Spitznamen und andere Macken
Da ich in diesem Buch häufig genug mich selber anspreche und dabei stets wechselnde Namen verwende, möchte ich einmal diesen Aspekt beleuchten bzw. auch ein wenig Ursachenforschung in dieser Sache betreiben. Ich hoffe, dass die Zeitsprünge hierbei zu verkraften sind, da es eben insbesondere um dieses Thema geht.
Auch hoffe ich auf –Heiterung, nicht nur bei der eigenen Geschichte sondern auch bei den in Spielerkreisen immer wieder auftauchenden, teils originellen, teils einfach nur witzigen Begebenheiten, die für die Wortschöpfungen oder Spitznamen verantwortlich sind.
- Ein kleines Potpourri
- Butzi
Was Müttern so alles einfällt. Den Namen hatte ich einfach so erhalten. Keine Verwandtschaft mit Dirk, keine Begründung. Aber gehört habe ich auf den Namen. In der Schule pflanzte er sich auch blitzschnell fort. Und wenn ich heute irgendeinen lieben, alten Schulfreund oder gar Angie spreche, kann es passieren, dass ich es mal wieder vernehmen kann: „Butzi.“ Irgendwie hab ich doch eine entfernte Verwandtschaft mit Narziss… einfach zum Verlieben.
- Bazzon
Meinem Vater war nach und nach Butzi einfach zu kindlich. Er erweiterte Butzi zu der etwas reiferen Form. „Bazzon.“ Ein richtig großer Junge eben, aber einer mit Spitznamen.
- Bomba
Nun, diese kleine Geschichte ist wirklich nur aus einem bestimmten Grund erwähnenswert. Ich erkläre kurz: Sicher war es mal wieder mein Vater, der den Namen ausgekramt hat, in die Praxis eingeführt und sehr schnell Nachahmer fand. Es war eine wirklich lange Zeit, in der ich so gerufen wurde. „Bomba“ hier, „Bomba“ da. Als ich den Namen das erste Mal geschrieben sah, und Spitznamen schreibt man wirklich nicht so oft, achten Sie mal drauf, Spitznamen werden üblicherweise gerufen, war ich wirklich verblüfft. Mein Cousin notierte im Sandstrand unserer dänischen Dauerurlaubsinsel Tunö : „Bomber.“
Nun, dass ich in gewisser Weise, man könnte sogar sagen extrem, fußballverrückt war, konnte ja niemandem entgehen, der mit mir zu tun hatte. Und das ich in einer gewissen Zeit auch ganz leidlich spielte halte ich für denkbar. Aber das mir der Name als Hommage an den berühmten Torjäger des FC Bayern, Gerd „Bomber“ Müller verpasst wurde? Das war doch etwas zu viel der Ehre. Aber einen direkten Einfluss hatte ich ja nicht darauf, wie man mich ruft. Oder hat Jemandem schon mal weghören geholfen?
- Bolle Schlotterlunge
Bolle selber muss wohl irgendwann Jemandem aus der Familie mal rausgerutscht sein. Bolle, der Bolle, der in dem verrückten Schlager „Bolle reiste jüngst zu Pfingsten…“ war ja aber immerhin ein Berliner Original. Oder war es nur eine Verunglimpfung von „Bomber“, nachdem auch die Verwandtschaft festgestellt hat, dass sie damit ein bisschen zu hoch gegriffen hatte? Jedenfalls wurde er mir lange zugerufen. Auch hier habe ich es nicht ignoriert sondern reagiert. Ich hieß eben „Bolle“.
Eine kleine Geschichte noch nebenbei: Meine Eltern berichteten mir immer mal wieder von dem Vorfall, als ich, 4-jährig, einen viel zu großen Bonbon lutschte und dieser mir in die falsche Kehle rutschte. Wie berichtet wurde, haben alle Mittel, ihn wieder herauszubefördern nicht geholfen. Angeblich hat sich meine Gesichtsfarbe bereits ins bläuliche verfärbt, als mein Vater die rettende Idee hatte: Er packte mich bei den Beinen, meine Mutter gab mir einen gewaltigen Schlag auf den Rücken und — ich spuckte jede Menge Blut. Aber irgendwo in diesem Blut muss sich auch der Bonbon verfangen haben. Er war raus, meine Atmung setzte wieder ein, ich lebte.
