Dialog zwischen zwei Fußballfans
Also neulich hatte ich die Gelegenheit, einem Gespräch zwischen zwei echten Fußballfans beizuwohnen. Da mir selber gerade langweilig war und ich am Feierabend nur noch mein Bier genießen wollte, habe ich mir den Spaß gemacht, dem Gespräch zu lauschen. Und nicht nur das, ich hab es mir sogar gemerkt und aufgeschrieben. Und ganz ehrlich gesagt hat es mich auch ein wenig nachdenklich gemacht. Der eine war der Weltverbesserer, der Idealist, aber auch der ewige Nörgler. Der andere eher ein Repräsentant der Franz Beckenbauer Mentalität. Denn schließlich hat des Kaisers Wort hier und immerdar Gültigkeit, was da lautet: „Lossts den Fußboll wie er ist.“ Dafür durfte Letzterer, Freund Kalle — selbstverständlich vollkommen zurecht — in Anspruch nehmen, „alles über Fußball zu wissen“, „selber das Zeug zum Bundestrainer zu haben“ (damit kaum zu unterscheiden von ca. 20 Millionen anderer Bundesbürger) und noch dazu Stadiongänger und echter Enthusiast zu sein. Er hat sozusagen sein Ohr am Puls der Zeit. Alles, was die Medien ihm täglich zum Fraß vorwerfen, wird gierig verschlungen, heiß diskutiert, natürlich mit „seiner ganz eigenen Auffassung“, wie er meint, und in der nächsten Woche wieder vergessen, weil das nächste Thema vorgegeben wird und er will ja nicht hungern müssen, also frisst er wieder. Er heißt Kalle und kennt sie alle, noch dazu „sich einfach aus“, das merkt man sofort.
Ich kam gerade recht, um zu hören, wie der Weltverbesserer so eine These hervor brachte: „Ich möchte den Fußball spannender, attraktiver und gerechter machen.“ Ziemlich banal, wie ich fand, und ich hätte mich fast wieder meinem eigenen Boulevard Blatt gewidmet. Schließlich musste ich doch in Erfahrung bringen, wie nun wirklich Herthas Titelchancen waren. Ich lauschte aber noch der Antwort von Kalle, die mich überhaupt nicht überraschte: „Watt denn, is et dir nich spannend jenuch? Alle reden von der ´spannendsten Meisterschaft jemals´, die Stadien quelln über, die Medien sind voll von Berichten, fast jeden Tach een Spiel live, Champions League spannend, Ballack dabei, und da kieken imma n paar Millionen zu. Besser jeht do ja nich. Und du findest dit Spiel nich interessant jenuch? Na denn tuste ma leid. Und von wejen allet jerechter. Worüber solltn wan die janze Woche diskutiern, wennt nich ma hier und da ooch n kleenen Fehler jeben würde. Die Spieler machen Fehler, die Schiris ooch, is do janz normal.“
„Ich habe doch nicht gesagt, dass es nicht spannend ist. Es ist spannend, Es ist attraktiv. Aber es ginge vielleicht noch besser. Wenn ich einer Frau ein Kompliment mache, dann sage ich doch nicht nur ´Sie sehen aber toll aus heute´ sondern ich sage ´Sie sehn ja noch besser aus als gestern´, verstehst du? Sie könnte noch auf den Gedanken kommen, das erste Kompliment als Beleidigung aufzufassen. So nach dem Motto: ´Warum sagt er das gerade heute. Oder fällt ihm das jetzt erst auf? Was stimmte denn gestern nicht mit mir?´. Die Stadien sind voll, das stimmt schon. Aber wer weiß, wie voll sie noch sein könnten? Oder wie große man füllen könnte, wenn sie erst mal gebaut wären? Der Fußball boomt, das weiß ich auch. Aber wer weiß, wie viele Fans man noch gewinnen könnte? Jetzt gehen wir mal Punkt für Punkt durch. Bist du einverstanden?“ Kalle: „Na jut, wenn du eenen ausjibst hör ick mir allet an.“ „Ok, dann, zwei Bier bitte.“ zur Bedienung und „na gut, dann schauen wir mal der Reihe nach.“ zu Kalle.
