Elfmeter! Das ist Strafstoß!
Allein diese Regel ist tatsächlich ein ganzes Kapitel wert. Oder ein eigenes Buch. Es ließe sich im Prinzip beinahe ALLES an den Elfmeterentscheidungen dieser Tage festmachen. Dringend anzumerken dabei, wie immer, dass eine Entscheidung gegen einen Elfmeter in einer zu bewertenden Szene, die als das Prädikat „kritisch“ hätte, welche durch einen nicht erfolgenden Pfiff fällt, ebenfalls als Entscheidung zu gelten hat. Jede Aussage, die im gesamten Text getroffen wird, geht ursprünglich auf den Elfmeter und seine Art der Anwendung/Auslegung zurück.
Trotz einer gehörigen anstehenden, vielleicht so nicht vermuteten Vielfalt der Versuch, die gesamte Problematik zunächst in Abschnitte zu unterteilen.
- Ein nicht ganz ernst gemeinter Rückblick auf Regelentwicklung, von damals bis heute
- Die Aufwertung der Torchance
- Handspiel – damals bis heute
- Für die Beurteilung zugrunde gelegt: nur die Aktion selber, nicht ihre möglichen Auswirkungen (war es eine Torchance? Welche Ausmaße?)
- Missverhältnis der Wahrnehmung: Fehlentscheidung pro Tor und gegen Tor
- Mögliche Folgen der konsequenten Anwendung der Regel
- Die Psychologie bei der Entscheidungsfindung
- Schlussfolgerungen
- Alternativen
1. Ein nicht ganz ernst gemeinter Rückblick auf Regelentstehung, damals bis heute
Regeln werden „in aller Regel“ aufgestellt für ein Spiel, um einen möglichst reibungslosen Ablauf zu ermöglichen sowie am Ende einen Sieger zu deklarieren, , dem eine Anerkennung zusteht, da er sich den Sieg, im Rahmen der Regeln erstritten, verdient hat. Regelverletzungen oder auch nur –übertretungen sind, allgemein gesprochen, unerwünscht (mehr dazu im Kapitel „Was ist eine Strafe?“).
Man könnte im Grunde festhalten, dass eine jede niedergeschriebene Regel auf einen Fall zurückgeht, bei welchem die gewählten Mittel erkennbar so nicht vorgesehen sind und den Geist des Spiels verletzen. Man könnte dies im Prinzip einen „Präzedenzfall“ nennen.
Einfaches Beispiel: man schreibt auf, dass Fußball ein Spiel ist, bei welchem der Ball mit dem Fuß gespielt werden darf, wie der Name es schon sagt. Wie auch immer der Rest dann aussieht, damit es zu einem Spiel wird (zwei Mannschaften, Spielfeld, zwei Tore etc., wie auch immer). Nun wird das erste Spiel ausgetragen und ein Spieler kommt auf die Idee, dass es mit der Hand doch viel einfacher geht und wirft einen Ball ins gegnerische Tor. Der erste Präzedenzfall: „So war das aber nicht abgemacht.“ Eine Diskussion entsteht, denn wie soll es nun weiter gehen? Die Entscheidung fällt, noch auf dem Platz: „Ok, Blau hat den Ball, der wird hingelegt an der Stelle des Handspiels, und Blau kann diesen unbehindert abspielen.“ Man notiert dies als Regel, damit in den folgenden Spielen, in welchen eine vergleichbare Situation stattfindet, auf die gleiche Art fortgesetzt werden kann.
Jemand spielt den Ball mit dem Knie. Was nun? Nein, das soll auch irregulär sein? Es ist doch aber schwierig, einen Ball mit dem Knie und dann auch noch gezielt und mit Schwung so zu spielen, dass er einen Mitspieler erreicht oder auch nur bei einem selbst bleibt? Nein, das mit dem Knie, das lassen wir durchgehen. Keine neue Regel erforderlich.
Kopf, Brust, Unterleib, Oberschenkel, sogar die Schulter wird gestattet. Einfacher Grund: einen ernsthaften Vorteil hat man erkennbar nur mit der viel geschickteren, geschulteren Hand. Mit dem Fuß geht, ist aber schon schwieriger. Alle anderen Körperteile: erhöhter Schwierigkeit, von daher eine Kunst, die es zu meistern gilt. Das wollen wir sehen. Wer beherrscht diese Kunst? Sieht jedenfalls toll aus, wenn jemand den Ball mit der Brust stoppt und direkt mit dem Fuß weiter verarbeitet, obwohl man rein intuitiv die Hände nehmen würde. Da ginge es nämlich ohne Probleme.
