Missverhältnis der Wahrnehmung von Fehlentscheidungen
Die relevanten und zur Diskussion gestellten Fehlentscheidungen sind die folgenden, eben in gewisser Weise „Spiel entscheidenden“. Nämlich jene, welche ein Tor anerkennen oder solche, die ein Tor aberkennen. Die Formulierung ist zunächst so gewählt, um es möglichst plastisch zu machen. Die Fehlentscheidungen gegen ein Tor sind speziell und noch etwas komplexer, so dass sie eine Präzisierung erfordern, was jedoch im Verlaufe des Textes erhellt werden wird. Dennoch gilt vorerst einmal diese Unterteilung: Entscheidungen für ein Tor beziehungsweise gegen ein Tor und jeweils (im Nachhinein anerkannt, von allen Urteilenden und/oder Beteiligten) falsch.
Wie ist nun die Wahrnehmung dessen, wie verlaufen anschließende Diskussionen darüber? Die hier aufgestellte These lautet so: Fehlentscheidungen, welche ein Tor ermöglicht haben, werden weit ausführlicher diskutiert und haben somit eine überdimensional hohe Wahrnehmung gegenüber jenen in die andere Richtung. Dies hat sowohl Ursachen als auch gewisse Folgen. Beides ebenfalls im Anschluss näher untersucht.
Es gibt zumindest zwei hier näher benannte Ursachen für die verstärkte Wahrnehmung von Fehlentscheidungen, welche ein Tor ermöglichen. Wobei man sich hier auch zum Teil auf Begründungen im psychologischen Bereich einlassen sollte.
- ein Tor, welches anerkannt wird, verändert tatsächlich den Spielstand und somit die Chancenverteilung. Ein fiktives Tor würde lediglich diese Möglichkeit einräumen beziehungsweise die nachteilig betroffene Mannschaft einer Verbesserung ihrer Chancen auf einen vorteilhaften Spielausgang berauben. Faktisch würde jedoch alles beim Status quo bleiben, falls ein anerkannter Fehler gegen eine Torerzielung vorliegt.
- Das intuitive Erspüren dieses hier angesprochenen Missverhältnisses, ohne selbiges je ausgesprochen oder gehört zu haben, sorgt dafür, dass die Fehlentscheidungen, welche ein Tor ermöglicht haben, wesentlich mehr betont werden, auch in der medialen Wahrnehmung. So schafft man ein inneres Gleichgewicht.
Zu 1):
Sofern ein Tor anerkannt wird, welches irgendeinen Makel hatte, gibt es die mehr oder weniger anerkannten Stimmen der Betroffenen, welche zumindest dezent darauf hinweisen: „Wäre ja vielleicht alles ganz anders gekommen, wenn…“. Die Empörung kann natürlich auch intensiver geäußert werden. Zugleich unterscheiden sich die Situationen und die Bedeutung derselben klarerweise ebenfalls. Selbstverständlich spielt der letztendliche Spielausgang eine Rolle sowie zugleich die Chancenverteilung vorher oder die Höhe der Favoritenstellung. Sprich also: wenn der Favorit ein inkorrektes Tor erzielt und dadurch gewinnt, sich dies aber möglicherweise sogar verdient hat durch eine im Spiel ausgestrahlte Überlegenheit, dürfte es geringer wahrgenommen werden als wenn ein krasser Außenseiter auf die gleiche Art gewinnt. Zugleich jedoch sei hier erwähnt, dass die Psychologie bei der Auslegung der Situation (also auch bei Anerkennung eines Treffers oder Verhängen eines entscheidenden Elfmeters) für eine Verschiebung der Fehlentscheidungen zugunsten der Favoriten sorgt, egal, welcher Bauart diese sind. Dies ließe sich übersetzen in: der Schiedsrichter entscheidet in vielen Situationen intuitiv, weil man gar nicht absolut eindeutig entscheiden könnte. Derjenige, der es mehr verdient hat, kann von dieser Intuition profitieren. Häufig genug wäre es so, dass es zwei, drei kritische Situationen im Strafraum gegeben hat, wo man bereits diskutierte, auch der Kommentator („war da was? Also einen Kontakt gab es…“ oder in der Art). Nun würde die dritte Situation eben nicht unabhängig, wie vielleicht „offiziell verlangt“, sondern aufgrund der vorherigen Situationen pro Stürmer ausgelegt. Selbst wenn dann die einzelne Situation gerade jetzt ebenfalls nicht eindeutig: keiner würde sich im Geringsten beschweren, also fällt es leicht, auf den Punkt zu zeigen.