Dann weiter: „Gegen das Anliegen, es spannender und attraktiver zu machen, kann doch erst mal keiner etwas sagen, oder?“ Kalle: „Nee, dit nich. Aber wer sacht dir, das, wenn man wat ändert an ner Sache die looft, dit man se nich schlechter macht? Aba jut, erst mal nischt dajegen, Wie sollt denn nu ´attraktiver´werden? Bin ick ja ma jespannt.“ Unser Idealist: „Na, erst mal kann man doch sagen, dass es einen Zusammenhang zwischen ´Attraktivität´ und ´Anzahl der Tore´ gibt, oder? Mehr Tore, mehr Spannung. Stimmt das oder stimmt das nicht?“
Erst mal kommen die Biere. „Na, wenn du mir nochn paar Biere ausjibst, sag ick bei allet ´det stimmt´. Aber so weit bin ick noch nich. Fußball is nur deswejen so spannend, weilt nich so viele Tor jibt. Wennde viele sehn willst, jeh do zum Eishockey oda Handball. Ick findet jut so, wiet is. Basta und Prost.“ Der Träumer trinkt zwar mit, lässt aber nicht locker. „Na gut, dann frag ich dich mal, an welche Spiele du dich am besten erinnern kannst. Sag mal, so, ganz spontan, ein Spiel.“ Kalle wirkt besänftigt, wohl auch durch das Bier, und lenkt ein. „Na jut, dit erste, wat mir einfällt, dit war Deutschland jegn Italien, bei der WM 70. Da war ick noch kleen und hab nachher jeheult, Ditweng fällts mir ein, gloob ick.“ „Ok“, sagt der Theoretiker, „aber nur mal so, zu meiner Erinnerung, Wie ist denn das Spiel eigentlich ausgegangen? Aber, brauchst du auch nicht zu sagen. Ich habs auch gesehen und nie mehr vergessen. Italien hat 4:3 nach Verlängerung gewonnen.“ Kalle, ein bisschen kleinlauter: „Na jut, dit warn sieben Tore, da is wat dranne. Aber ick gloobe, ick als Kind hab mir dit trotzdem nur jemerkt, weilt dit erste Mal war, son Drama.“ Unser Idealist wagt einen kleinen Einwand: „Und mit der Anzahl der Tore hats gar nichts zu tun, ja?“ „Nee, na jut, ick weeß nich. Aber dit war eben, weil erst die vorne, denn die andern und denn wieder die, die gleichen wieder aus, und denn doch wieder die andern, denn nochma Ausgleich, wieda hinten, und denn wart vorbei, deshalb wart so dramatisch.“ Ich spürte irgendwie, wie der kleine Träumer langsam die Oberhand gewann. Und sogar ich konnte dem Argument spielend folgen, als er sagte: „Ja, aber erst die einen vorne, dann die andern vorne, dann wieder Ausgleich und dann wieder die ersten, wieder Ausgleich, wieder die ersten, das geht nur, wenn sieben Tore fallen. Oder?“ Sicher habe ich’s beim zuprosten überhört, als er sagte: „Irgendwie haste Recht.“
Ehrlich gesagt hab ich das folgende kleine Intermezzo fast vergessen, aber irgendwie ging es um ein zweites, tolles Spiel, eins aus der Bundesliga, und einem der beiden fiel ein, dass es doch das Spiel Stuttgart – Werder, Saison 2003/2004 war, falls es nicht Schalke – Leverkusen, Saison 2005/2006 war. Die Ergebnisse der beiden? Also ich musste echt jetzt in mein Archiv schauen. Aber das eine endete 4:4, das andere 7:4. Kalle überbrückte mit einer Bierbestellung Aber eingefallen sind sie mir auch. Und Spannung und Dramatik musste man sich einfach merken. Lag es wirklich nur daran, weil so etwas so selten vorkommt? Ja, das schien mir logisch.
„Na jut“, hörte ich nun als erstes wieder Kalle sagen, „aber wie solln denn nun mehr Tore fallen? Jetzt fang mir aba nich an mit ´wir machen die Tore jrößer´ oder ´Abseits muß weg´ oder son Quatsch. Dit ham die Amis ooch probiert, daraus wird nischt. Vajiss et.“ „Nein, so wollte ich es wirklich nicht. Selbst wenn ich die Amis sehr schätze und achte, Die machen jeden Sport spannend, würden sie auch beim Fußball schaffen. Aber diese Ideen sind beide wirklich nicht gut. Alle Fußballtore auf der Welt umbauen? Da macht keiner mit. Und Abseits muss auch sein, wie man schon in Tests gesehen hat, Zumindest wäre die Veränderung weit mehr als ´minimal´ und die Auswirkungen nicht abzusehen. Alle Taktik, über 130 Jahre entwickelt, müsste man über Bord werfen., das Spiel beinahe neu lernen Alle Spieler, die jetzt schon groß sind und eine lange Ausbildung hinter sich haben, würden auch noch Sturm laufen. Nein, das meine ich nicht. Gefällt mir auch nicht.“ Kalle wird ungeduldig: „Na denn, schieß do ma endlich los. Watt willste denn nu machen?“ Der Weltverbesserer: „Nein, eigentlich ist mein Eingriff relativ klein. Mir würde es erst mal genügen, wenn man die bestehenden Regeln anwendet.“
Auch bei mir „saß“ dieses Argument irgendwie. Kalle musste sich auch erstmal sammeln für eine Antwort. „Wie, watt denn nu. Watt meinsten jetze. Die Regeln werden do wohl anjewendet, Watt denn sonst?“ Der Regelexperte war jetzt in seinem Element: „Ja, das denkst du. Ich bitte dich nur einmal ganz kurz über den Begriff ´elfmeterwürdiges Foul´ nachzudenken.“ Kalle atmet schon wieder hörbar durch. „Ach jetzt weeß ick, watte meenst. Haha, dit ham andere ooch schon jesacht. Du bist so eener, der bein kleenen Schubser glei Elfer jehm will. Nee, ditt looft nich. Da jibs zwanzich Elfer pro Spiel, Da ist nischt spannendet dranne.“ Der Regelfuchs bohrt weiter. „Klar, das weiß ich schon, Aber ich habe mir erlaubt, etwas weiter darüber nachzudenken. Und zwei Punkte möchte ich daran mal untersuchen. Der eine ist der — und mir wäre nicht klar, ob sich die Regeln da schon geändert haben — bei Foulspiel im Strafraum soll es laut Regel doch Elfmeter geben. Dass man von einem ´nicht elfmeterwürdigen Foul´ spricht, kann nur daran liegen, dass man es zwar als Foul erkennt, aber für so ein kleines Vergehen doch nicht die ´Höchststrafe´ Elfmeter aussprechen kann. Also eines ist dann klar: man weiß, dass ein Foulspiel vorliegt. Nur sieht die einzige dafür mögliche — und ich sag gleich dazu: derzeit verhängbare — Strafe einen Elfmeter vor, und diese Strafe erscheint einem, also auch mir, für so ein kleines Vergehen sehr hart. Man spricht sie also nicht aus, obwohl man laut Regel dazu verpflichtet wäre.“ Kalle wird wieder nachdenklicher. Er überspielt das mit Durst und einer weiteren Bierbestellung. Nur: diesmal übernimmt er die Rechnung und das auch noch freiwillig. Mein Gedanke dazu: Punkt geht an den Regelexperten, das sieht sogar Kalle ein.
