- Ein paar grundsätzliche Überlegungen zur WM
Wie sieht der Alltag eines Profispielers aus? Gibt es denn einen Alltag? Ein bisschen muss man es sich wohl wirklich vorstellen wie bei dem anderen Profispieler, nämlich dem Profi Fußballspieler. Da gibt es den Alltag, das sind die Ligaspiele. Der Erfolg ist nur sehr langfristig zu erzielen. Die Saison geht beinahe über das ganze Jahr. Es ist zwar immer irgendwie spannend, aufregend, man hat auch sein Hobby zum Beruf gemacht. Aber dennoch: Es gibt die täglichen Trainingseinheiten, es gibt den Winter und wenn man spielt, steht man zwar im Rampenlicht aber nur im Inland und auch nicht so übertrieben.
Dann gibt es vielleicht ein paar andere Highlights, Pokalspiele, Champions League, gar Länderspiele für manche. Und dann gibt es das eine Ereignis. Den Traum für jeden Spieler selber. Den Megaevent. Die ganze Welt schaut zu, auch Hausfrauen, Kinder und alle anderen Sonst-Nicht-Fans. Manche schauen vielleicht zum ersten Mal und ab dann ihr Leben lang. Die Fußball Weltmeisterschaft.
Und so war es auch mein ganzes Leben lang. Der Traum, irgendwann mal aktiv dabei sein zu können, war spätestens mit 14 Jahren ausgeträumt. Nein, ich lüge. Noch heute könnte es passieren, dass ich ihn träume. Aber spätestens nach dem Aufwachen war mir wieder klar, dass es dafür nie und nimmer reichen könnte. Als Kind darf man doch? Und mit 14 einzusehen ist nicht zu spät, oder?
Aber die Vorfreude, die große Begeisterung, das Lebensgefühl während einer Weltmeisterschaft war und ist immer wieder einmalig. Und ich habe nicht einfach nur geschaut. Ich habe alle Spiele geschaut. Da gab es praktisch keine Ausnahme. Auch schon in der Vorrunde musste ich alle anderen Termine absagen. Der Tag und das Leben während der WM war vom Ablauf der Spiele bestimmt.
Als Profispieler hat sich das natürlich nicht geändert. Im Gegenteil. Außer die Spiele zu schauen musste ich natürlich nebenbei die Einschätzungen machen, die Quoten dazu erstellen und die Wetten platzieren. Die Datenbankpflege selbstverständlich auch. Aber das Besondere kommt ja erst noch: Zunächst mal wird sowieso und von allen Seiten mehr gewettet. Und das ist nicht einfach nur mehr. Das ist gigantisch viel mehr. Ich kann das in Zahlen nicht ausdrücken, auch schwerlich abschätzen, aber es ist sicher mehr als das Doppelte (könnte auch fünfmal so viel sein). Aber das ist noch nicht mal entscheidend: Dieses andere Geld wird anders eingesetzt. Eigentlich müsste man es nennen: „Dummes Geld.“
Zur Weltmeisterschaft haben viele Menschen plötzlich „etwas locker“. Sie schauen auch die Spiele, auf der ganzen Welt eben. Und das mag als Motivation schon genügen, um auch etwas einzusetzen. Natürlich wittern Wettanbieter auch ihre Chance und machen gerade zur WM dann ein paar Aktionen, schreiben Leute an, bieten Boni bei der Einzahlung oder einfach nur wirklich gute und ausgefeilte Quotenangebote auf alles Mögliche. Das dient auch der Motivation, denn gerade zur WM geht es vielen wie mir: In der Vorfreude studiert man Mannschaften, sammelt vielleicht Fußballbilder, liest Sonderhefte, zur Zeitüberbrückung. Und dabei entdeckt man dann auch die Quotenangebote und hat ja noch Wochen Zeit, darauf zu setzen.