Viele Menschen berichten ja von Augenblicken, an denen sie dem Tod sehr nahe waren und sind anschließend immer wesentlich dankbarer für jeden weiteren Tag, an dem sie leben dürfen. Und obwohl dieses Erlebnis nicht in bewusster Erinnerung bei mir ist, empfinde ich auch diese Dankbarkeit, da ich weiß, dass es schon recht knapp war. Wie allerdings dieses traumatische Erlebnis unbewusst immer wiederkehrt und wie ich auch für mich den Beweis habe, dass es sich so verhalten hat, stelle ich immer wieder in Träumen fest. Und dieser eine Traum kehrt immer wieder: Ich atme tief ein und verschlucke einen Bonbon, der so fest sitzt, dass mir im gleichen Moment klar ist, dass er niemals mehr herauskommen wird. Es bedeutet den sicheren Tod. Ich wache dann auf, selbstverständlich, es ist ja nur ein Traum. Mein Puls verändert sich auch nicht wesentlich. Eher so: „Ach, der wieder…“
Dennoch, das Trauma bleibt. Ich habe immer wieder Angst beim Schlucken. Eine richtige Neurose könnte man das nennen. Die mangelnde Einzigartigkeit kann ich allerdings auch beweisen: Mein Vater erzählte immer von seinem eigenen Vater, dass er „eine ärztlich bescheinigte Schlundverengung“ hatte.
Ob man allerdings mit der Sorge vor erneutem Eintreten die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es wieder geschieht, dazu sollten wir womöglich doch lieber Murphy selber befragen.
Jedenfalls geschah es trotzdem immer mal wieder, dass ich mich verschluckte. Einmal wollte ich wohl ausprobieren, wie es Schneewittchen erging und verschluckte mich an einem Apfel. Die Panik war wieder da, man bekommt eben keine Luft und hustet, was man kann. Da man keine Luft bekommt zum Husten ist es wohl etwas anderes, was man tut, aber das Stück muss raus. Und es gelang mir, klar. Sie haben sich ja vielleicht auch schon mal verschluckt. Aber ich saß noch eine Weile lang da, ziemlich gezeichnet von dem Ereignis, und vermutlich schlotterten mir noch die Knie. Ich sagte aber meinen dabei sitzenden Brüdern: „Mir schlottert die Lunge.“ Na, nun wissen Sie es: Gelächter und Spitzname mit Nachnamen: „Bolle Schlotterlunge.“
- Bowlitschek
Mit meinem Schulfreund Jürgen Griesing verbinden mich ein paar Kuriositäten. Jürgen bekam selber ein paar Spitznamen verpasst, so unter anderem die Namen „Grinsnich“, den er unserem guten alten Französisch Lehrer Herrn Doktor Hoppe zu verdanken hat, der ihn in seiner ersten Stunde bei uns fälschlicherweise als „Grinsing“ verlas, oder auch einfach nur den Namen „Gupsy“, wie ich ihn auch heute noch rufe, sondern auch unternahmen wir einmal eine spätwinterliche Radtour. Es war aber wirklich ein sonnenreicher Tag und Winter in den 70er Jahren hatten auch noch ihren Namen verdient. Wir fuhren also bei herrlichstem Sonnenschein und Tauwetter durch den Grunewald.
Als unsere Radtour uns abschließend noch bei meiner früheren Grundschulfreundin Angelika Haselbach vorbeiführte und diese auch tatsächlich ihr Fenster öffnete und mit uns ein wenig plauderte, was auch durchaus Erinnerungswert hatte, war der Entschluss gefasst: Wir treffen uns immer wieder am gleichen Tag. Nur musste an diesem besonderen Tag das Wörtchen „alljährlich“ wegfallen. Ein Blick auf den Kalender belehrte uns: Es war der 29. Februar, im Jahre 1976 Dennoch ist eine Tradition daraus geworden. Wir verlieren uns auch tatsächlich nicht aus den Augen. Und ein 4-jährliches Treffen hat doch auch irgendwie Stil? So reichen seit 32 Jahren bis heute beide Hände, um unsere Treffen abzuzählen. Aber immerhin hat es geklappt, jedes Mal, und wir machen wieder unsere Radtour.