Der Theoretiker übernimmt dann wieder das Wort, Kalle ist für den Moment ruhig gestellt: „Also wenn man die bestehenden Regeln anwenden würde — rein hypothetisch — dann ist zunächst mal klar, dass es bei derzeit gültiger Regelauslegung gewisse Regelverstöße gibt, die zwar erkannt aber nicht geahndet werden. Die Schwere des Vergehens reicht nicht aus für einen Elfmeter. Das legt eine weitere Überlegung nahe: es gibt Vergehen, die im Strafraum stattfinden, die eine andere Strafe als Elfmeter verdienen. Wenn ich in der Regelkommission säße, dann würden mich persönlich Traditionen oder Einschätzungen wie ´das war schon immer so´ absolut nicht interessieren. Ich würde dann tatsächlich einen Vorstoß wagen und die Herren Experten mal fragen, ob sie sich auch vorstellen könnten, dass man für kleinere, ´nicht elfmeterwürdige´ Vergehen des Verteidigers am Stürmer nicht doch eine alternative Strafe vorsieht. Wenn ich nur mal, wie beim brainstorming, zwei spontane Ideen nennen dürfte: eine kurze Ecke oder einen freien Schuss aus 16 Metern anstatt der bisherigen 11…“ Nun taut Kalle wieder auf. So schnell lässt er sich nicht unterkriegen. Außerdem: wenn man in die Enge getrieben werden soll, dann packt man manchmal auch nach dem dünnsten Strohhalm. Kalle also: „Hehe, eben sachste mir, du willst keene Rejeln ändern, jlei im nächsten Moment kommste mitn Vorschlach, watt man doch ändan müsste. Du weeßt wohl ooch nich, watte willst.“
Diesmal nutzt der Weltverbesserer das gebrachte Bier zum Zuprosten und die Gesprächspause, um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen: „Nein, schau mal: vorsorglich habe ich ja von zwei Punkten gesprochen, die dabei zu untersuchen wären, wohl wissend, dass du dich an dieser Stelle gleich auf Fehlersuche begibst. Ich sprach von Anwendung der bestehenden Regeln, als ausreichende Veränderung, um das Spiel attraktiver zu gestalten. Du konntest mir so weit zustimmen, dass es kleinere Vergehen gibt, die man – also auch der Schiri — als Foul erkennt, die aber aufgrund der Tatsache, dass es nur eine mögliche Bestrafung — nämlich den Elfmeter, und der erscheint einem zu hart – gibt, geflissentlich ´übersieht´, ignoriert. Das führte mich zu der Überlegung – und das ist also der versprochene Punkt zwei –, was würde denn passieren, wenn man sie doch, und zwar ´Regel gerecht´ bestraft? Die Regel sieht Elfmeter vor, der Schiedsrichter entscheidet nach Regel und gibt den Elfmeter. Keiner könnte sich beklagen, beschweren oder meckern. Der Schiri sagt, im Interview nach dem Spiel: ´Ich habe das leichte Behindern als Foulspiel gesehen. In der Regel steht bei Foulspiel Elfmeter. Also gab ich Elfmeter.´ Auch dieses Interview ist nicht beendet: ´Verstehen Sie denn die Stimmen, die von einer zu harten Entscheidung sprachen?´ Antwort des Pfeifenmannes: ´Sicher ist die Strafe hart. Der Angreifer, der gefoult wurde, befand sich ja nicht direkt in einer Schussposition und das Foulspiel hat auch keine Torchance von der Größenordnung eines Elfmeters verhindert. Ich bin aber nicht dafür zuständig, wie die Regeln gemacht werden und welche Regeln es gibt, ich bin dafür da, die bestehenden Regeln anzuwenden und nichts anderes. Das habe ich getan.´ Auch dieser Frager wird bei dieser geschickten Wortwahl zum Schweigen verurteilt.
Nun könnten meinetwegen die Regelkommissionen – so, wie oben beschrieben – tätig werden. Aber ich frage dennoch nach deiner persönlichen Einschätzung. Und die Aufgabe ist nicht wesentlich schwerer als die Frage nach dem 1 plus 1: Was, lieber Kalle, wäre die dramatische Folge, die uns alle erschaudern lässt, wenn der Referee auch bei den kleineren nicht elfmeterwürdigen´ Foulspielen auf Elfmeter entscheiden würde, so, wie es die Regel vorsieht?“ Kalle nahm erst mal, zwecks Zeitgewinn, einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. Dann aber kam doch die verblüffende Antwort: „Erstma dacht ick, zwanzich Elfer, wär do normal, hat ja Berti Vogts schon jesacht. Aber ick hab jetze mal echt nachjedacht. Ick gloobe, die würdn uffpassen, die Vateidija, dett se keen Elfer vaursachen.“
Auch ich war schon fast so weit, mich auf dieses Ergebnis einzulassen. Ich zählte noch mal schnell 1 und 1 zusammen und merkte, dass da was dran war. Das ist wie das gebrannte Kind und das Feuer. Man hat einmal am Trikot gezogen, den Stürmer einmal gerempelt, ohne größere Not, einmal beim Kopfballduell den Gegenspieler runtergedrückt, einmal den Körper unrechtmäßig dazwischen gestellt. Die Erfahrung lehrt einen dann sehr schnell: Autsch, wir haben einen Elfer kassiert, wir haben ein Tor kassiert, wir haben verloren. Nächstes Mal bitte vorsichtiger in dem Duell, lieber wegbleiben als Attackieren. Die Folge, die ich mir daraus ausmalte: mehr Torchancen. Vielleicht sogar mehr Tore? Womöglich doch mehr als zwei Spiele, die ich mir in 5 Jahren merken kann? Sollte das möglich sein? Wie hat eigentlich Hertha letzte Saison gegen HSV gespielt? Ach ja, 0:0. Von wegen, hehe, daran erinnere ich mich gut. Erst mal stand ich im Stau, dann kam ich zu spät und dann auch noch son Grottenkick. Zurück war wieder Stau und ich hab die halbe Sportschau verpasst. Von wegen, man erinnert sich nur an torreiche Spiele…
Und fast kam es mir so vor, als hätte ich selber schon weiter gedacht. Was war eigentlich mit Handspiel? Mir gingen auch schon wieder hundert zurückliegende „Ärgernisse“ durch den Kopf, die nicht nur ich sondern auch die geliebten Berichterstatter in der Sportschau „aufgedeckt“ hatten und wo es immer wieder hieß: „Hier hätte er einfach auf Strafstoß entscheiden müssen.“ Jeder hatte es gesehen, sicher auch der Schiedsrichter. Aber er hat eben dennoch keinen Elfer gegeben. Mir selber fiel sogar ein, dass ich in dem Zusammenhang schon mal den Ausdruck „eine mutige Entscheidung, hier Elfer zu geben“ gehört hatte. Und als die Formulierung wiederholt verwendet wurde begann ich, darüber nachzudenken. Warum spricht man eigentlich von mutigen Entscheidungen? Warum ist es mutig, einen Elfmeter zu geben? Aha, schloss ich, mutig ist es, ihn zu geben. Feige ist es also, keinen zu geben? Ich weiß auch, was ich noch dachte: “Mutig” kann es nur heißen, weil die Gefahr besteht, dass die Kameras aufdecken, dass es keiner gewesen wäre. Und dann hätte man das Spiel durch einen solchen Fehler entschieden. Man wäre schuldig, der Sündenbock. Und das will doch keiner.