Am Ende stellt man fest: eigentlich müsste das so schön und neu erfundene Spiel einen ganz anderen Namen tragen. Einzig angängig: NICHT-Handball. Aber bleiben wir erstmal beim Fußball… und verlassen zugleich diesen Exkurs.
Oder führen leicht sprunghaft fort: Regel für Regel wird notiert, parallel wächst aber Ehrgeiz sowie Bekämpfungs- und Wettkampfcharakter. Die Spieler wollen eigentlich gar nicht die Regeln verletzen, beziehungsweise hätten gar noch das Gefühl, dass es nicht zu ihrem Vorteil gereicht, diese zu übertreten. Dennoch kommt vielleicht irgendwann der Fall vor, dass ein Stürmer sich den Ball in Tornähe gerade günstig zurecht legt, um ihn im Kasten zu platzieren, als ein Gegenspieler ihn, im Übereifer, erkennbar in die Parade fährt, ohne dabei den Ball zu spielen. Oder ein Schuss nimmt Fahrt auf Richtung Tor und ein Gegenspieler fährt, vielleicht gar nur im Reflex, den Arm aus und hält ihn in die Schussbahn.
Nun ist die Empörung groß. Was soll man tun? Das war ja fast schon ein Tor, was da verhindert wurde? Ein Freistoß, wie bei den vorherigen Regelverletzungen scheint gar nicht auszureichen, um die Aktion angemessen zu bewerten, den Angreifern keine ähnlich gute Gelegenheit zu bieten, ein Tor zu erzielen?
Nun kommt man auf die Idee: wenn eine Regelverletzung so nahe am Tor geschieht, gibt es einen freien Schuss aufs Tor, ohne Gegenspieler im Weg. Ja, das ist doch gerecht? Vorher eine Großchance, nun auch eine Großchance? Aus der Distanz von, hmm, sagen wir mal 12 yards, auf den riesigen Kasten — dessen Ausmaße schon zuvor vereinheitlicht waren – müsste doch eine Art von „fairer, angemessener“ Bestrafung sein? Nun nur noch die Frage: „Wie weit vom Tor weg darf die Aktion denn gewesen sein oder wie nahe am Tor muss es sein, damit…?“ Schon ist die Idee geboren: ein Strafraum muss her, um das Tor herum gezogen, in einer Distanz, aus welcher die Torgefahr ins Auge springt, insofern also ein Treffer quasi in der Luft liegt. „Nehmen wir sechzehn Meter?“ „Einverstanden, sechzehn, das klingt gut.“
Welche Regeln auch immer dabei nach und nach per Präzedenzfall niedergeschrieben werden: es wird allmählich ein ausgewachsenes Regelwerk. „Einer der Spieler darf Hand.“ „Ok, das ist vernünftig, schließlich ist der Kasten ja riesig.“ „Wo darf er Hand spielen?“ „Da haben wir doch schon einen Bereich? Den Strafraum?“ „Klingt auch gut. Nehmen wir. Warum sollte er auch überall dürfen? Nachher geht er einfach raus aus seinem Kasten und wirft drüben die Dinger rein. Nein, so geht’s ja nicht.“ Der Spieler mit den Sonderrechten wird schlicht und einfach „Torwart“ genannt. Er bewacht das Tor, mit den ausnahmsweise genehmigten und gar nicht so sehr dem Fußball verwandten Körperteilen : allen.