Gupsy, der übrigens selber seither darauf besteht, dass sich sein Name „Yybsy“ schreibt, was ja nicht nur das einzige Wort mit doppel-y ist, sondern tatsächlich insgesamt drei Mal diesen ungewöhnlichen Buchstaben enthält, war also entsprechend originell. Er verunstaltete meinen Namen immer weiter und scheut auch bis heute nicht die Mühe, über den Umweg Bolle – Bowle daraus ein wirklich haarsträubendes „Bowlitschek“ zu machen. Nun ja, man muss ja nicht jeden Spitznamen auch gleichzeitig schön finden…
- Ommentaschen
Die Geschichte dieses Namens ist nicht einmal überliefert. Mein Onkel, natürlich der Klaus, der noch mehrfach Erwähnung findet als Lieblingsonkel, nannte mich einfach bei seinen zahlreichen Berlinbesuchen und schon in frühester Kindheit „Ommentaschen“.
- Pauli
Ich war also sozusagen von Spitznamen umzingelt. Ich habe aber selber auch ganz gut ausgeteilt. Aber da ich auf die meisten mir zugeteilten Spitznamen keinen Einfluss hatte, beschloss ich kurzerhand, mir selber einen zu verpassen. Nun mag er nicht übertrieben originell sein, der Pauli, aber ich mochte ihn einfach, angelehnt an die Comic-Figur.
Ich nannte mich einfach und konsequent immer nur Pauli. Wer mich fragte, wie ich hieße erhielt die Antwort: „Pauli“, ab 1973. Den Austeilanteil möchte ich hier in der Erzählung mal auf meinen Klassenkameraden Matthias Schulze beschränken. Ich bin ja in der 9.Klasse einmal Sitzen geblieben. Nun, ich nutze diese Gelegenheit hier einfach mal, um den jahrelang darüber aufgestauten Frust loszuwerden. Natürlich war ich einfach nur zu dumm, das ist mir auch klar. Nur legt man sich als Heranwachsender gerne mal andere Theorien zurecht. Meine ging in etwa so:
Es war die Scheidungszeit meiner Eltern. Es hat mich wesentlich mehr betroffen, als ich lange Jahre mir (und anderen) eingestehen wollte. Es war auch verbunden mit ständigen Umzügen. Meine Mutter bewegte sich nach Kreuzberg und ich wollte auch gerne bei ihr sein. Nur ist eine Anfahrt allmorgendlich Kreuzberg, SO36, nach Steglitz auch nicht gerade kurz und übermäßig erfreulich. Mein Vater wollte das auch gar nicht. Später zog meine Mutter nach Lichterfelde. Außerdem ging bei den ständig miterlebten, bösartigen Streitereien nach und nach meine heile Welt kaputt. Reinhard Mey war ja wohl gerade ins Erwachsenenalter eingetreten, als er sich bei Annabelle höflich bedankte, sie gar dazu aufforderte, dass sie ihm seine zerstöre („Ach, Annabelle, komm sei so gut, mach meine heile Welt kaputt“). Mir war das nicht ganz so willkommen. Kurzum: Mein Körper hat reagiert und ich wurde einfach krank. Abgesehen von meiner geschundenen Seele, die einfach auf „Angst“ in allen Lebenslagen umschaltete, war es auch der Körper. Man nennt so was dann wohl „psychosomatisch“. Ich bekam Furunkel, eine regelrechte Furunkulose. Ständig wechselnd, aber meist auf der hauptsächlich als Sitzfläche auserkorenen Region. Außer, dass ich also auch sonst Schmerzen hatte in allen Körperbereichen, konnte ich den Verwendungszweck dieser Fläche nicht mehr nutzen. Ich hatte also zwei Möglichkeiten: In der Schule stehen oder nicht hingehen. Beides habe ich etwa zu gleichen Teilen umgesetzt.