Sogar der Regelfuchs hatte ein Beispiel parat, an dass ich mich selber gerade gut erinnern konnte: „Hast du gesehen, am Wochenende, bei Hannover – Frankfurt, zwei klare Elfer nicht gegeben. Aber über den ersten will ich gar nicht reden. Mir ist egal ob er angeblich ´die Aktion nicht gesehen´ oder aber nur ´die Aktion nicht richtig beurteilt hat´. Er gibt keinen Elfer und hat nichts zu befürchten. Aber bei der zweiten Aktion, als das Foulspiel klar, und zwar etwa einen halben Meter innerhalb des Strafraumes stattfand und er auf Freistoß außerhalb des Strafraums entschied, darüber muss man doch mal sprechen dürfen.“ Kalle meinte: „Ja, dit hab ick ooch jesehn. Hätta aba Elfer jeben müssen, wa?“ „Ja, klar, du sagst es, ich sag es, die Berichterstatter sagen, auch der Schiri selber, wenn man ihn fragen würde, würde sagen, dass es innerhalb war. Aber er hat nicht Elfer sondern Freistoß, außerhalb also, gegeben. Das Problem hier offensichtlich: wenn man eine Chance sieht, dann ´verlegt´man den Ort des Vergehens nach außerhalb, sogar, wenn es so deutlich ist, wie da. Und weißt du, was die Konsequenz ist?“ „Nee, watt meinsten jetzte mit Konsequenz?“ Regelfuchs: „Na, ich sag es dir einfach: Er kriegt ne Schiri Note von 4, mit der Begründung ´einmal hätte er Elfer geben müssen´. Und nächste Woche pfeift er wieder.“ Der arme Mann muss sich als mit einer so schlechten Benotung wie einer 4 abfinden. Mir tat er beinahe für einen Augenblick leid. Da hätte man doch Milde walten lassen können?
Kalle aber nimmt den Ball wieder auf: „Na und, watt denn ooch sonst? Wir ham ja nurn paar Schiris. Mach du do den Job, denn wern se alle uff dir rumhacken. Oder meenste, wejn son kleen Fehler soll man die Pfeife glei sperrn lassn? Außadem, kiek ma. Dit Spiel is Unentschieden ausjejangn. Und dit hat do keen von die beeden weh jetan.“ Ich begann, den kleinen Experten allmählich lieb zu gewinnen. Er hatte auf alles eine Antwort. So auch hier. „Nein, ich meinte ja gar nicht, dass man ihn sperren lassen sollte. Ich sag dir nur den Grund, warum er den Elfer nicht gegeben hat. Und das lag nicht daran, dass er glaubte, das Foul hätte außerhalb stattgefunden. Er gibt keinen Elfer, weil ihm nichts passieren kann. Die Strafe, die er bekommt, ist eine 4 Damit kann er leben, Seinen Job kostet es ihn sowieso nicht. Er trifft eine Entscheidung, mit der, wie du auch schon richtig sagst, ´alle leben können´. Aber er trifft nicht die Entscheidung, die die Regel vorsieht. Und er trifft auch nicht die Entscheidung nach dem, wie er die Situation gesehen hat. Er trifft die Entscheidung ´des geringsten Widerstandes´. Keiner ist ihm böse, eine 4 im Zeugnis, Versetzung nicht gefährdet, nächst Woche mach ich’s wieder so, ganz einfach.“
Nun wurde Kalle wieder mutiger: „Na denn, watt jibs denn nu daran zu meckern? Keener sacht wat, alle sind zufrieden, aber du hast wieda wat zu knurren.“ Der Theoriefanatiker ist aber auch nicht klein zu kriegen. Er erwidert: „Ich habe eine Beobachtung gemacht, und diese gleiche schon wiederholt. Dann habe ich mir meine Gedanken dazu gemacht und zum Schluss habe ich die Gedanken ausgesprochen. So weit kann ja noch kein direkter Schaden angerichtet sein. Ob gemeckert oder nicht. Aber ich erzähl dir jetzt mal ein kleines anderes Beispiel, was letzte Saison in England mal passiert ist.“ Kalle: „Na jut, ick höre.“ „Es spielte Liverpool – Chelsea. Liverpool führte mit 1:0, und das auch noch verdient. Dann gab es eine unklare Situation im Strafraum von Liverpool. Ein Chelsea Mann fiel hin. Der Schiri gab Elfmeter.“ Kalle ist wirklich weit rumgekommen und interessiert sich tatsächlich auch für englischen Fußball? Ich war verblüfft (der Grund fiel mir dann doch noch ein: klar, es war Chelsea, bei Chelsea spielt Ballack, Ballack ist Deutscher, da berichten sogar die deutschen Medien mal darüber), aber er hakte ein: „Ja, dit hab ick sojar ooch jesehn. Der Elfa warn Jeschenk. Dit war nu wirklich keener.“ Freund Regelexperte: „Genau. Das war keiner. Das hatten sie schon nach der dritten Zeitlupe sicher raus. Aber er wurde gegeben. Der Elfer war drin, das Spiel endete 1:1. Und weißt du, was mit dem Schiri passierte.“ Kalle: „Nee, hab ick nischt jehört.“ Der Weltverbesserer: „Es gab einen Riesenskandal und der Mann wurde für zwei Monate gesperrt.” Kalle schüttelt den Kopf, wirkt nachdenklich. Der Kollege spricht weiter: “Da siehst du, was einem passiert, wenn man es umgekehrt macht. Elfer geben der keiner war.“