Wie auch immer dann die Entwicklung weiter ging: am Strafstoß wurde über die Jahrzehnte nie mehr gerüttelt. Vergehen im eigenen Strafraum, das kann nur dem Zwecke dienen, den Gegner an einem Torabschluss zu hindern oder, falls die Hand den Ball spielt, diesem eine Richtungsänderung zu verschaffen, welche die Torgefahr mindert oder eliminiert. Nein, dass ist nicht nur irregulär und unerwünscht, es ist zugleich eine strafbare Handlung, die ruhig als Strafe empfunden werden darf: „Tu das nicht, tu das nie wieder, das ist nicht gut, das hilft dir nicht und schadet der Mannschaft. Du verschaffst dem Gegner eine Torchance, welche fast entscheidende Ausmaße hat.“
Apropos nicht mehr rütteln daran: es kommt eine Zeit, in welcher die Stürmer plötzlich, von zunehmendem Ehrgeiz getrieben, gar von Erwartungen um sie herum betroffen, Geldbeträge zu gewinnen, Lohn zu kassieren oder zu erhöhen, Siegprämien zu erhaschen, neue Verträge, günstigere Bedingungen, Aufstiege und Meisterschaften zu gewinnen, dem Verein Einnahmen sichern, erkennen, dass man hier und da sogar mal ein Foul vortäuschen kann? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Vielleicht eine Berührung verspürt, aber nicht zwingend fallen müsste, es aber dennoch tut? Man stellt fest: tatsächlich ein Strafstoß als Lohn. Vielleicht wagt man gar, es noch einmal zu probieren?
Es kommt sogar eine Zeit, da die Schiedsrichter, zur Begrüßung und zwecks Wertschätzungsbekundung ein kleines Gastgeschenk erhalten bei ihrer Ankunft, und zwar vom Gastgeber? Es kommt zur gleichen Zeit vor, dass am nächsten Tag, dem Spieltag, das Schicksal dem Gastgeber über weite Strecken gar nicht hold ist und das Spielergebnis partout nicht mit den Hoffnungen und Erwartungen im Einklang steht. In jener Zeit, da lediglich ein paar Fotografen den Platz umsäumen und nicht eine einzige Filmkamera vor Ort ist, geschieht es vielleicht mal, dass ein Angreifer bereits beim Verspüren eines Luftzuges diesen schlichtweg als „Berührung“ uminterpretiert und diese höchst eigene Interpretation, getragen von den Fans, die vielleicht bei funzeligem Flutlicht und Nebel und der berühmten rosaroten Vereinsbrille auf der Nase dies mehr als eindeutig als klaren Elfer auslegen, per spektakulärem Sturz den Schiedsrichter in eine gewisse Richtung zu drängen versuchen und dieser dem allseitigen Drängen nachgibt? Die Empörung der Gäste findet lediglich einen kurzen Eintrag in die dort lokale Berichterstattung als „Skandalpfiff“ – und schon gilt Stepis „Läbbe geht weiter“. Denn die paar krähenden Hähne tun dies lediglich in der Landessprache. Was hieß gleich noch „Skandal“ auf Finnisch?
All diese Geschehnisse tragen dazu bei, dass irgendwie jeder weiß: der Stürmer möchte liebend gern gefoult worden sein, wohingegen der Abwehrmann beteuert, rein gar nichts Verwerfliches getan zu haben.
Nirgends ist die Diskrepanz größer als hier, beim Elfmeter. Schwalbe oder Strafstoß?
Weiter im „historischen Rückblick“: man registriert also allseits irgendwann, dass „Fallsucht“ Einkehr halten könnte und da man intuitiv weiß, dass die Stürmer stets gern den Elfer hätten, nimmt man urplötzlich jene ins Visier: das ist doch nun wirklich unsportlich? Es war gar nichts, kein Foul, nur ein Luftzug, und man möchte einen Elfmeter dafür bekommen? Nein, da gehört eine saftige Strafe her, eine Art „Denkzettel“ in gelb und das ja wohl das Mindeste?!
Die Zeiten ändern sich. Auf einmal rücken die in den Fokus, welche hinterhältig ein Foul an sich vorzutäuschen gelernt haben – und die Schiris oft genug überzeugen konnten, im Spiel, und mit der Tatsachenentscheidung einen Elfmeter, ein Tor, einen Sieg für ihre Mannschaft erschlichen haben, obwohl die Fernsehbilder oder ausreichend viele Umstehende, objektive Berichterstatter oder wer oder was auch immer zu dem recht eindeutigen Urteil kamen, dass er dafür keinen Elfmeter hätte bekommen dürfen. Nun sind auf einmal diejenigen geächtet, welche die Elfmeter „schinden“. Die Verlockung war groß, es zu versuchen. Anders kam man 80 Minuten lang nicht zum Torerfolg, vielleicht klappt es ja so? Der Erfolg gab ihnen recht – die Tatsachenentscheidung stand, ungeachtet der späteren Erkenntnis, dass es „gar keiner war“. Diejenigen, welche mit dem Finger auf einen deuteten und als „Schwalbenkönig“ titulierten, konnte man locker verkraften mit dem Sieg in der Tasche.