Meine Lehrer bekamen auch einen gewaltigen Anteil meines Lebensunmutes zu spüren. Unterordnen war absolut nicht mein Lebensmotto. Ich widersprach und widerstrebte, wo ich nur konnte. Das hat mir zwar etliche Klassenbucheinträge eingebracht, auf die ich zu der Zeit auch noch stolz war. Aber in der Benotung musste ich hier und da auf Entgegenkommen verzichten. Mein Französisch Lehrer in der Klasse (nicht etwa Dr.Hoppe), entschied sich einfach für eine 5. Damit musste ich rechnen, da ich ihn nur und ausschließlich provoziert habe. Ich sehe jetzt noch sein rot anlaufendes Gesicht bei Begegnungen mit mir. Aber dass der Physik Lehrer sich auch noch mutwillig für eine 5 entschied, damit hatte ich nicht gerechnet. Es war wohl ein Komplott, in den noch dazu meine Mathelehrerin eintrat und mir einfach eine 3 verpasste, die in diesem Falle meine Befähigung wirklich nicht ganz 1:1 abbildete. Aber meine Klassenkameraden hatten festgestellt, dass ich nur noch in den Unterricht „eingriff“, wenn die hier ungenannte Lehrerin einen Fehler beging. Auch sie bekam dann immer diesen roten Hautausschlag im Gesicht. Nun, zwei 5en, in zentralen Fächern, kein Ausgleich, eine Abstimmung, eine Gegenstimme zu viel, wie ich später erfuhr (nicht alle Lehrer waren dem Komplott beigetreten; danke ausdrücklich an Herrn Frase), die Wiederholung der 9. war beschlossen.
Aber ich hatte ja bereits das Schachspiel entdeckt, was hervorragend geeignet war, sämtliche Energien zu verschlingen und die Gedanken von allem anderen abzulenken. Noch dazu war ja ein Klassenkamerad mit mir zusammen Sitzen geblieben. Matthias Schulze. Und er war der eine, den ich hier erwähnen wollte. Matthias hatte seinerseits eine hervorstechende Eigenschaft: Die Hofpause war ihm viel zu wertvoll, um sie für den Verzehr von einem Pausenbrot zu opfern. Also verspeiste er seine Brote in unnachahmlicher Manier während des Unterrichts. Nun, „Schulle“ hieß er ja ohnehin schon, und gerade in Berlin sagt man ja ganz gerne mal „doof wie…“, was lag also näher, als ihn „Stulle“ zu nennen?
„Stulle“ saß also neben mir, als wir in unsere neue Klasse kamen. Der Lehrer fragte uns, zur Vorstellung, nach unseren Namen. Ich stand wortlos auf, ging an die Tafel, nahm ein Stück Kreide in die Hand und notierte: „Pauli“ und „Stulle“. Auch in der Folgezeit hatten meine Lehrer nicht all zu viel Freude mit mir. Vor allem aber gelang es ihnen mit allen Mitteln nicht, mich davon abzubringen, auf alle meine Klassenarbeiten meinen Namen zu schreiben. „Pauli“. Ich muss im Nachhinein gestehen, dass mir auch bei schärfstem Nachdenken keine rechten Mittel der angemessenen Bestrafung einfallen würden, um einem widerspenstigen Heranwachsenden von solchem Tun abzubringen. Sollte ich dem Jungen denn eine 5 geben? Oder einen Punktabzug? Tja, also ich selber würde im heutigen Alter auch nicht mit mir als Jungen klar kommen. Meine jugendlich fiesen, Autorität untergrabenden Maßnahmen waren schon ganz geschickt gewählt.
Ich muss Ihnen an dieser Stelle einfach mal zwei kleine Begebenheiten erzählen, die mit dieser Widerspenstigkeit im direkten Zusammenhang stehen. Unser wirklich geschätzter Lehrer, Herr Siegemund, bat einmal in seiner Biologie Stunde ein Mädchen, doch ihre Hausaufgaben vorzulesen. Das Mädchen musste, leicht verschämt, eingestehen, dass sie diese nicht gemacht hätte. Daraufhin er: „Und die Nachbarin auch nicht?“ Diese, wie erwartet, antwortet mit: „Nein.“ Daraufhin er: „Na, dann lies mal bitte vor.“ Das Mädchen: „Wieso, ich hab sie doch nicht gemacht.“ Er, etwas alt- und neu(nmal)-, zusammen gefasst also gar nicht klug, seinerseits: „Du sagtest doch auf meine Frage ´die Nachbarin auch nicht´ ´Nein´, also müsstest du sie doch gemacht haben?“
Ob diese Betrachtungsweise von Logik ihm langfristig dienlich war, müssen Sie jetzt selbst beurteilen. Jedenfalls hatte er einmal Aufsicht, die Kinder vom Verlassen des Schulgebäudes während der Hofpausen abzuhalten. Ich ging geradewegs auf ihn zu und fragte: „Ich darf hier nicht raus?“. Darauf er:“Nein.“ Und, schwupps, war ich durch. Ein anderes Mal traf ich ihn im Treppenhaus. Die Frage drängte sich förmlich auf. „Herr Siegemund, ist Ihnen nicht kalt?“ Er, gutgläubig aber naiv: „Nein.“ „Na dann müssen Sie sich wärmer anziehen.“
Ist an mir vielleicht doch ein Pädagoge verloren gegangen? Wie erziehe ich meine Lehrer?