Kalle lehnt sich zurück und sinniert, glaubt man kaum. Auch mir schossen ein paar Gedanken durch den Kopf, was der Weltverbesserer da wohl mit sagen wollte. Und so sehr ich mich gegen den Gedanken wehrte, er war nicht mehr weg zu bekommen. Kalle bestellte mal wieder ne Runde, diesmal sogar für mich mit, weil er bemerkt hatte, dass ich so aufmerksam lauschte. Und übernahm wieder, aber irgendwie verändert: „Ick weeß nich, aba dit der jesperrt wurde, wußt ick no janich. Den Elfer durfte man nich jehm, keene Frage. Liverpool wurden ooch zwee Punkte jeklaut. Aba wo er Bayern mal keen Elfer jejehm hat, stand do letzte Woche inne BILD, hat er ooch zwee Punkte jeklaut. Ham se jenau untersucht, wem wie vülle, und Bayern warnt siehme insjesamt. Ick vasteh schon. Dit war ooch ne ´zu harte Strafe´, den zu sperrn.“ Der Idealist war jetzt richtig auf dem Vormarsch: „Ja“, sagt er, „aber nicht nur, dass die Strafe gegen einen Schiedsrichter für einen Elfer, den man gegeben hat und der nachweislich nicht berechtigt war, eine Sperre ist. Überleg mal, wie a) die anderen Referees die Woche danach gepfiffen haben und wie b) der Mann nach seiner ´Begnadigung´ weiter gemacht hat. Das geht jedem in Fleisch und Blut über. Du kannst alles abpfeifen oder alles durchgehen lassen, was und wo immer du willst. Nur eines darfst du nie, niemals und unter gar keinen Umständen tun: ein Tor geben wenn’s keines war, entsprechend keinen Elfer geben, wenn’s keiner war.“
Nachdem das Bier gekommen war und auch ich mit „in die fröhliche Runde“ einbezogen war, setzte Freund Regelfuchs wieder fort: „Wer erinnert sich denn noch an das Spiel Werder – Dortmund, letzte Saison?“ Tja, und obwohl Kalle nun wirklich alles weiß, es fiel ihm nicht ein. Ich war sowieso nicht der Richtige, um befragt zu werden. Aber als der Theoretiker fortsetzte: „Na, es war so, dass das Spiel und das Ergebnis aus einem bestimmten Grunde eine Regeldiskussion in Gang gesetzt hat.“, konnte immerhin Kalle wieder den Ball aufnehmen: „Ach, jetz weeß ick wieda, da hat Werder n Tor jemacht wat keens war, oda?“ Als auch mir dämmerte allmählich, dass da mal ´irgendwas´ war, setzte er fort: „Ja, das stimmt. Werder hatte ein Tor erzielt, welches eindeutig als Abseits identifiziert wurde. Und nicht nur, dass das bedauerliche Missgeschick in der anschließenden Sportschau schamlos ´aufgedeckt´ wurde, nein, für besonderes Aufsehen sorgte, dass die Wiederholung des Tores verbotenerweise im Anschluss an das Tor auf der Videoleinwand zu sehen war. Das haben alle, Zuschauer und andere Beteiligte gesehen, auch der Schiri selber war öffentlich ´düpiert´. Herr Merk, unser Topmann, hat anschließend ein paar Bemerkenswerte Worte vom Stapel gelassen. Er hatte sich das sogar zum Anlass genommen, ein 30-seitiges Papier beim DFB einzureichen, in welchem er vehement den Videobeweis einforderte, mit einem Vetorecht für beide Seiten plus den Schiri selber, welche dann sofort von einem unabhängigen Gremium zu beurteilen wäre.“
Und Kalle hakte ein, war jetzt wieder als echter Experte am Drücker: „Na son Quatsch, jetz weeß ick wieda. Videobeweis und der janze Blödsinn taugt janischt. Ham schon andere vorjeschlagn. Und ick weeß ooch den Grund, warum ditte nischt wern kann. Fußball looft deswejen so jut, weilt so einfach is und weil alle mit de selben Rejeln spieln könnn. Bei de Amateure und de Profis. Und dit muss ooch so bleihm. Sonst jibts bald so ne Kluft und zwee Verbände, denn wie beim Boxen, wo do jar keener mehr durchblickt, wer isn Weltmeister und wo drinne. Nee, dit kannste jetz nich Ernst meinn, son Blödsinn.