Abgesehen davon wird überall auch noch fast nur über Fußball diskutiert. Tippspiele in der Firma, im Bekanntenkreis, heutzutage im Internet. Alles wird auf Fußball fokussiert. Die Medien tragen auch noch ihren Teil dazu bei. Das ist die einzige Saure-Gurken-Zeit, wo die Gurken gar nicht sauer sind. Es wird zwar nicht mal gespielt, aber das WM Studio ist schon zwei Wochen vorher im Quartier der Nationalmannschaft (nicht nur bei der Deutschen) und bringt täglich Berichte, wem das Frühstück heute nicht geschmeckt, wer mit dem rechten Bein aufgestanden ist (oder wars heute das linke?) hat oder wer sich mit dem Co-Trainer ein Verbal Duell geliefert hat. Auf einmal erscheint einem auch das spannend. Am wichtigsten dabei natürlich: Wie hat Lukas Podolski geschlafen und zwickt Miro noch der kleine Zeh?
Also für mich war es in dieser Hinsicht wirklich auch immer das absolute Non-Plus-Ultra, gerade auch seit ich als Profispieler angefangen habe. Die WM 1990 habe ich ja schon erzählt (Kapitel „Mein Wettbüro“). Hier erzähle ich Ihnen ein bisschen von der WM 1994.
- Turniervorbereitung
Natürlich darf ich dabei nicht unterschlagen, dass wenige Tage vor dem Turnier in den USA meine erste Tochter geboren wurde. Und zwar am 27.Mai. Man schwebt dann sowieso. Da haben Vorfreude auf Turnier und Geburt schon Wochen, Monate vorher für Euphorie gesorgt. Ich mache hier Kishon allerdings keine Konkurrenz, empfehle aber jedem (sei er werdender Vater, bereits Vater, werdende Mutter oder auch bereits Mutter, aber auch den Nie-Eltern-gewordenen; sie ist einfach für jeden geeignet, der die Empfindungen kennen lernen möchte) seine Kurzgeschichte „Ein Vater wird geboren“.
Es gab ja den einen treuen und bis heute Wegbegleiter, Jessi Baptiste. Jessi hatte sein Wettbüro, NL Sportwetten, in Österreich aufgemacht. Wie der Name schon sagte, „NL“, war er selber Holländer, musste aber nach Österreich, weil es in Holland ebenso wie in Deutschland illegal war. Als er im Jahre 1991 die ersten Wetten von uns bekam, so erzählte er uns (Micha und mir) später, merkte er gleich, dass diese Wetten irgendwie anders waren. Er hat sie immer speziell untersucht. Nun gut, wir haben auch wohl das nötige Glück gehabt und gleich gewonnen.
Er lud uns zusammen nach Österreich, Dornbirn, ein, um unser Produkt, mein Fußballprogramm, anzuschauen. Es hat ihn gleich überzeugt und er wollte fortan die Zahlen, die Einschätzungen, vom Computer bekommen. Später hat er sogar das ganze Programm bekommen und jahrelang damit gearbeitet.
Zur Weltmeisterschaft gab es aber noch keine Übereinkunft. Die wöchentliche, entgeldpflichtige Zahlenlieferung beinhaltete noch nicht das anstehende Großereignis. Aber Jessi hatte alsbald eine großartige Idee: Wir würden ihm vorbehaltlos alle Zahlen liefern, die er im Verlaufe des Turniers benötigte und die mein Computer ausrechnen konnte. Natürlich zählen dazu alle möglichen Langzeitwetten, wer wird Weltmeister, Gruppensieger, wie viele Tore, Punkte erreicht eine Mannschaft, wer kommt weiter als wer uns so weiter. Seine Gegenleistung: Wir würden alle Wetten, die bei seinem Büro eingehen, zu 50% abbekommen.
Na, das nenn ich mal einen fairen Vorschlag. Nun, ich berufe mich auf die Verjährung, wenn ich hier anmerke, dass selbstverständlich die dadurch erzielten Einnahmen nicht versteuert wurden. Falls wir überhaupt welche haben sollten. Wir erklärten uns sofort einverstanden. Und dann kann ich mich wirklich bestens erinnern an die letzten zwei Wochen vor dem Turnier: Die Wetten wurden per Fax übermittelt. Und unser Büro eigenes Faxgerät stand einfach nicht mehr still. Es ratterte praktisch Tag und Nacht. Man musste nur gelegentlich eine neue Rolle einlegen.