Dennoch gibt es insgesamt ausreichend viele neutrale Fälle, bei welchen eben ein Tor erzielt wird, welchem im Nachhinein (teils auch direkt im Anschluss an den Treffer da die Wiederholungen es sofort deutlich machen) der Makel der Irregularität angehaftet wird.
Fakt ist nun, dass ein tatsächlich gegebenes Tor stets für die einhergehende Chancenverschiebung (nicht unerheblichen Ausmaßes) sorgt. Dies verstärkt einfach die Wahrnehmung (zusätzlich). „Wir sind verpfiffen worden“ mag man schon häufig gehört haben (auch im Amateurbereich, ohne jegliche Nachweismöglichkeit) aber auch zumeist milde belächelt, denn das wäre immer die „einseitige Wahrnehmung mit Rechtfertigungsversuch“ eines Verlierers. Sofern es jedoch nachweisbar so war, ist man ja gezwungen, dies zumindest so weit anzuerkennen (selbst wenn ein Spiel dann 2:0 endet und der Fehler jener war das 1:0 begünstigend, nur als ein Beispiel).
Ein Tor hat einen sehr hohen Wert, das weiß man einfach. Wenn es fälschlich gegeben wird, nimmt man es automatisch verstärkt wahr, vor allem bei den überwiegend engen Spielen und Spielständen im modernen Profifußball.
Umgekehrt sind jene Entscheidungen gegen Treffer in aller Regel komplexer. Selten, dass der Ball tatsächlich im Netz landet und wenn, könnte man häufig genug noch „nachlassende Gegenwehr nach erfolgtem Pfiff“ als Ursache anführen (beispielsweise: der Torhüter schmeißt sich gar nicht mehr, wenn er nur die hochgereckte Fahne an der Seitenlinie sieht; Ball drin; „na und? Den hätt ich mit der Mütze rausgeholt!“). Keineswegs weniger häufig sind Elfmeter, welche hätten gegeben werden müssen. Stets die Frage im Raum: wäre der überhaupt reingegangen? Chance, ok, sehen wir ein, aber nun mit einem Tor zu argumentieren? Nein, das ginge zu weit.
Ball drin, zählt, hätte nicht dürfen: der Fehler hat das Ausmaß exakt eines Tor. Abseits gegeben, war aber nicht, Ball drin oder nicht, und selbst wenn drin mit der Möglichkeit der (so unterlassenen) Abwehrchance, Elfmeter nicht gegeben, stets ist es weniger als ein Tor groß, der Fehler in die andere Richtung. Insofern allein schon wäre es ja berechtigt, über ein fälschlich anerkanntes Tor länger und ausführlicher zu diskutieren (Fehler exakt 1, sonst stets kleiner 1). Dennoch kann dies allein als Ursache nicht herhalten.