Die Zeit kommt, in welcher die Schiedsrichter, nach zu vielen ihnen nachgewiesenen Fehlern, in denen sie auf einen der Elferschinder reingefallen sind, plötzlich die Pfeife zwei bis drei Mal im Munde herumdrehen bevor sie – letztendlich sicherheitshalber doch lieber nicht hineinpusten. „Den wollte er“ und „der fiel mir ein bisschen zu theatralisch“ und „hier war ich mir nicht sicher“. Auf einmal bleibt die Pfeife sogar in Fällen stumm, wo sich die Experten im Anschluss ganz sicher sind, dass es einer gewesen wäre. Nur gab es ihn eben nicht, stattdessen sogar hier und da die hässliche Verwarnungskarte.
Die Abwehrspieler werden jedoch keineswegs dümmer in dieser Zeit, im Gegenteil lernen sie mit. Sie wissen plötzlich, dass fast immer sie auf der Gewinnerseite sind. Wenn also ein Stürmer vor/neben/mit ihnen fällt, dann wird dieser direkt energisch vom Abwehrspieler angegangen: „Wolltest du dafür etwa einen Elfer haben, du Schauspieler?“ Der Schauspieler ist er zwar selber und keineswegs ein guter, aber der allgemeine Trend (Stürmer = Betrüger) spricht für ihn. Gelb, mal wieder gelb für den Angreifer. Dieses Angehen des Stürmers hat sich bewährt und hat zugleich eine psychologische Ursache: die Stürmer werden geächtet, sie sind die „Schwalbenkönige“, sie hat man auf dem Kieker, die Schiedsrichter und auch die Medien, Zuschauer. Wenn der Verteidiger nun direkt auf den Stürmer losgeht anstatt nur mit einer abwehrenden Geste anzeigen zu wollen, dass er doch „rein gar nichts getan hat“, dann suggeriert dieses Angehen dem Schiedsrichter doch viel mehr, dass hier rein gar nichts vorlag, zumindest kein Foul seitens des Abwehrspielers, aber, falls doch, auf keinen Fall eines, welche eine Strafe in Form eines Elfmeters rechtfertigen würde?
Die Abwehrspieler lernen also, wie man „geschickt foult“, so dass es weder zum Foulspiel hinreicht, in der allgemeinen Beurteilung, noch ein Fallen des Gegenspielers rechtfertigt. War doch nur ganz minimal und zudem ganz kurz und fast unmerklich, die Behinderung? Dafür kann man doch nun wirklich nicht… Obwohl die kleine Behinderung genau so weit reicht, dass der Angreifer die Toraktion nicht kontrolliert zum Abschluss bringen kann. Fällt der Stürmer nun, trotz der doch nur so arg winzigen, aber ausreichend einschränkenden Berührung, dann heißt es „den wollte er zu sehr“. Fällt er nicht, dann gilt das als „einseitiges Schuldeingeständnis“. Dann kann es ja gar kein Elfer gewesen sein.
Auch die Stürmer „erlernen“ das richtige Fallen, gut, bitte schön. Die Berührung muss da sein, klar (sonst: „Gelbe Karte!“, unerbittlich!), und dann genau diesen Moment nutzen. Dabei ist es sogar egal, ob man überhaupt eine echte Torchance hätte. Den Ball vorbei legen, Bein einfädeln, zu Boden gehen, als ein Beispiel. Egal, ob man den Ball erreichen könnte. Nur ist auch diese Entwicklung als „Fehl-„ zu erachten. Zumal das Fallen einem gar angeraten wird, wenn man denn gefoult wurde. „Wenn er da fällt, bekommt er den Elfer“. Ist er aber nicht. Der Dummkopf. Oder tat er eigentlich nur das, was selbstverständlich sein müsste? Man fällt, wenn man fällt, weil man gefällt wird und nicht, weil man das „genau richtig getimte Fallen“ gelernt hat. Wenn man nun aber nicht fällt, weil man auf den Beinen bleiben könnte, dann wäre das noch lange kein „Fair-Play“. Es wäre nur „Unterlassenes-unfair-play“.