Weniger gut kann ich mich erinnern, inwieweit wir die Wetten studiert haben. Vielleicht hat man immer mal nach höheren Einsatzbeträgen gesucht, um herauszubekommen, was einem gefährlich werden könnte. Aber im Grunde waren die Wetten sehr einheitlich: Es wurden die Favoriten gespielt. Auf Gruppensieg, auf „Wer kommt weiter“, was man auch als Kombination spielen konnte und auf die Spiele selber natürlich auch. Wie viele Faxrollen wir am Ende benötigt haben, kann ich auch nicht mehr so genau rekonstruieren. Aber es lag schon ein ziemlicher Haufen Papier nachher da. Alles voll mit Wetten. Alles illegal (na und?).
Natürlich haben wir auch noch gewettet auf die Zahlen. WM ist eben Ausnahmezustand. Der Computer empfiehlt natürlich dann immer wieder vergleichbare Ereignisse. Also, wenn wir zum Beispiel Rumänien auf Gruppensieg spielen sollten, dann mussten wir zeitgleich auch Rumänien in den einzelnen Spielen wetten oder so etwas. Wie viele Punkte machen sie (6 oder mehr zum Beispiel; 3-Punkte Regel), alles war dann angezeigt und empfohlen. Wie viel Einsatz man dann am Ende auf Rumänien hatte, konnte man kaum noch abschätzen.
- Das Turnier selber
Die Spiele waren ja in Amerika, also meist spät abends bis nachts. Natürlich waren wir in allen Variationen gegen Deutschland. Das Eröffnungsspiel hatte Deutschland als Titelverteidiger, wie üblich, zu bestreiten, und zwar gegen Bolivien. Der Computer war sicher vorsichtig in seiner Einschätzung und errechnete den (marktüblichen) Kurs von 1.40, also einen klaren Favoritenkurs, was auch sonst.
Natürlich war unsere Hoffnung nicht all zu groß, dennoch war man selbstverständlich aufgeregt. Endlich ging es los! Gerade im Eröffnungsspiel konnte man vielleicht doch auf eine kleine Überraschung hoffen?
Ich erinnere mich noch, wie der beste Bolivianer, ich denke er hieß Emilio Sanchez, plötzlich mit dem Ball am Fuß Lothar Matthäus gegenüber stand. Und selten hat der platte Reporterspruch besser gepasst, ich sagte nachher zu Micha einen weiteren, er wäre „vor Ehrfurcht erstarrt“, aber die Wahrheit war sicher die: Er überließ Matthäus kampflos den Ball, hat sich diesen „Ballverlust“ nach unbestätigten Angaben aber fürstlich mit einem Autogrammversprechen nach dem Spiel belohnen lassen.
Der Torwart rannte einmal noch ziemlich planlos aus dem Tor und ermöglichte in einem wirklich schwachen Spiel der Deutschen Mannschaft doch noch das Sieg- auf das dann freie -Tor durch Jürgen Klinsmann. Die Deutschen tun diese „Normalität“ dann immer als „Arbeitssieg“ ab. Und wenn andere Mannschaften in solchen Spielen Punkte abgeben, dann hat die Deutsche Arroganz auch immer eine Erklärung parat: die waren eben zu blöd. Wenn es die Deutschen doch nur auch endlich einmal erwischen würde…
Der zweite Tag begann aber besser. Im ersten Spiel konnte Irland gegen Italien durch ein frühes, aber deshalb nicht weniger tolles, Tor von Ronnie Whelan mit 1:0 gewinnen. Sicher konnte dieses Ergebnis nur günstig sein, sein, es war einfach super. Alle Favoriten sollten raus, nach Möglichkeit. Und Italien war einer. Ausrechnen konnte man da aber so gut wie gar nicht, was es einbrachte.
Das zweite Spiel des Tages war USA – Schweiz, welches mit 1:1 endete, ein ziemlich, auch finanziell, neutrales Ergebnis.
