Zwei meiner größten Leidenschaften – Schach und Fußball – waren in diesem Jahr einer dritten gewichen. Das Backgammon Spiel hatte mich total infiziert. Nicht nur, dass ich sofort bei Erlernen das Gefühl hatte, in einem früheren Leben schon Backgammon-Profi gewesen zu sein – das Erlernen fiel mir ausgesprochen leicht und wenn man den Begriff „Talent“ gerne verwenden möchte und sich selbst beweihräuchern, dann könnte man sagen, dass ich ziemlich viel davon besaß –, nein, das Spiel konnte eigentlich nur um Einsatz gespielt werden, was einer weiteren längst entwickelten Leidenschaft Vorschub leistete : Der Spielsucht. Aber es war auch viel mathematischer als Schach. Erstmals konnte ich mit der studierten Mathematik und meinem Spezialgebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung auch „wirklich etwas anfangen“.
So hatte ich den letzten ernsthaften Versuch, mein Studium zu Ende zu bringen – zu diesem Zwecke die Uni und den Wohnort nach Freiburg gewechselt – abgebrochen. denn in Freiburg wurde nur noch „gezockt“, praktisch Tag und Nacht. Nun war Freiburg aber nicht gerade ein Spielerparadies, wenn man an Spiel um hohes Geld dachte und in einem kurzen Ausflug nach Hamburg zum dortigen Schachcafé habe ich mich auch noch spontan in die bezaubernde dort bedienende Britta verliebt und anlässlich dessen ebenso spontan meinen Umzug nach Hamburg beschlossen. In Hamburg wurde richtig gespielt, das Schachcafé war eine richtige Zockerhöhle. Britta habe ich nie bekommen, aber das gehört nun wirklich nicht hierher (steht aber an ganz anderer Stelle „geschrieben“.
Eine Bleibe hatte ich schnell gefunden. In Hamburg fand in jenen Jahren regelmäßig im Hochsommer das Schachfestival statt – mit mir als Teilnehmer und im Zuge weiterer Anerkennungsjagd darf ich noch erwähnen, dass es mir in einem früheren Jahr ebendort gelang, Nigel Short zu bezwingen – , ich hatte dort den sehr vermögenden Wohnungsmakler Fritz Uhlmann kennen gelernt, der mir eine „Wohnung“ anbieten konnte. Diese befand sich direkt auf dem Kiez in St. Pauli. Das Haus war baufällig und die Wohnung selber war dringend renovierungsbedürftig. Fritz quartierte mich dennoch dort ein und wir erzielten schnell Übereinkunft mit einer Wochenmiete von 50 DM.
In dieser Wohnung war nur ein einziges Zimmer bewohnbar. Das Wohnzimmer könnte einmal schön werden, wenn es fertig wäre. So durchquerten dauernd irgendwelche polnischen Arbeiter die Räumlichkeiten, ich wohnte also richtig exklusiv. In diesem kahlen, aber hellen Raum befanden sich drei „Möbelstücke“: Zwei Stühle und ein Fernseher, den die polnischen Arbeiter wohl zur spärlichen Freizeitgestaltung dort geparkt hatten. In diesem exklusiven Ambiente hatte ich nun – kurz nachdem mir das zu Schulzeiten übliche „Thema verfehlt“ angelastet wurde – die Gelegenheit, die Fußball Europameisterschaft zu verfolgen. Auf dem einen Stuhl saß ich, auf dem anderen stand der Fernseher. Romantisch, gell?
Freund und Schachspielerkollege Rainer Grünberg, Lütt Kollau 2, hatte mich bei früheren Hamburg Besuchen schon regelmäßig bei sich untergebracht. Die normalen Gruppenspiele schaute ich bei mir „zu Hause“ schaute. Rainer lud zu den Deutschland Spielen mich und ein paar andere Freunde zu einer kleinen „Deutschland-Party“. Nicht nur, dass Rainer aus guten Gründen den Spitznamen „Rübezahl“ verpasst bekam, Rainer war ausgesprochen unterhaltsam, ungewöhnlich, charmant und intelligent. Seine Art, seine Sportbegeisterung und seine Formulierungskunst brachten ihm bald eine Anstellung beim Hamburger Abendblatt ein, für das er bis heute arbeitet und schreibt. Ich war zwar längst kein „Deutschland-Fan“ mehr, und damit für mich überraschend absoluter Außenseiter, aber aufgrund Rainers besonderem und unwiderstehlichen Charmes und seinem legendären Vanille-Schoko-Eis mit Schlagsahne und Schokoraspeln konnte ich doch nicht widerstehen und begab mich „in die Höhle des Löwen“. Ich musste die Spiele der Deutschen Mannschaft im Kreise wahrer Enthusiasten, die vor allem den Erfolg „unseres Landes“ im Sinne hatten, verbringen – und dazu bei Toren gequält lächeln.