Und die Medien erst. Sie tragen dazu bei, mit allem, was sie tun und wie sie Situationen beurteilen, dass es einen „state-of-the-art“ gibt. So wird gepfiffen, so wird beurteilt, daran orientiert man sich, auch und vor allem Zuschauer und Schiedsrichter. Wenn das Urteil einhellig lautet, direkt nach der Aktion „für mich war das eher kein Elfer“ oder „das reicht nicht für einen Elfer“ dann war es hier keiner, dort keiner, dann auch nicht und gestern nicht und heute nicht und morgen noch viel weniger. Dass diese Urteile nicht „objektiv“ sind, sollte eigentlich nicht die Frage sein. Denn allein schon das „für mich war es keiner“ oder das „reicht nicht“ deutet an, dass es alternative Sichtweisen geben müsste/könnte.
In Zeiten, da Kameras jeden Schritt überwachen und die Schiedsrichter selbst bei jeder einzelnen Aktion auf diese Art „kontrolliert“ werden, gibt es keine Geschenke mehr und keine Art von Wohlwollen. Zumindest nicht zum Vorteil der Stürmer. Das sind diejenigen – nach derzeitigem Stand der Dinge –, welche den Elfer „schinden“ wollen und die Abwehrspieler sind die „Scheinheiligen“. Wenn überhaupt haben sie doch nur ganz kurz und unmerklich und fast sogar unbeabsichtigt… Dafür kann man doch nicht?
Wenn man konstatieren muss, dass Abwehrspieler immer genau so viel und grenzwertig Foul spielen müssen, dass es gerade so nicht reicht für einen Elfmeter, wohingegen die Angreifer genau im richtigen Moment zu Boden gehen müssen, um einen Elfmeter und keine gelbe Karte zu bekommen für einen Täuschungsversuch, dann kann es nur den einen Schluss geben: da ist was faul an den Regeln.
2. Die Aufwertung der Torchance
Es führt fast geradewegs zu dem ursächlich für die beschriebene Problematik verantwortlichen Phänomen. Stürmer UND Abwehrspieler UND Medienvertreter UND Zuschauer UND Trainer UND Schiedsrichter UND Schiedsrichterbeobachter wissen im Prinzip alle — wobei diese Art des „Wissens“ ein unartikuliertes, dementsprechend intuitives Wissen ist (während der vorliegende Text genau die Umwandlung des intuitiven ins bewusste Wissen einzuleiten versucht) –, dass im modernen Fußball fast jeder zuerkannte Elfmeter in einem Missverhältnis zur Torsituation steht, was die Größe der Torchance angeht, welche mit dem vermeintlichen, zur Diskussion stehenden Vergehen unterbunden wurde. Der Elfmeter – falls er denn verhängt würde –, wäre fast immer (mit seltenen Ausnahmen) eine gewaltige Aufwertung zur vorliegenden, mit Strafstoß zu bedenkenden Situation. Egal, wo dem Stürmer nun dieses leichte Zupfen, Zerren, Ziehen, Behindern widerfährt: er wäre längst noch nicht in einer Abschlusssituation aber selbst wenn, müsste es zunächst ein kontrollierter, zielgerichteter sein, noch dazu den Weg Richtung Tor finden aber wenn das alles gelänge auch noch jenen am Keeper vorbei ins Netz. Das sind in der Regel zu viele Hürden, um es allein schon eine „klare Torchance“ nennen zu können. Aber selbst wenn es diese Einstufung rechtfertigen würde (was ab und zu, aber eben auch selten, vorkommt), dann läge diese „klare Chance“ vielleicht noch immer nur bei 30% oder 40% Verwertungsprozenten, während der Elfmeter eher bei 75% liegt. Es gibt kaum eine größere und bessere Chance als den Elfmeter.