- Paula
Die langen Haare brachten den einen oder anderen auf die Idee, aus dem Pauli schlicht und einfach eine „Paula“ zu machen. Tja, so läuft das mit selbst vergebenen Spitznamen. Die kriegt man auch noch um die Ohren gehauen.
- Pech Pech
Nachdem ich mal wieder in voller Überzeugung meinem langjährigen schachlichen Weggefährten, Klaus Bischof, von einer weiteren tragischen Niederlage im Schach erzählte, mit dem Zusatz: „Ich müsste Pech heißen“, da entgegnete er: „Mit Vor- und Zunamen.“
- Biber-Dirk
Die Geschichte dieses Namens war so hübsch, dass ich ihr gar ein eigenes Kapitel gewidmet habe.
- Horacio Neumann
Im Jahre 1991 begab es sich, dass mein Vater, in wohlwollender Absicht, mir einen Ausschnitt aus der Berliner Morgenpost zuschickte, in welchem über die Deutsche Meisterschaft im Subbuteo in Berlin berichtet wurde. Das Spiel hatte ich zwar im Laufe der Jahre fast vergessen, aber Figuren und Spielfeld waren sorgfältig aufbewahrt worden. Und das Wort „sorgfältig“ kann man wirklich nur in absoluten Ausnahmefällen mit mir in Verbindung bringen, in diesem Falle stimmte es aber. Das Spiel hatte mir zu seiner Zeit wirklich etwas bedeutet. Aber auch bis zu diesem Tag hatte ich es immer in positiver Erinnerung. Es fehlten nur, selbst bei gutem Willen, die Spielpartner.
Ich rief aber den Veranstalter, Marcus Tilgner, sofort an und wir vereinbarten einen Termin. Ich nahm meine archaischen Figuren und alles Material, was ich so hatte, zusammen, und traf Marcus, bei ihm natürlich. Aus gutem Grund: Die Zeit war nicht stehen geblieben. Spielplatten, Spielfiguren, Tore, alles war, verglichen mit meiner Zeit, verbessert. Aber mein Blick fiel fast als erstes auf ein Plakat an der Wand: „Norddeutsche Subbuteomeisterschaft in Berlin 1974.“ Es war das Plakat meines einzigen bedeutenden Turniers, an welchem ich je teilgenommen hatte! Alles Zufall oder doch göttliche Fügung?
Es gab im ersten Spiel gleich mal eine richtige Klatsche: 0:6. Aber Marcus bestätigte: „Man merkt, dass du das Spiel schon mal gespielt hast.“ Ich hatte also mein Comeback gestartet. Denn es machte unter diesen Bedingungen einfach Spaß. Nach und nach kamen auch die Ergebnisse. Allerdings auch wirklich erst nach und nach. Denn bei meiner zweiten Norddeutschen Einzelmeisterschaft, im Jahre 1992, belegte ich zunächst den letzten Platz. Aber es gab immerhin ein paar kleine Teilerfolge.
Einer der anderen Teilnehmer war ein wirklich lustiger Kerl, um einen kessen Spruch nie verlegen. Frank Schulz. Und wir wurden auch wirklich Freunde später. Aber bei der ersten Begegnung spielte er mit seiner alten Truppe von Nottingham Forest. Er hatte früher, ähnlich wie ich, auch Meisterschaften mit Freunden ausgetragen, aber nur englische. Und seine Mannschaft war eben Nottingham. Die Spielfiguren beim Subbuteo sind übrigens relativ echt und haben gar Rückennummern. Frank spielte also mit seiner uralten Truppe und kannte noch etliche der Namen der alten Haudegen, alles Originalnamen, versteht sich. Und er kommentierte fleißig seine Spielzüge. Wer zu wem abspielte und wer aufs Tor schoß etc. Nur bei seiner Nummer 4 kam er ins Stocken. Allerdings nur sehr kurz, denn Frank verfügte über eine recht rege Phantasie (er leitet eine Werbefirma), und hatte blitzartig einen Namen kreiert: „..spielt auf Kevin Neumann, …. weiter zu…“ In dem Moment hakte ich ein, da der Name Kevin Neumann doch recht kurios klingt. „In der Bundesliga gab es mal einen Spieler namens Horacio Neumann. Merkwürdigerweise spielte er im gleichen Jahr in der Kölner Mannschaft, da auch Herbert Neumann für Köln spielte. Das weiß ich deshalb, weil ich mich gut an meine erste kindliche Begegnung mit diesem Problem, zwei gleiche Nachnamen aber auch die Vornamen beginnen gleich, erinnern kann. Es stand dann immer Ho. und He. Neumann.“
Nicht nur hatte ich Franks Kommentarfluss mit dieser absolut überflüssigen Zurechtweisung gestoppt, noch dazu habe ich mich mit dieser Behauptung allseits lächerlich gemacht. „Hör ma uff. Horacio Neumann, son Blödsinn.“ Naja, ich habe alles recherchiert mein Erinnerungsvermögen hatte mir ausnahmsweise mal keinen Streich gespielt. Gegen den Spitznamen komme ich allerdings nicht mehr an. Beim Subbuteo bin ich halt zumindest der Horacio.