Deshalb zu 2):
Die hier vertretene These lautet derart, dass eigentlich jeder spürt, dass es ein Missverhältnis gibt. Viel zu häufig hört man „hätte Elfer geben müssen, hat er übersehen“ gegenüber dem „das war nie und nimmer ein Elfer, wurde aber so entschieden“. Um das eigene Gewissen ein wenig zu beruhigen – gilt natürlich vornehmlich für die Medienvertreter, welche so hauptverantwortlich für die anschließende Wahrnehmung in der Allgemeinheit sind; das gilt nicht nur bei derartigen Entscheidungen –, hebt man einfach die seltener auftretende Erscheinung etwas mehr hervor und schafft so einen intuitiven Ausgleich. Erinnerlich bleiben also sogar viel mehr jene Entscheidungen, welche ein Tor hervorgerufen haben, welches nicht hätte zählen dürfen. So wird jeder vermutlich ein Beispiel parat haben, in welcher eine derartige Entscheidung fiel. Zugriff hätte man keineswegs auf einen einzigen jener Vielzahl von Fällen, an jedem Wochenende, wo es denn im Anschluss hieß: „Das war ein klares Handspiel, das war ein Elfer“ oder „das Foul hier hat er großzügig übersehen“ oder hier eben einfach nur „hatte Mannschaft X Glück, dass der Schiri nicht auf den Punkt gezeigt hat“ genauso wie „da gibt es sicherlich auch Schiedsrichter, die hätten auf Strafstoß entschieden“ oder auch jene berühmte „fifty-fifty Situation“, welche dann jedoch kurioserweise (und unbemerkt) zu 100% gegen die Angreifer ausfällt. Auch häufig genug gehört: „ … hätten sich nicht beschweren können, wenn es Elfmeter gegeben hätte.“
All diese Sätze fallen in einer Art stacchato in jeder Zusammenfassung eines Bundesligaspieltages. In all diesen Fällen wird nicht etwa überbetont sondern vielleicht gar nicht erst betont. Dann aber der eine Fall in die andere Richtung: minutenlang geht es mit Stimmen von allen Seiten und einhergehender allseitiger Empörung darüber. So hat man das Gleichgewicht wieder hergestellt, jenes für die innere Balance. Irgendwas stimmt nicht aber auf diese Art gaukelt man es sich vor: mal so rum falsch, mal so rum falsch. Gleicht sich doch alles aus?
Dies sind zusammengefasst die wesentlichen Ursachen für das genannte Missverhältnis. Nur gibt es eben außer den Ursachen auch die Folgen: jeder Schiri kennt die irgendwann mal ausgerufene Maxime „… er ist dann gut, wenn man ihn gar nicht bemerkt.“ Das heißt also: wenn die Kameras auf ihn gerichtet sind, war es vermutlich umgekehrt. Er möchte dem Rampenlicht entkommen. Das geht nur so: Fehlentscheidungen vermeiden. Klar. Aber vor allem jene, welche ihn in das selbige befördern könnten. Welche Fehlentscheidungen wären dies? Nun, ganz offensichtlich: solche, welche ein Tor fälschlicherweise zulassen. Das bedeutet also: jeder noch so kleine Makel ist recht, um ein Tor abzuerkennen. Denn: sollte es umgekehrt sein, dass der auch noch so leiseste Makel im Nachhinein erkannt wird, welcher dem Schiri entfleuchte, werden lästige Fragen gestellt. Er im Rampenlicht, nein, das soll nicht sein. Also: finde den Fehler. Bereits in der Entstehung. Je näher der Ball dem Tor, umso kritischer wird die Lage und umso schwerer kann der Fehler wiegen. Also: lieber schon bei der Flanke das Stürmerfoul heraussuchen, egal, wie arg zeitgleich die Verteidiger gezogen und gezerrt haben. Der Stürmer hat was gemacht, das war deutlich (selbst wenn objektiv gar nur ein „sich wehren“), Pfiff – und alles ist gut. Kräht kein Hahn nach. Und sollte ein Reporter nur mal so fragen, über den Äther, sein eigenes Mikrofon, die Frage in die Welt setzen oder gar konkludieren „Ja, was war da eigentlich? Also ich hab nichts gesehen“ dann ist dem Schiri die Unerkanntheit dennoch gesichert. DAS wird man garantiert nicht nach dem Spiel zu eruieren versuchen.