Danach das zweite Gruppenspiel der deutschen Gruppe, Spanien – Südkorea. Dieses Spiel war insofern wichtig, als praktisch auf allen Kombiwetten, die wir von Jessi erhalten hatten, Spanien angekreuzt war.. Dann schaute ich das nächtliche Spiel alleine. Mutter meines- und Kind schliefen längst, und auch die anderen beiden von mir mit „geerbten“ Kinder, schliefen natürlich (3 und 5). Besondere Hoffnung hatte ich auch nicht, dass Südkorea hier was holen würde. Der Kurs war ja sogar nur 1.30. Dennoch hatte ich noch ein Spiel von Südkorea in Erinnerung, von einer vorherigen Weltmeisterschaft, bei dem sie wesentlich besser aussahen als das Endergebnis aussagte. Vor allem habe sie reihenweise Fernschüsse abgegeben, die wirklich gut aussahen (es war das Spiel gegen Italien, WM 1986, 2:3).
Spanien ging irgendwann erwartungsgemäß in Führung, dann sogar das 2:0. Naja, wozu schaue ich noch? Na, ganz einfach, weil ich immer und prinzipiell alles schauen. Und Südkorea war auch in diesem Spiel nicht schlecht, beileibe nicht. Und plötzlich, 83. Minute, das 1:2. Ich habe mich wieder aufrecht hingesetzt. Geht da doch noch was? Und tatsächlich, meine Freunde, die Südkoreaner, schafften das Wunder, das 2:2 und den Schlusspfiff!
Das Bemerkenswerte an diesem Spiel war noch viel mehr, wie wir am nächsten Tag die Wetten von Jessi abgerechnet haben. Es war so eine gigantische Anzahl von Wetten, die dadurch sofort verloren waren, dass man sich wirklich mal für einen Moment wünschen konnte, immer Buchmacher zu sein. Dann regnet das Geld wirklich zum Fenster rein. Aber wie viel Glück hatten wir in dem Spiel gebraucht? Die Spanier waren eben zu blöd…
Zum Wochenende war die Deutsche Subbuteo Mannschaftsmeisterschaft in Wuppertal. Marcus, mein Freund und der Vorsitzende unseres Vereins mit dem hübschen Namen Sparta Spreeathen, versuchte unter allen Umständen, mich zum Mitkommen zu bewegen. Ich nur lapidar: „Ich kann nicht, ich hab Weltmeisterschaft.“ Marcus ließ nicht locker. Und als wir den Termin- genau durchgesehen hatten, machten wir unseren exakten Gegen- inklusive Zeitplan: Marcus nimmt seinen Videorekorder mit. Der 19.Juni war ein Sonntag, an dem fand das Turnier statt.
Das erste Spiel begann gelegentlich in Amerika um 12 Uhr mittags, was damals ziemlich viel Aufsehen erregte. Denn zumindest die Gruppe Belgien – Holland – Saudi Arabien – Marokko spielte in Florida. 40 Grad im Schatten waren eher Regel als Ausnahme. Aber es sollte einerseits für einheitliche, andererseits in Europa, wo immer noch der überwiegende Teil der (zahlenden) Zuschauer wohnte, für halbwegs zivile Anstoßzeiten gesorgt sein. Und das ließ sich nur mit diesem Kompromiss bewirken. Diese besondere Form des „Heimvorteils“ konnte Saudi-Arabien auch tatsächlich nutzen im Verlaufe dieser Gruppe. Sie kamen punktgleich mit Holland und Belgien souverän weiter. In Deutschland war es da also 18 Uhr. Das zweite Spiel begann dann um 21 Uhr, das (oftmals während der Vorrunde) dritte, nach meiner Erinnerung, um 0:30.
Der Videorekorder war installiert, ich bestand darauf. Wir hatten nur noch die Aufgabe, in Wuppertal bis 2:30 die Zeit zu vertreiben, was dort angesichts der hochgeklappten Bürgersteige normalerweise nicht ohne Probleme zu bewerkstelligen wäre. Aber was ist schon „normal“ während einer WM? Das größere Problem bestand darin, einen Ort zu finden, wo man unter keinen Umständen über die Ergebnisse informiert würde.