“ Aber unser Weltverbesserer hatte, wie gewohnt, auch hier, wie ich fand, die passende Antwort parat: „Na, hab ich schon gesagt, was ich da für richtig halte und was ich da machen würde?“ Und Kalle musste mit (Bier-)Schaum vorm Mund zugeben: „Nee, hattste nich. Jetz sach schon, watt meinst du denn?“ Und der Regelexperte setzte fort: „Na, erstmal bemerkenswert, dass Herr Merk ausgerechnet ein so langes Papier verfasst, nachdem er ein Tor anerkannt hatte, was keines war. Ich hatte die Wochen, Monate und Jahre so viele Szenen gesehen, wo die Kameras hinterher eindeutig ´Handspiel´, ´kein Abseits´ oder auch ´klarer Elfer´ bewiesen hatten. Jede Aktion davon hätte mit recht hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Tor geführt, wenn es nicht, wie bei Abseits oftmals, sogar schon ein sicheres Tor war, was aberkannt wurde. Aber nach solchen wiederkehrenden Szenen und Fehlern hat weder jemand ein 30-seitiges Papier, noch ein einseitiges. Es wurde gar kein Papier verfasst. Es geht einfach so durch. Alle sind sich einig: es war ein Elfer, er wurde nicht gegeben, es war ein Tor, es hätte zählen müssen, dann kommt die nächste Szene und die gleiche Aussage. Und dann ´kräht kein Hahn mehr danach´. Alle entschuldigen die Tomatenschiris später mit ´na, war auch schwer zu sehen´ und so weiter. Aber wenn, wie geschehen, ein Tor zählt, was nicht hätte zählen dürfen, oder ein Elfer gegeben wird, der keiner war, wie bei Chelsea – Liverpool,…“
Ich merkte allmählich, worauf er hinaus wollte und meldete mich selber mal zu Wort: „Ach jetzt verstehe ich. Sie meinen, ein Tor, was nicht gegeben wird, sorgt für kein Aufsehen, eines, dass gegeben wird, obwohl es nicht hätte zählen dürfen veranlasst sogar unseren Topschiedsrichter dazu, eine Regeländerung einzufordern. Hatte Herr Merk nach dem Spiel nicht sogar von seinem ´schlimmsten Fehler der letzten 10 Jahre´ gesprochen?“ Unser Experte war echt überrascht, dass ich mich an so etwas erinnerte. Aber das hatte mich damals auch schon beschäftigt. „Ja“, setzte er fort, „und genau das ist es, was ich eigentlich mit diesem Beispiel sagen wollte. Es war der schlimmste Fehler der letzten 10 Jahre. Sicher, ich verstehe schon, dass es ihm besonders weh getan hatte, dass jeder, auch er selber, das auf der Videoleinwand sehen konnte. Das muss man schon mitzählen. Aber dennoch: Der Topmann spricht von diesem ´schlimmsten Fehler´. Und auch da die Frage nach der Konsequenz: was glaubt ihr, wie die Schiris in der Woche danach entschieden haben, wenn es zu einer unklaren Szene kam?“
Kalle war irgendwie in sich versunken. Ich versuchte ein weiteres Mal mühsam, 1 und 1 aufzuaddieren. Ich kam so ca. auf 1.9, denn ich hatte ein bisschen von meinem Bier verschüttet, also nicht ganz zwei getrunken. Aber dennoch hatte ich einen Vorschlag, versetzte mich sogar in einen Schiri hinein: „Ja, also wenn ich Schiri wäre, dann würde ich bei einer unklaren Situation einfach auf Abseits, nicht Tor und auch nicht Elfer entscheiden. Da bin ich fein raus. Sonst muss man ja das Schlimmste befürchte. Sperre oder Deutschland weite Schande und Schmährufe. Und dann noch 30 Seiten darüber schreiben. Wird n bisschen üppig. Kein Tor, kein Foul, kein Elfer, aber Abseits, ich bin dabei! Macht jeder so, verstehe.”
Der Regelfuchs hatte uns anscheinend da, wo er uns haben wollte. Wir fraßen ihm quasi aus der Hand. Er hatte weitere Erklärungen parat: „Wisst ihr, dass es etwas mit Psychologie zu tun hat, ja?“ Wir waren bereitwillig und nickten zustimmend. Also fuhr er fort: „Gut, der Weg des geringsten Widerstandes´ ist euch auch ein Begriff, nehme ich mal an?“ Weitere Zustimmung. „Ok“, fuhr er fort, „dann hat man den ersten Teil der Erklärung schon akzeptiert. Der Referee pfeift so, dass er möglichst wenig Gegenwind bekommt, die Entscheidung ist zu treffen, bei der am wenigsten Schelte bekommt, die Entscheidung, mit der alle noch leben können, die, wo er nicht gleich gehängt wird. Und es ist offensichtlich die, welche kein Tor zulässt.“
Ja, tatsächlich, wir konnten uns nicht mehr wehren, Nicken, Zustimmung allenthalben.