Analog verhält es sich natürlich bei den hier argumentativ bisher weniger vertretenen Abseitssituationen. Man muss im Prinzip bei genauer und dauerhafter Beobachtung den Schluss ziehen, dass eine der wenigen Möglichkeiten, eine Abwehr zu bezwingen, in dem Steilpass (ein aussterbendes Wort; Sachverhalt bleibt unverändert, wird aber viel häufiger als „Pass in die Schnittstellen“ bezeichnet, oder auch „der vertikale Pass“, den Sprechenden so in einen höheren Verständnisrang erhebend) im richtigen Moment besteht. Nun ist dieser richtige Moment jedoch extrem knapp bemessen. Ohnehin schon aufgrund der wesentlich höheren allgemeinen Bewegung im gesamten Spiel (ständig anwachsend, sagen wir; alles geht immer schneller), aber zunehmend aufgrund der anwachsenden Aufmerksamkeit der Verteidiger. Sie wissen also ganz genau (zunehmend genauer), wann der richtige Schritt nach vorne zu machen ist und wann man lieber direkt zum Angreifer steuert um ihn aufzuhalten. Beides in antrainierter höherer und anwachsender Perfektion.
Nun ist es keineswegs so, dass die Angreifer dies nicht auch trainieren und dem etwa nachstünden. Nein, auch sie beherrschen das kleine Einmaleins sowie auch die hohe Rechenschieberkunst. Dennoch wird es nicht für sie leichter.
Zurück zur konkreten Beobachtung also: praktisch jede derartige Situation ist extrem knapp. Die Kameras werden zwar oft angehalten, bemüht „genau im Moment des Abspiels“, um Klarheit zu verschaffen, aber selbst jene ist eine Illusion. Es gibt keinen exakten Moment des Abspiels und somit auch keine gleiche Höhe (dies eher eine mathematisch-physikalische Erkenntnis, aber verifizierbar). Jede Situation ist also extrem knapp und die Auslegung ist keineswegs und jemals „zugunsten der Angreifer“. Sondern sie ist umgekehrt weit überwiegend zugunsten der Abwehrspieler.
Genau dies jedoch die Krux im gesamten Fußball, welcher hier erhellt und aufgedeckt werden soll. Es geht eigentlich permanent und alles gegen die Offensivaktionen.
Noch einmal zurück zum „exakten Zeitpunkt des Abspiels“: der Ball führende Spieler wüsste zwar häufig sehr genau, wann der richtige Moment wäre, nur ist er bereits von der (intuitiv erkannten) Art der Regelauslegung beeinflusst. Obwohl seine derartige Entscheidung ebenfalls intuitiv erfolgt könnte man den dahinter liegenden Gedanken dennoch so ausformulieren :“ Wenn ich jetzt abspiele, dann wäre es zwar perfekt, da ich aber die nervösen Arme des Mannes an der Linie bereits kenne, spiele ich lieber doch nicht ab; selbst wenn eigentlich perfekt: er reißt den Arm trotzdem hoch.“ So entgehen dem (neutralen, und das sollte eigentlich die Mehrheit sein, sofern das Spiel Fußball als solches attraktiv genug wäre) Zuschauer ständig noch weitere vielversprechende Angriffssituationen. Die Passgeber haben Angst, von einem Abseitspfiff „gestört“ zu werden, unabhängig davon, ob dies überhaupt die richtige Entscheidung wäre. Man muss nicht rechtzeitig abspielen sondern etwas zu früh, damit, falls der Pass überhaupt ankäme, die Fahne nicht hoch geht. Da die Abwehr jedoch dafür gerüstet ist (für das zu frühe Abspiel nämlich), klappt es so oder so nicht. Entweder Abseits oder das Zuspiel entbehrt das Prädikat, „tödlich“ gewesen zu sein. Etwas zu früh ist sozusagen deutlich zu früh, weil damit einfach kein Tor erzielt werden kann. Ein halber Schritt genügt – aber genau das ist nicht oder zumindest kaum zu erreichen.
Dass man zugleich vom ach so verständigen Sprecher dann auch noch die bösen Worte einfangen muss, dass der Spieler „hier den richtigen Zeitpunkt für das Abspiel verpasst hat“ kann einem, sobald man es verstanden hat, nur noch zusätzlich den Spaß verderben (ohne Internalisierung der skizzierten Sachverhalte: da verdirbt er einem den Spaß halt nur eindimensional, ohne das Beiwort „zusätzlich“).