie
Der Ausdruck „mutige Entscheidung“ ist intuitiv so entstanden, dass man spürt, dass durch die betreffende Entscheidung eine krasse Verschiebung der Chancenverteilung was den Ausgang des Spieles betrifft die Folge ist. Die mutigen (aber, per Begriff und ebenso intuitiv wohl), richtigen Entscheidungen führen oft genug zu einem Tor. Sei es also, dass ein Elfmeter gegeben wird, ein Abseits im Zweifel einmal tatsächlich für den Stürmer (nicht) gepfiffen wird oder stattdessen ein Spieler den Regeln entsprechend vom Platz gestellt wird. Der Schiri war mutig, da er die Verschiebung der Chancenverteilung für den letztendlichen Spielausgang durch eine Entscheidung zugelassen hat. Insofern ist jede Entscheidung, die ein Tor ermöglicht, irgendwie mutig.
Um das ein wenig zu illustrieren habe ich hier ein Diagramm angefertigt. Aufgezeichnet wurde ein Zweitligaspiel zwischen Duisburg und Rostock zum Saisonauftakt 2008/2009. Entnommen sind die Chancen, übertragen in Wahrscheinlichkeiten, der Wettbörse betfair, bei welcher live auf das Spiel gewettet wurde und die angebotenen Quoten sich sekündlich verändern. Die aufgezeichneten Kurven stellen den Kehrwert der Quoten dar, sind also insofern die Wahrscheinlichkeiten, vom Wettmarkt so eingeschätzt.
Die blaue Kurve gibt die Siegwahrscheinlichkeit für Duisburg an, die rote die Siegwahrscheinlichkeit Rostock und die gelbe die Wahrscheinlichkeit für das Unentschieden. Das Spiel verlief so: Duisburg ging als Favorit ins Spiel (Wahrscheinlichkeit auf Sieg ca. 45%; damit ist man Favorit, da es auch die Möglichkeit für ein Remis gibt). Dann fiel schon nach 3 Minuten das 1:0. Die Folge: Anstieg der Wahrscheinlichkeit auf 70%. Dann konstant weiterer, leichter Anstieg. Der Grund: Es ist Spielzeit vergangen und Duisburg war auch weiterhin überlegen.
Dann kurz vor der Pause der Ausgleich, sehr überraschend. Das Remis steigt an, die Siegwahrscheinlichkeit fällt für Duisburg und die für Rostock steigt an, da sie dem Sieg durch den Ausgleich näher gekommen sind. Dann, kurz nach der Pause das 2:1 für Duisburg. Anstieg Siegwahrscheinlichkeit auf 80%, wegen der späteren Spielminute. Dann, wenige Minuten später, ein (unberechtigter) Elfmeter incl. Platzverweis. Die Siegwahrscheinlichkeit für Rostock übersteigt nach Verwandeln des Elfmeters die Siegwahrscheinlichkeit von Duisburg, da ja jetzt 11 gegen 10 gespielt wird und das Spiel ausgeglichen steht. Dann steigt die Remiswahrscheinlichkeit konstant an, während die beiden Siegwahrscheinlichkeiten aufeinander zu laufen. Das ging bis zum Schlusspfiff so, das Remis stieg auf 100%, die beiden Siegwahrscheinlichkeiten gingen beide gegen 0, bei Abpfiff stand das Ergebnis dann fest: 2:2.
Hier sieht man demnach, welche Folgen Tore haben. Sie verschieben die Chancen drastisch. Auch die Rote Karte — die allerdings zeitgleich mit Elfmeter und Tor geschah — hätte sonst auch alleine schon für eine deutliche Verschiebung gesorgt. Da der Mensch wohl eine empfundene Tendenz hat, den Ist-Zustand zu bewahren, da die Gewohnheit ihm sagt, dass er es immerhin bis hierher geschafft hat und eine Veränderung Zweifel oder gar Ängste auslösen kann, scheut man sich vor Entscheidungen, die für diese Veränderung sorgen können. So geht es auch dem Schiedsrichter. Falls er also ein Tor aberkennt, verändert sich nichts. Beim Fußball, verglichen mit Eishockey oder Handball, Basketball, hat ein Tor jedes Mal diesen drastischen Einschnitt zur Folge. Und die will man intuitiv nicht zulassen, sucht also nach Fehlern. Beim Fußball wird man oft genug fündig.
Tatsache ist: in diesem Spiel gab es zwar keine kritische Fehlentscheidung zu Ungunsten eines Tores. Wenn es sie aber gegeben hätte, dann hätte man es im Diagramm an nichts ablesen können. Demnach erschiene sie als unbedeutend. Mutig, so noch besser erörtert, die Entscheidung, die einen Einschnitt in einem derartigen Diagramm zulässt. Diese ist spürbar, sichtbar, die andere, gegen das Tor, nicht. Unabhängig davon, ob diese oder jene fehlerhaft war.
Ein weiterer kleiner Beweis, dass man Angst vor der Fehlentscheidung hat, welche zu einem Tor führt: Markus Merk hatte ein Tor der Bremer gegen Dortmund anerkannt, welches nach Ansicht der Fernsehbilder irregulär war. Nach dem Spiel verfasste er nicht nur ein 30-seitiges Papier, in welcher er den Videobeweis forderte, sondern sprach zugleich „von seinem schlimmsten Fehler der letzten 10 Jahre.“ Das verleiht dem Ausdruck: Ein Fehler, der ein Tor aberkannt hat und von denen er sicherlich in diesen 10 Jahren weitaus mehr begangen hat, hat keinerlei Bedeutung, ist längst vergessen. Der eine Fehler, der das Tor zugelassen hat ist so schlimm, dass sogar Technik gesucht wird, um ihn in Zukunft zu vermeiden.
Jeder Schiedsrichter hat demnach Angst davor, nicht nur überhaupt, dass sich die Chancen so drastisch verschieben, sondern vor Allem, dass sie sich durch seinen Fehler so sehr verschieben. Also wird beim leisesten Zweifel die Torsituation unterbunden.
Das Plädoyer hat übrigens eine weitere offensichtliche Folge: Falls es gelänge, das Umdenken einzupflanzen, dann würde aufgrund der höheren Toranzahl die Bedeutung des einzelnen Treffers abnehmen — und die Schiris sich weniger vor dem Fehler fürchten müssen.