Jetzt war er gar nicht mehr zu bremsen: „Ok, eine Abseitsentscheidung, bei der man eventuell hinterher sagt `ja, es war zwar kein Abseits, hier irrte er sich, aber es war wirklich haarscharf und schwer zu sehen, kein Vorwurf an den Assistenten´ ist vollkommen d´accord. Eine, bei der man die Fahne unten lässt, das Tor fällt und hinterher wird nachgewiesen, dass er es hätte anzeigen müssen, es war Abseits, genauso haarscharf, aber diesmal ´off´“ — hier erklärte er uns noch schnell, dass es im englischen die Regel „Offside“ für Abseits gibt, dass man aber ein Gegenteil dafür als Wort parat hat, im Gegensatz zum Deutschen, welches da lautet „Onside“ – um fortzufahren: „dann wird ihm der Kopf abgerissen. Er hat das Spiel entschieden mit diesem Fehler, solche Fehler dürfen einfach nicht passieren und es werden gleich neue Regeln ausgearbeitet, abgesehen davon, dass er um seinen Job fürchten muss wegen einer solchen Katastrophenentscheidung. Also merkt er sich eines: wenn es nur die geringste kleine Möglichkeit gibt, dass ein Spieler doch abseits gewesen sein könnte, dann reiße die Fahne hoch. Passiert mir nix, das ist sicher.“
Merkwürdigerweise konnten wir beide plötzlich spielend folgen. Aber er „hatte noch nicht fertig“: „Das gleiche gilt für Elfmeterentscheidungen. Wenn du als Schiri nur den leisesten Zweifel hast, dass eine Aktion, die man eigentlich überall als Foulspiel erkennen würde diesmal, da sie im Strafraum stattfindet, kein Foul sein könnte, dann gib keinen Elfmeter. Es passiert dir nix, außer, dass du vielleicht ne 4 bekommst.“ Ja, ja, ja, also weiter: „Auch da gibt es eine zweite Rechtfertigung, die man auch ohne Nachdenken, also intuitiv, trifft, aber wer einmal darüber nachgedacht trifft sie trotzdem so. Und diese Begründung lautet so: ´den Elfer wollte er haben.´ Es ist auch die Wahrheit. Der Elfmeter ist so ziemlich die größtmögliche Torchance. Also würde man als Stürmer praktisch jede Situation liebend gerne gegen die Elfmetersituation eintauschen. Selbst, wenn man ganz alleine auf den Torwart zuläuft und noch von hinten umgegrätscht wird, man auch den Elfmeter dann bekommt, aber selbst dann hat man meist ´einen guten Deal gemacht´. Die Elfmeterchance ist die Topchance im Fußballspiel. Nur ein Feldspieler, der auf der Linie Hand nimmt hat eine noch größere Chance verhindert. Aber der soll ja, laut Regel, auch ´marschieren´. Es sei denn, er heißt Christian Wörns, spielt für Deutschland in einem WM-Viertelfinale, gegen die USA und mit dem Gegentor wäre Deutschland raus. Dann kann der Schiri schon mal beide Tomaten auf den Augen lassen und sie noch dazu beide zudrücken. Aber das gehört nun wirklich nicht hierher. Also im kleinsten Zweifel: keinen Elfer und kein Tor geben.“
Bei mir zumindest schlich sich so eine ganz leichte Depression ein. Ich hatte Fußball irgendwie über viele Jahre normal verfolgt, war jeden Sonnabend gespannt auf die Sportschau, diskutierte auch immer brav mit, wenn es mal wieder um „Schwalbenkönige“ und „Notbremsen“, Trainerentlassungen oder die Verrohung der Sitten auf dem Platz ging (ein Skandal übrigens, dass Tim Wiese ins Mikro brüllt: “Sch… HSV“, nicht wahr?), ich war dabei und hatte ganz artig und ganz Durchschnittsbürger das „liebste Kind“ auch „wirklich lieb“ gehabt. Aber jetzt schien mir, ich durfte es gar nicht mehr, Da stimmte etwas nicht, Oder mir war etwas entgangen und das machte mich so traurig. Oder wie sollte ich jetzt am Sonnabend die Sportschau noch mit der gleichen Freude verfolgen? Kalle war auch sehr schweigsam. geworden. Ging es ihm ähnlich?
Es sprudelte weiter aus dem längst nicht mehr nur als Theoretiker zu bezeichnenden Mann: „Es gibt zwei weitere Gründe, warum die Referees so pfeifen, wie sie es tun. Eine weitere psychologische Begründung, die eigentlich auf der Hand liegt, wenn man genau drüber nachdenkt. Die eine ist die, dass ein Tor im heutigen Fußball einen sehr großen Einfluss auf die Chancenverteilung für das Spiel hat. Also wenn man ein Tor zum 1:0 anerkennt, welches auch nur den leisesten Anlass zu Zweifeln bietet, dann hat man, gefühlsmäßig damit schon ´beinahe das ganze Spiel entschieden´. Es steht 1:0, die stellen sich hinten rein, nur noch eine Halbzeit zu spielen, das schaukeln sie schon. Dadurch scheut man sich noch mehr, ein Tor anzuerkennen, einen Elfer zu geben. Christoph Daum sagte ja auch neulich mal einen verhängnisvollen, viel belächelten aber deshalb nicht weniger wahren Satz: ´die Spielleiter werden immer mehr zu Spielentscheidern´. Er hat Recht, aber er wird ausgebuht. Klar: seinen Kölnern war das korrekte 2:2 aberkannt worden. Insofern gilt er hier als befangen, die Aussage wertlos, als Rechtfertigungsversuch für eine Niederlage die Schuld abwälzend. Dennoch stimmt es, was er sagt.