Beides gelang mir also, ich hatte einfach Scheuklappen und Ohropax mit. Und ab 2:30 wurde Fußball auf unserem gemeinsamem Hotelzimmer geschaut. Drei Spiele, in voller Länge, hintereinander, ohne jede Information vorher. Das war wie „live“. Schön, Belgien besiegte Marokko (trotz 40 Grad, die es allerdings nur im Schatten gewesen wären; auf dem Rasen war es wohl heißer), mit 1:0. Erwartet, dennoch kein großer Schaden. Danach besiegte Norwegen Mexiko, auch mit 1:0. Nicht erwartet, aber weder günstig noch ungünstig (eins unser eigenen Pferdchen war Mexiko).
Und jetzt das für mich wichtigste Spiel. Das oben waren zwar nur Beispiele, aber sie stimmten wirklich. Wir hatten Rumänien auf Gruppensieg, auf Weiterkommen, auf möglichst viele Punkte, auf Sieg. Wir waren einfach nur Rumänen in dem Spiel. Aber den entscheidenden Anteil daran hatte Pelé. Denn er hatte den nächtlichen Gegner, Kolumbien, zum „Geheimfavoriten“ erklärt. Und Pelés Geheimfavorit ist so lange einer, bis er es ausgesprochen hat. Kolumbien sollte ausscheiden, das Spiel verlieren, nieder mit Kolumbien! Wie leicht man durch Wetten zum Rassisten werden kann!
Es war zwar mittlerweile nach 5 Uhr morgens, aber ich garantiert nicht müde. Das Spiel musste ich einfach noch anschauen. Und das war ein Fest! Ich stellte ganz unvermutet fest, dass ich irgendwo in meiner Ahnenliste doch rumänisches Blut hatte. 3:1 nahmen sie die Kolumbianer auseinander! Hagi, mein Schatz, machs noch einmal!
Wir räumten sofort danach das Hotelzimmer und traten die Heimreise an. Sicher haben wir uns am Steuer abgewechselt. Ich war jedenfalls auch da noch nicht müde. Wozu gibt es schließlich Adrenalin?
Wie gut und plastisch ich die Gruppenkonstellationen heute noch vor Augen habe, nährt die Hoffnung, dass das längst vermutete Alzheimer vielleicht doch noch ein bisschen Aufschub gewährt hat?
Eine ganz besondere Konstellation ergab sich zum Beispiel in der Gruppe Italien – Norwegen – Mexiko – Irland. Für uns sollte vor allem Italien nicht Gruppensieger werden. Mexiko und Irland hatten wir selber gespielt, die anderen alles auf Italien und Norwegen war insofern noch besser, als es dann Italien nicht wäre. Im ersten Spiel besiegte Irland Italien mit 1:0. Im zweiten Gruppenspiel besiegte Norwegen Mexiko mit 1:0. Am zweiten Spieltag kam es zur Paarung Norwegen – Italien. Man muss dazu noch erwähnen, dass bei dieser WM zwar nur 24 Mannschaften am Start waren (heute sind es 32), aber dennoch ein Achtelfinale mit 16 Mannschaften gespielt werden sollte. Das ergab die kuriose Regelung, dass die ersten beiden jeder Gruppe sicher weiter waren, aber von den Gruppendritten nur die vier besten. Die beiden schlechtesten mussten ebenfalls nach Hause.
Diese Regelung bietet zwar auch einige Spannung, hat aber folgende gravierende Nachteile: Um die Anzahl der Mannschaften von 32 auf 24 zu reduzieren werden insgesamt 6 * 6 Spiele, also 36 Spiele ausgetragen. Das ist eine ganze Menge. Dazu ergibt sich das Problem, dass die Mannschaften, deren Gruppen zuerst spielen, noch gar nicht wissen können, ob ihr Ergebnis, ihr dritter Platz, falls sie dort landen, reichen wird. Das ist ganz sicher eine Form von „Wettbewerbsverzerrung“. Für mich hat es den ganz winzigen Nachteil, dass ich nicht mehr genau weiß, wer wann welche Absichten und welche Gewissheiten hatte.