Der Kuriositäten nicht genug. Kurze Zeit später trat ein Spieler unserem Subbuteoverein Sparta Spreeathen bei. Sein Name: Frank Neumann.
- Wasserpulle
Beim Fußball geht es auch immer relativ schnell mit den Spitznamen, noch dazu in Berlin, wo man den Menschen ja nicht ganz zu Unrecht das lose Mundwerk unterstellt. Auch da habe ich einen Comebackversuch gestartet. Zunächst einige Jahre in der Freizeitliga auf dem Kleinfeld, bei der Mannschaft, die Frank Schulz gegründet hatte, mit dem klangvollen Namen „Aktivist Runder Ball“. Da war ich nicht nur der Horacio sondern kam sogar in den Genuss, „Zico“ gerufen zu werden. Das war aber sicher nur, weil jemand die Buchstaben bei Horacio ein wenig aber doch schöpferisch umsortiert hatte…
Dennoch wagte ich noch den Beitritt in einen richtigen Verein. So richtiger Fußball, Männerfußball, auf dem großen Feld. Das Herzklopfen bei meinen ersten Einsätzen war doch fast wie in der Kindheit. Und hier und da kehrte auch der alte Kindheitstraum zurück: Ich werde bei Hertha BSC in einem Bundesligaspiel eingewechselt, mir gelingt alles, inklusive des entscheidenden Tores. Ganz anders als in den gewöhnlichen Träumen, wo man in der Regel nicht vom Fleck kommt, stürme ich hier unaufhaltsam über den Platz. Der kann ruhig wiederkommen.
Aber eine meiner zahlreichen Neurosen sind ja, wie oben berichtet, die Schluckbeschwerden. Als Gegenmittel, sozusagen „fathers little helper“, habe ich mir zueigen gemacht, bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten mit einer Flasche Mineralwasser herumzurennen. Man kann doch zur Rettung einiges hinunterspülen. Beim Fußball habe ich diese Gewohnheit nicht ablegen können, zumal es auch ganz gut passieren konnte, dass ich mal während eines Spiels Durst bekam. Meine Flasche stand immer am Spielfeldrand. Und wie nennt man einen Menschen mit einem so eindeutigen Wiedererkennungswert, das noch dazu in Berlin? Eben, „Wasserpulle.“
- Auf dem Kiez
Auf dem Kiez, und die Spielerszene und das Rotlichtmilieu liegen ja nicht nur geographisch nahe beieinander, ist man im Allgemeinen per du. Leider ist die Vielfalt an Vornamen doch etwas eher ausgeschöpft als die der Nachnamen. Wie behilft man sich da? Richtig, indem man dem betreffenden Vornamen einen Zusatz verleiht, der ihn eindeutig kenntlich macht. So gibt es also „Bouletten-Manne“ (warum der wohl so heißt?), aber auch „Taxi-Gerd“ und „Bildhauer-Peter“, es kann einem auch „Post-Werner“ oder gar „Veilchen-Rudi“ begegnen, ich wurde ja in Analogie „Biber-Dirk“. Ich würde Ihnen aber doch abraten, Geschäfte zu machen, wenn Sie mal auf „Minen-Willi“ treffen…
„Rommée-Micha“ und „Nasen-Detlef„ haben ihre Namen sicher auch nicht ganz zufällig bekommen.
- Weltweit