Die langen Gesichter bei den mäßigen Leistungen in den ersten beiden Spielen teilte ich zur Show und lächelte stattdessen in mich hinein. Allerdings war das ja nicht einmal unüblich: Deutschland spielt schwach und „mogelt“ sich dennoch durch. Alle schienen der gleichen Überzeugung. Als aber im dritten Gruppenspiel in der 90. Minute Maceda das Siegtor zum 1:0 für die Spanier köpfte, kam das einem plötzlichen Herztod durch Stillstand gleich. Das ganze Land war für ein paar Sekunden wie gelähmt. Da gab es kein „oh Gott“ oder „Herrje“, kein Wimmern oder kein Klagen. Nur Fassungslosigkeit: Deutschland und ausscheiden? Das ging doch gar nicht? Das gab es doch noch nie und konnte einfach nicht geschehen?
Wie allerdings Resteuropa, nein Restwelt, das Besiegen der schwarzen Bestie aufgenommen hat, konnte ich in diesem Moment nur erahnen. Sicher traute man sich aber nicht sofort, in Jubel- und Begeisterungsstürme auszubrechen. Man war genauso gelähmt, fassungslos wie hier. Das musste doch ein Traum sein, ein schlechter Film? In Hollywood kehrte die Bestie doch auch immer noch einmal zurück, selbst wenn sie leb- und reglos am Boden lag, wenn sich Held und Auserwählte gerade in die Arme fallen wollen? Es schien Wirklichkeit und allmählich machte sich Erleichterung breit. Außer in den Herzen ein paar überheblicher Zentraleuropäer. Wenn nur wenigstens ein paar wirklich im Herzen getroffen gewesen wären…
Mir war vorher schon klar, dass mich die Reaktionen nicht befriedigen würden. Wenn sie doch jetzt nur ein einziges Mal auch die Anteilnahme, das Mitgefühl, das Bedauern, aber auch die Anerkennung, den Zuspruch, echter Fans erkennen lassen würden. „Mensch, Jungs, ihr habt uns so oft so viel Freude bereitet. Schade, diesmal hat es nicht gereicht. Wir lieben euch trotzdem.“ Die Medien sowie auch die sonstige Bevölkerung. Wenn ich nur einen einzigen weinenden Menschen gesehen hätte, dann hätte ich mein eigenes Empfinden der „Schadenfreude“ schon bereuen, bedauern können.
Nein, eine derartige Reaktion konnte man einfach hier-zu-sieggewohnt-lande nicht erwarten. Die Schwarz-Rot-Goldenen Fahnen wurden einfach umgehend eingerollt, wenn nicht verbrannt. Die rosa Brille wurde aber schön aufbehalten, und mit ihr auf der Nase stattdessen Kicker und Verantwortliche mit Häme und Schuldzuweisungen übergossen. „Schließlich habt ihr euch verpflichtet, uns alle zwei Jahre nach dem Motto ´egal, wie´ glücklich zu machen.“
Es kann doch einfach mal passieren? Es gibt immer eine Chance, eine Wahrscheinlichkeit, die gegen den Erfolg, gegen den Sieg steht.
Rainers Partys gab es nicht mehr Ich konnte den Turnierrest wieder in meinem traumhaften Etablissement über den Dächern des Kiezes genießen. Ganz ohne Belästigung dieses Glücksmolches, der sich immer wieder einschaltete, wenn wahrhafte fußballerische Befähigungen gefragt waren. Platini konnte ungestört seine Kreise ziehen und Frankreich zu einem wirklich verdienten Erfolg und Titel führen.