Zurück zum Spiel Norwegen –Italien: Nach der Niederlage im Spiel gegen Irland war klar, dass Italien dieses Spiel einfach gewinnen musste. Ein Remis könnte, abgesehen davon, dass man das letzte Spiel dann erst mal gegen starke Mexikaner gewinnen müsste, selbst dann noch das Aus bedeuten. Kleiner Wehrmutstropfen aus Italiener Sicht aber: Schon nach wenigen Minuten musste der Torwart nach einer Notbremse vom Platz. Aber die Italiener (haben sie den Rechenschieber eigentlich erfunden?) wären nicht Italiener, wenn sie nicht wüssten, wie man auf dem Fußballplatz mit solchen Ereignissen umgeht. Sie gewannen das Spiel auch mit 10 gegen 11 mit 1:0. Dem italienischen Ergebnis.
Das zweite Spiel des zweiten Spieltages gewann ein wirklich starkes Mexiko gar mit 2:1 gegen Irland. Das ergab vor dem letzten Spieltag die kuriose Situation, dass alle Mannschaften 3 Punkte hatten. Nur hatten Mexiko und Irland den Vorteil, dass sie 2:2 Tore hatten, Norwegen und Italien aber nur 1:1. Und mehr erzielte Tore sind dann etwas wert, wenn man punktgleich ins Ziel kommt. Hier hieß es also, dass Mexiko und Irland nur ein Remis im letzten Spiel benötigten. Sie hätten dann in allen Fällen zumindest zwei Mannschaften hinter sich.
Die Entwicklung der beiden parallel ausgetragenen Spiele ist mir auch in bleibender Erinnerung geblieben. Vor allem geschieht das deshalb, weil ich mich immer wieder frage, welche Rolle eigentlich die Berichterstatter spielen. Also wenn ich Berichterstatter wäre, würde ich zumindest dem Zuschauer insoweit Aufklärung verschaffen wollen, dass er die Motivation der beiden Mannschaften kennt und erkennt. Die Reporter ihrerseits behaupten meist, dass „ ich Ihnen die Vielzahl der Konstellationen ersparen möchte“. Mir drängt sich dann meist die Frage auf, ob er sich nicht selber diese Vielzahl ersparen möchte beziehungsweise habe ich absolut berechtigte Zweifel daran, dass er die Konstellationen überhaupt überblickt und es sich im Grunde selber sparen möchte. Nach dem Motto: „Schauen wir mal, was rauskommt und werfen dann einen Blick auf die Tabellen.“ Wozu haben wir schließlich einen Kaiser?
Tatsächlich ging in dem ersten Spiel Italien in Führung. Das war nun für mich ungünstig, selbstverständlich, aber für Italien sehr günstig, keine Frage. Der Sprecher erklärte auch ständig, dass „Italien einen Sieg brauche“. Als die Mexikaner ausglichen, was für mich phantastisch war, da ich auch noch Mexiko auf Gruppensieg hatte (Quote 9.0) und sie bei diesem Ergebnis und dem Zwischenstand im anderen Spiel zunächst auf Platz 1 waren. Dass der designierte Favoritensieg für mich im Falle des Nichteintretens auch günstig war, verdient kaum Erwähnung.
Die Spielzeit ging allmählich zu Ende und ich war kurz davor, mir eine Flasche Champagner zu öffnen. Das Parallelspiel stand noch immer 0:0. Und hier ein Beleg für meine Zweifel an der Reporterkompetenz: Während der Trainer der Italiener, Arrigo Sacchi, in den letzten Minuten an der Seitenlinie seine Mannen erkennbar nach hinten dirigierte, um ja das Ergebnis über die Runden zu bringen, wollte der Berichterstatter in einem Anflug von Spannungserzeugung sie nach vorne treiben „Italien braucht noch ein Tor…“.