Diese Aufwertung der Torchance ist die Krux an der Sache. Alles bereits gesagt, die historische Entwicklung, das Verhalten der Abwehrspieler, die „Fallsucht“ der Stürmer, die abgeneigten Referees und Medienbeurteiler der Szenen, alles ist ursächlich darauf zurückzuführen, dass diese Aufwertung der angreifenden Partei irgendwie nicht zusteht. Von keiner Chance auf Riesenchance, warum sollte man denn? Nein, das tut man nicht „einfach mal so“. „Ach, ich dachte, der hätte den berührt, hat er gar nicht? Na, ich hab halt Elfer gegeben, warum denn nicht?“ Einen derartigen Gedanken würde man fast als absurd empfinden: „Der kann doch nicht einfach mal so auf den Punkt zeigen, nur weil er da entfernt was erahnt hat, was gar nicht stattgefunden hat?“
Deshalb gab es wohl vor der Saison 2016/2017 eine Anweisung an Schiedsrichter, die in etwa so gelautet haben müsste: „Einen Elfmeter nur dann verhängen, wenn man sich ganz sicher ist.“ Nur ist dies genau das falsche Zeichen. Denn „ganz sicher“ sind sich die Schiris nie. Es gibt immer eine Art und einen Hauch von Zweifel. Zumal die Abwehrspieler mit ihren Aktionen zwar sehr wohl Tore verhindern wollen, aber auf keinen Fall übertrieben und offensichtlich dazu foulen werden (es trifft für Handspiel in aller Regel genau so zu; Ellenbogen abgewinkelt, Arm nicht ganz angelegt, oder aus nächster Nähe getroffen: das reicht doch nicht für einen Strafstoß?).
- Handspiel – damals bis heute
Genau: das Handspiel. Soll an dieser Stelle ruhig separat unter die Lupe genommen werden. Der Arm und die Hand sind die einzigen Körperteile, mit welchem beim Fußball nicht gespielt werden darf . Falls man es doch täte, so wurde einst ins Regelwerk aufgenommen, gibt es dafür Freistoß, falls es im Strafraum geschähe lautet die Regel: Elfmeter. In den Regeln steht es so.
Natürlich auch hier der Grundgedanke: man will es nicht, man soll es nicht, es soll eine Strafe geben und in (eigener) Tornähe dürften diese doch nur dann eingesetzt worden sein, um eine große Torchance zu vereiteln, womöglich den Ball auf der Linie, einem Torwart gleich, abwehren, oder zumindest die Flugbahn Richtung Tor unterbrechen, den Ball mal auch nur leicht abzufälschen, dass er nicht den Weg ins oder Richtung Tor findet. Schändlich. Da bleibt nichts außer Strafstoß, den freien Schuss aus elf Metern, ohne Abwehrspieler im Weg. Das ist vielleicht angemessen, ab und an sogar zu wenig (wenn der Ball auf der Torlinie abgewehrt wurde?), aber wenn es zu viel wäre, dann wäre es noch immer gut so, denn warum nicht für ein Vergehen eine Strafe aussprechen? Vorher klein, die Chance, nun groß. Vielleicht lernt ihr Abwehrspieler ja daraus und vermeidet Handspiel? Selbst wenn dann mal ein Tor mehr fällt als es sonst würde, weil man „kleinlich“ die Hand lieber aus dem Weg nimmt, welch großer Schaden wäre entstanden? Ein Tor mehr – ein bisschen Freude mehr?
Die Abwehrspieler orientieren sich daran. Wenn du so blöd bist und im Strafraum den Ball mit der Hand spielst, musst du halt mit Konsequenzen rechnen, selbst wenn es nur eine ungeschickte Ballannahme wäre. Also strikte Anweisung an die Abwehrspieler, von Trainern und Mitspielern so ausgerufen: „Im Strafraum die Arme an den Körper. Sonst schadest du unseren Erfolgsaussichten.“ Klar: man hält sich daran. Wenn es mal jemand nicht tut, dann vielleicht sogar in der Absicht, ein Tor zu verhindern, eventuell das Risiko einzugehen?
Aber was war das denn? Der Ball ging an den Arm, dadurch nicht ins Tor oder Richtung Tor zumindest, aber der Schiedsrichter hat gar nicht gepfiffen? Oh, das ist ja günstig. Warum hat er denn nicht? Nun, wie man später erfährt, hat er es zwar gesehen aber nicht für strafstoßwürdig erachtet. Dann kann man es ja noch mal so oder ähnlich probieren? Mal schaun, was er nun dazu sagt?