Ein Tor macht den ganzen Unterschied. Wenn man eines gibt, hat man das Spiel so rum entschieden, wenn man auf der anderen Seite den Elfer gibt, hat man es andersrum entschieden. Eine winzige Zehntelsekunde, ein Spontanentschluss, das ganze Spiel ist gelaufen. Und dann noch denke man an die Möglichkeit, dass es eine Fehlentscheidung war.“
Jetzt hatte ich doch wenigstens einen kleinen Ansatzpunkt für einen Zweifel an seinen Beobachtungen gefunden: „Ja, aber wenn man ein Tor nicht gibt, was hätte zählen müssen, dann hat man doch auch das Spiel entschieden, oder?“ Tja, das hätte ich mir sparen sollen. Seine Argumentationskette war lückenlos und es schien mir, als ob er auf die Frage schon gelauert hatte: „Tja, das denkt man, oberflächlich betrachtet. Aber es ist nicht so, zumindest psychologisch nicht. Wenn man das im Diagramm sehen würde – und ich habe mir solche angefertigt — wie sich die Chancen verschieben durch ein Tor –, da kommen richtige gewaltige Zacken in das Diagramm durch ein Tor, welches fällt. Also ich sags mal in Zahlen: wenn ein Spiel nach 60 Minuten 0:0 steht, dann hat der Favorit, sagen wir mal ein beliebiges Spiel, Dortmund – Hannover, lediglich 30%, das Spiel noch zu gewinnen. Wenn sie aber jetzt ein Tor erzielen und 1:0 in Führung gehen, dann schnellt diese Chance auf einen Schlag nach oben und landet bei 85%. Das Spiel ist vorher kaum zu gewinnen und nachher ist es fast schon gewonnen. Versteht ihr?“
Auch Kalle hatte mal wieder Luft für ein kleines Intermezzo: „Watt erzählstn du dann von Prozente? Die machen dit Tor oda machnt nich mehr. Da jibs do keene Prozente.“ Nun gut, man muss ja nicht jede Bemerkung kommentieren. Unser Experte fuhr fort: „Jedenfalls ist es so, dass, wenn man ein Tor nicht anerkennt, bleibt sozusagen alles beim alten. Es gibt keine Verschiebung der Chancenverteilung. Man kann, als Referee, sich dann immer sagen: ´na, die haben doch noch genug Zeit, ein reguläres Tor zu erzielen. Das geb ich nicht und alles ist unverändert.´ Es ist eine Neigung, eine Tendenz, dass man, auch man selber, sozusagen Angst hat vor so großen Veränderungen. Es bleibt besser alles, wie es ist, ist einem lieber so.“
So gewagt seine Theorien auch waren, sie schienen erstens wohl durchdacht und zweitens bei längerem Nachdenken auch irgendwie sinnvoll. „Alles bleibt wie es ist“ ist doch irgendwie eine natürliche Veranlagung des Menschen. Man richtet sich mit einem Zustand ein, gewöhnt sich daran, kann damit planen und umgehen. Eine Veränderung, eine neue Richtung einzuschlagen, einen neuen Plan zu fassen kostet Kraft. Es war doch was dran, was er sagte. Selbst wenn man einer Mannschaft, wie später nachweisbar, ein Tor geklaut hat, so hat man doch wenigstens nicht diese große Veränderung bewirkt. Wenn man sie bewirkt, durch Anerkennung eines Tores, was vielleicht nachher als irregulär nachgewiesen wird, dann hat man durch diesen Fehler die Verschiebung bewirkt, die nicht hätte eintreten dürfen. Der eine Fehler sorgt für eine unrechtmäßige Verschiebung der Chancen, der andere für ein unrechtmäßiges Gleichbleiben der Chancen. Welchen Fehler macht man lieber? Hatte ich etwa Psychologie studiert, ohne davon erfahren zu haben?
Auf dem Heimweg schlussfolgerte ich, von dem Gehörten inspiriert, weiter : Wenn die Schiedsrichter öfter die so genannte “mutige Entscheidung” treffen würden und bei Foul oder Hand im Strafraum auf Elfmeter entscheiden würden, würde es entweder mehr Elfmeter oder mehr Torchancen geben. Eher nur, zumindest nach einer kurzen Eingewöhnung, mehr Torchancen. Mehr Torchancen macht allen (außer den Fans der die Torchance zulassenden Mannschaft vielleicht) Spaß, jeder will die positive Aktion sehen, den Abschluss oder, im Endeffekt auch das Tor. Mehr Tore, mehr spannende Spiele. Auch beim Abseits wäre es ähnlich: Lass doch die Fahne mal unten, die meisten (außer wieder die paar Fans) werden es dir danken. Der Stürmer läuft alleine auf das Tor zu, das ist Drama, Hochspannung, und nicht immer wieder, begleitet noch vom Reporterspruch, der Anticlimax: „Nur keine Aufregung. Die Fahne ist schon oben, Abseits angezeigt.“ um dann in der Hälfte der Fälle nach Ansicht der Zeitlupe zu sagen: „Oh, hier irrte er sich aber.“ Müsste doch klappen? Die alte “Lauffeuerverbreitungsweisheit”: ein Tor – noch ein Tor – viele Tore. Das wäre doch irgendwie … klasse?
Und ich dachte sogar noch weiter. wenn man diese größere Anzahl von Tormöglichkeiten hätte, dann wäre ja womöglich irgendwann auch die Bedeutung eines einzigen, an- oder aberkannten Tores gar nicht mehr so groß, so bedeutsam. Wenn einer ein Tor kassiert, dann denkt man heute vielleicht noch: „Oh, 0:1, das wars“ und später denkt man dann: „Oh, 0:1, jetzt wird’s aber richtig spannend.“, weil man einfach mit mehr Toren rechnen kann. Und 0:1 ist ja vielleicht noch harmlos, aber nach einem 0:2 wird mir heute, auch schon Anfang der zweiten Halbzeit, oft genug oft genug erklärt: „Das war die Entscheidung. Deckel drauf.“ und irgendein ähnlicher Schmarrn, den ich gar nicht hören will. Ich will Spannung, ich will Aufregung — und keine Abgesänge. Mehr Tore garantieren doch dafür?
Irgendwie wich die Depression allmählich einer regelrechten Euphorie. Das könnte ja bald richtig Spaß machen und ich mal wieder ein Spiel schauen nicht mehr aus der uralten Verbundenheit zu dem Spiel sondern aus echter Vorfreude, auf spannende Szenen, tolle Tore, frei durchlaufende Spieler, die nicht zurück gewunken werden – mit dem meist faden Gefühl, dass es zu unrecht geschehen wäre – und Abwehrspieler, ie im Zweikapmf im Strafraum nicht permanent mit Händen, Armen, Beinen, Füßen an den Gegenspielern, an den Trikots, den Hosen sind?
Nur müsste man das ganze dazu wohl mal aufschreiben? Und wenn dies erledigt wäre: wer liest son Quatsch eigentlich?