Arrigo Sacchi benötigte übrigens nicht mal den oben erwähnten Rechenschieber, um auszurechnen, dass das Unentschieden seiner Mannschaft die sichere Qualifikation für die nächste Runde bedeuten würde. Die Konstellation war nämlich bei den Zwischenständen die, dass alle Mannschaften 4 Punkte hatten. Italien würde mit ihren nunmehr 2:2 Toren zwar nur auf Platz 3 landen, dieser würde aber, wegen der 4 Punkte, ganz sicher zum Weiterkommen reichen. Selbst wenn noch nicht alle Gruppen beendet waren (Südkorea aus der Deutschlandgruppe war bereits mit 2 Punkten schlechter), konnten es nicht mehr alle anderen schaffen, auf mehr als diese 4 Punkte zu kommen. Und wenn im Parallelspiel noch ein Tor fallen würde, dann würde es Italien auf keinen Fall den 3.Platz kosten, da ja dann der Verliere des Spiels hinter ihnen liegen würde. Und wenn das absolute Wunder geschehen würde, dass der Gegner dann noch ausgleichen würde, also das Parallelspiel 1:1 enden würde, dann wäre die folgende Konstellation entstanden: Alle Mannschaften 4 Punkte, wie gehabt. Mexiko 3:3 Tore, durch. Irland 3:3 Tore, durch. Italien und Norwegen 2:2 Tore. Bei Punkt- und Torgleichheit entscheidet das direkte Duell. Und das ging genau in diesem Fall an Italien. Also nicht einmal diese extrem unwahrscheinliche Sequenz hätte Nachteile für Italien gehabt.
Die einzige Möglichkeit, dass Italien noch hätte ausscheiden können, wäre die, dass das Spiel Irland – Norwegen noch 2:2 (oder auch 3:3) endet. Und davor hatte Arrigo Sacchi keine Angst mehr. Es war schlichtweg unmöglich, schon allein aus Zeitgründen. Meinem geliebten Kommentator sind all diese Feinheiten wohl entgangen. Oder meinte er es Ernst, dass er mich „damit nicht belästigen“ wollte? Italien braucht ein Tor, das war es, was er mir verkaufen wollte. Die Italiener ihrerseits schoben den Ball gemütlich ihn und her.
Beide Spiele endeten so, wie sie auch standen. Vier Mannschaften, alle vier punktgleich. Tragisch für Norwegen, mit so einer Ausbeute nach Hause fahren zu müssen. Aber immerhin kann man ja sagen, dass sie vor dem letzten Spiel wussten, was sie brauchten und das Ziel nicht erreicht haben.
Die Tragik ist ja dann wohl etwas kleiner, als die, die 4 Jahre später Marokko betraf, die Schottland klar besiegt hatten und nur noch auf das Ergebnis des zweiten Spiels warten mussten. In dem führte Brasilien übrigens gerade gegen Norwegen kurz vor Schluss mit 1:0. Für Brasilien war das Spiel aber unwichtig, da sie bereits zwei Siege hatten. Dann „drehte“ Norwegen das Spiel zum 2:1 und Marokko war raus. Da gab es dann wirklich Tränen auf dem Platz.
Ein weiteres Spiel ist mir in sehr lebhafter Erinnerung. Und für die Welt war es wohl das unwichtigste der ganzen Weltmeisterschaft: Es war das Vorrundenspiel zwischen Bolivien und Südkorea. Dafür gab es mehrere Gründe: Es war das letzte Spiel des Tages, also bei uns der frühe Morgen. Die Stadt schlief. Ich saß einerseits Pflicht bewusst, andererseits auch fußballverrückt noch vor dem Fernseher. Das Spiel wurde kommentiert von Lothar Hempel. Und ich wollte allen Ernstes am nächsten Tag bei Eurosport anrufen, um mich für die seit langem beste Reporterleistung bei einem Fußballspiel zu bedanken. Ich kann die deutschen Sprecher einfach nicht ertragen, das ist grundsätzlich so. Insofern ist es ja meine Pflicht, dann, wenn jemand mal wirklich eine gute Leistung bringt, diese auch zu würdigen. Vor allem weil es heißen würde, auch für die anderen: So muss man es machen. Vielleicht gibt es ja dann den Fortpflanzungseffekt?