Wie beim Foulspiel: es entwickelt sich auch hier in die Richtung, dass die Abwehrspieler „lernen“, wie man geschickt und unmerklich die Hand oder den Arm zu Hilfe nimmt und die Medien stimmen ein : „Das war für mich kein strafbares Handspiel.“ Sicher, er war dran, aber auch dafür kann man doch keinen Elfer geben? Dafür nicht, hierfür nicht und für so was erst recht nicht.
Die Ausreden, welche den Spielern „an die Hand“ gegeben werden, sind höchst vielfältig und gleichsam absurd. Hier ein paar der häufig vernommenen aufgelistet: „Aus der Distanz kommt er ja gar nicht mehr weg.“ Oder: „keine unnatürliche Handbewegung.“ Oder „im Fallen berührt er den Ball leicht mit der Hand. Nein, für mich kein Strafstoß. Da konnte er nichts dafür.“
Was den Berichterstattern dabei nicht aufzufallen scheint: seit sie diese oder ähnlich lautende Entschuldigungen liefern, gibt es zunehmend derart diskutable Szenen. Da müsste man doch drauf kommen können, dass da sehr wohl eine Art von „Absicht“ dahinter steckt? Die Arme können sich im Prinzip befinden, wo sie wollen. Wenn der Stürmer den Art abtrifft: selbst schuld. „Also ich konnte wirklich nichts dafür, dass du so schlecht zielst.“ Schlecht oder gut? In der Auswirkung schlecht, denn: weder Tor noch Elfmeter. „Gut“ wäre es nur dann, wenn es die dafür vorgesehen Strafe gäbe.
Noch absurder fast, wie heutzutage Flanken „verhindert“ werden. Man grätscht hinein, wenn man aber zu spät kommt als Abwehrspieler, dann nimmt man beide Arme über den Kopf. Das ist „natürlich“ nicht „unnatürlich“. Macht doch jeder so? Wenn der Ball nun gegen geht: nicht mein Problem. Der Schiedsrichter hätte eins, aber nur in der Theorie. Denn: er müsste die eigentlich doch harmlose Flanke (wann sind denn die Angreifer je in Überzahl und noch dazu ein paar hochgewachsene darunter, die ein Kopfballduell gewinnen könnten, den Ball Richtung Tor bekämen und dann auch noch am Torwart vorbei?) mit einem Strafstoß belohnen? Nein, das kann man doch nicht. Ein Tor „aus dem Nichts?“ Mache ich nicht, macht doch keiner. Kein Elfmeter, weiter spielen.
Der Schiedsrichter mit dieser Entscheidung „auf der sicheren Seite.“ Irrte er und es hieße später „da hat er ein klares Handspiel übersehen“, dann zuckt die Welt doch nur die Schultern. „Na und? Dafür war drüben zwei Mal KEIN Abseits…“ Gleicht sich doch alles aus. Und ist gar nicht erst ungleich geworden. 0:0, Schlusspfiff, alle zufrieden?! Hätte auch 2:2, aber was soll´s? Das soll´s: mehr Zuschauer, mehr Spaß, mehr Unterhaltung, mehr Gerechtigkeit, mehr Tore, mehr Freude.
- Wie groß war die Gefahr für das Tor, welche Art von Torchance wurde verhindert?
Jede Aktion im Strafraum, welche einer Beurteilung unterzogen werden muss („weiterspielen“ ist dabei auch eine Art von „Entscheidung“), steht zugleich für eine „Torchance“. Denn immerhin ist davon auszugehen, dass der Ball irgendwo in der Nähe ist und demnach auch in der Nähe des Tores. Zugleich ist zumindest ein Angreifer involviert oder aber, im Falle eines Handspieles, ein Ball auf dem Weg in die Gefahrenzone oder in Richtung Tor (Ausnahme wäre hier: ein harmloser Ball springt einem Verteidiger versehentlich und unglücklich an Arm oder Hand, bei der Ballverarbeitung oder einfach so, passiert schon mal) unterwegs. Das sind Szenen, welche in jedem Spiel, meist mehrfach vorkommen. Hier eine Möglichkeit, auf den Punkt zu zeigen, dort eine, hier für ein Foul, dort für ein Handspiel. Die angebotene „Lösung“ in aller Regel: weiter spielen. Nun gut, dies soll jedoch nicht (schon wieder oder immer noch) Thema sein.
