Der Stiefstiefenkel – die Wahrscheinlichkeitsrechnung
Und warum ist nun innerhalb der Mathematik die Wahrscheinlichkeitsrechnung das Stiefkind? Mir persönlich wurde das erst nach und nach bewusst. Die einfachste und womöglich beste, sofort einleuchtende Begründung ist die hier: Wer die Mathematik liebt, sich zu ihr hingezogen fühlt, hat eigentlich eine ganz spezielle Neigung. Das ist die Neigung zur Exaktheit. Die Mathematik ist exakt. Es gibt eine Aussage, diese versucht man, zu beweisen, gelegentlich zu widerlegen. Die Aussage ist „wahr“ oder die Aussage ist „falsch“, 1 oder 0. Was ist dann der Wert einer Aussage „es ist wahrscheinlich“, also „es scheint wahr “? Da lass ich die Finger von, scheint wahr, igitt, das ist doch keine Mathematik. Noch dazu soll ja gerade der Schein oft genug trügen…
Diese Begriffsüberlagerung ist natürlich kein Zufall und hat eben besagte Konsequenzen. Scheint wahr geht einfach nicht. Man kann halt ein paar Aussagen treffen und das war es. Ab jetzt machen wir richtige Mathematik (so der Unterton der Mathematiker; leider muss ich weiterhin behaupten, dass selbst dieses ihnen nicht bewusst ist; alle, die aus gutem Grund widersprechen bitte aufstehen).
Wenn wir uns den Begriff noch genauer anschauen, das Wort „wahrscheinlich“ wurde sicher lange vor Erfindung dieser umständlichen Formeln und Rechenmethoden eingeführt, einfach verwendet. Und man bezeichnet etwas damit. Das, was man bezeichnet, ist eigentlich ein Ereignis, was (deutlich) über 50% liegt. „Wahrscheinlich wird es heute regnen, nimm einen Schirm mit.“ Sonst würde man ja sagen: „Vielleicht…, aber nimm ihn trotzdem mit“. Oder, so kann man es auch sagen: Wahrscheinlich steht für große Wahrscheinlichkeiten, bei kleineren sagt man eher, es ist unwahrscheinlich. Also selbst der Begriff hält einer echten Prüfung nicht mal stand.
Wenn ich also solche Gespräche höre (oder dummerweise manchmal daran teilnehme, hineingezogen werde), frage ich u.U. zurück: „Ja, wie wahrscheinlich ist es denn?“ Aber man zieht sich eher Zorn zu.
Eine weitere Begründung sehe ich übrigens darin, dass ein Jeder, auch der Mathematiker, ein Bedürfnis nach Sicherheit hat. Aber es kann sogar sein, dass man zum Mathematiker wird, auf Grund dieses, im Verhältnis zur Restbevölkerung noch größeren Strebens nach Sicherheit. Man möchte nicht irgend eine andere Wissenschaft betreiben, Physik, Chemie, da stellt man irgend etwas fest, kann das bedeuten, kann auch das bedeuten, Interpretationen, im Zweifel ein Messfehler und so weiter. Gerade der Mathematiker wird dazu, weil er Unwägbarkeiten ausschließen möchte, ganz speziell und bewusst, also womöglich ist es sogar eine Charakterfrage. Mathematik und Unwägbarkeit, das passt nicht.