Sondern vielmehr dieses: man sieht die Zeitlupenwiederholungen, aus allen möglichen Perspektiven, man hört dazu Stimmen, noch während des Spiels, in der Halbzeit, eines zugeschalteten Experten, eines Co-Kommentators, welche die Szenen auf ihre Art beschreiben. Jedoch selten bis nie wird je ins Kalkül gezogen, wie hoch die Torgefahr war. Nun mag dies ja laut „Justitia“ der richtige Weg sein, jedoch steht ja im Fußball (einem „Spiel“, wie es noch immer heißt, und es vielleicht doch in Ansätzen jenen Charakter erhalten sollte?) niemand vor Gericht. Man hätte also durchaus Spielraum bei der Entscheidungsfindung.
Die hier angebotene lautete derart: es werden ab und an Schüsse abgefeuert, auf denen überdeutlich das Wörtchen „Tor“ aufgedruckt ist. Es würde auch reichen – wie jeder an sich selbst feststellen kann, dass man kurz den Atem anhält, instinktiv, ohne es zu wollen, weil man einfach spürt, dass das ein Treffer werden könnte. Sei es gegen oder für die eigene oder in dem Moment emotional unterstützte (wozu auch ein neutraler Beobachter neigt; leider gibt es davon zu wenige…) Mannschaft: es riecht nach Tor.
Wenn nun einem solchen Schuss „zufällig“ ein Verteidigerarm in den Weg tritt, dann sollte das doch viel eher ein Elfmeter sein, als wenn ein orientierungsloser Ball sich in den Strafraum verirrt und dieser einem Verteidiger an den Arm springt, selbst wenn in Letzterem Fall das Urteil einhellig lautet: „Blöd, aber das war ein Elfmeter“, während es im Ersteren Fall oftmals heißt „das war keine unnatürlich Handbewegung. Kein Strafstoß!“. Sollte man da nicht einfach die ausgestrahlte Torgefahr mit einbeziehen? Würde man denn damit irgendjemandem Unrecht tun, das Gerechtigkeitsempfinden verletzen?
Dies gilt natürlich genau so für Foulsituationen. So sehr hier nämlich grundsätzlich das Pfeifen pro Angreifern angeregt wird, so sehr springt wieder und wieder eine bestimmte Szene als Ärgernis ins Auge, welche jedoch gemeinhin ganz anders als die vielen anderen häufig als „klarer Elfer“ identifiziert und sogar verhängt wird, welche es aus hiesiger Sicht nicht verdienen würde.
Diese wiederkehrende Szene sieht in etwa so aus: ein Angreifer dringt als Folge eines wohl getimten und sogar nicht durch Abseitspfiff gebremsten „tödlichen Passes“ in den Strafraum ein, hat nur noch den Torhüter als Gegenspieler – abgesehen von den hektisch nacheilenden Verteidigern; also Zeit ist weiterhin rar, zumal ein Verteidiger den geraden Weg Richtung eigener Torlinie einschlägt um dort das Unheil zu verhindern, mit guten Erfolgsaussichten –, entscheidet sich dafür, diesen auch noch „auszuspielen“, lauert auf den Moment, dass dieser zu Boden geht, spielt den Ball irgendwie an diesem vorbei und nutzt irgendein auf dem Boden befindliches Hindernis (in den meisten Fällen die Arme des Keepers), um darüber zu fallen.
Hier also meist Einigkeit: „das war ein klarer Elfer. Da ist der Kontakt, Ball nicht im Spiel: alternativlos.“ Hier wird jedoch so, und zwar gegensätzlich, argumentiert: es müsste für das Urteil eingebunden werden, inwieweit der Stürmer den Ball überhaupt hätte erreichen können. Denn: das interessiert ihn in dem Moment, da er ihn vorbei legt überhaupt nicht. „Hauptsache, der Tormann kommt nicht ran. Ich würde es zwar auch nicht, aber darum schert sich keiner. Hauptsache ich finde seine Arme oder irgendein anderes Körperteil.“ Das geschickte Fallen bereits angesprochen.
Es würde also durchaus in Frage kommen, bestimmte Szenen sogar gegen die Stürmer auszulegen mit dieser Methode. Hier könnte man dem Stürmer ganz klar unterstellen, dass er den Ball nicht hätte erreichen können und dies nicht mal für wichtig erachtete. Daraus geht im Prinzip klar hervor, dass es sich um einen „geplanten“ Täuschungsversuch handelt.