Es kam dazu, dass beide Mannschaften unbedingt gewinnen wollten. Ob sie nun ernsthafte Hoffnungen hatten, noch weiter zu kommen, oder ob sie es einfach nur aus Fußball Begeisterung getan haben, ist nicht mal eine relevante Fragestellung. Beide wollten gewinnen. Und beide spielten offensiv. Es war, wenn man es genau nimmt, vergleichbar mit dem legendären Brasilien – Frankreich Spiel bei der WM 1990. Nur, dass bei den Nationen Bolivien und Südkorea die Welt nicht aufhorcht. Dass der Spielstand durchgehend und unverändert 0:0 war, gibt dem ganzen noch eine witzige Komponente. Und der letzte Akt folgte ja noch: das Spiel bekam dadurch noch Legendencharakter, dass der schottische Schiedsrichter Mottram offensichtlich selber total begeistert von dem Spiel war und die Bemühungen einfach für die eine oder die andere Seite belohnt werden müssten, so dass er 13 Minuten nachspielen ließ! Ich selber hatte eine ganz einfache Erklärung: Diese dämliche neuzeitliche Erfindung, die Nachspielzeit anzuzeigen, gab es noch nicht. Seitdem ist die Nachspielzeit nur noch eine Farce, die aus Zeit totschlagen der einen, mit dem Ergebnis zufriedenen Mannschaft besteht. Damals war es, wenn man so will, Willkür des Schiedsrichters, seiner Einschätzung überlassen.
Meine Beobachtungen damals waren so, dass der Schiedsrichter oftmals auf einen günstigen Zeitpunkt zum Abpfeifen gewartet hat. Wenn der Ball irgendwann mal ganz ruhig im Mittelfeld hin oder zurück gespielt wurde, dann pfiff er ab. Aber eine solche Situation gab es bei diesem Spiel nicht im Entferntesten. Es war so, dass die Mannschaft, die den Ball hatte, sofort und unwiderstehlich nach vorne stürmte. Den Angriff musste er ja noch laufen lassen. Aber wenn der Angriff (oftmals durch riesige Zufälle, da ja gar keine Verteidigung mehr auf dem Platz war) abgefangen wurde, dann gab es sofort den ebenso unwiderstehlichen Vorwärtsdrang der anderen Mannschaft. Der Schiedsrichter hatte, selbst bei bestem Willen, einfach keine Gelegenheit, abzupfeifen.
Südkorea selber hatte nach diesem Spiel zwei Punkte, da sie ja den Spaniern den einen Punkt noch abgenommen hatten. Das bedeutete, sie mussten gegen Deutschland im letzten Spiel gewinnen, so oder so. Das lässt ihren Offensivdrang im vorher beschriebenen Spiel noch besser verstehen. Denn ein Gegentor, also ein Tor für Bolivien, hätte ihre Ausgangslage ja überhaupt nicht verändert. Sie mussten Deutschland schlagen. Und wenn es gelänge, wären sie weiter.
Und auch dieses Spiel hat Erinnerungswert. Für mich vor allem deshalb, weil ich die (Fehl-)Einschätzung einfach nicht nachvollziehen kann. Deutschland war zwar in der ersten Halbzeit durch teilweise wirklich tolle Tore mit 3:0 in Führung gegangen. Aber rein spielerisch hatte Südkorea ohnehin gut mitgehalten. Außerdem muss man doch irgendwann mal auch aus deutscher Sicht einen Gegner „Ernst nehmen.“ Sie hatten ein Remis gegen eine der großen Nationen erstritten. Und das höchstens vom Verlauf her mit Glück. Deutschland war in der zweiten Halbzeit schlichtweg „platt“. Sie konnten nicht mehr oder hatten sie das Spiel bereits abgehakt? Jedenfalls kam Südkorea so auf, genau wie gegen Spanien, auf 2:3 heran. Und danach gab es ein Bombardement des Deutschen Tores. Schuss auf Schuss. Und wie viel Glück sie dabei hatten und wie wenig ich ihnen dieses gegönnt habe!
Sicher, ich war „befangen“. Hatte mein Geld im Spiel. Ein Ausscheiden der Deutschen wäre so ein (finanzielles) Fest gewesen. Aber um in diesem Spiel für Südkorea zu sein, da brauchte ich keine Geldeinsatz. Ich schätze mal, ich hätte freiwillig auf alles Geld verzichtet, wenn nur die Deutschen rausgeflogen wären. Aber keiner versteht mich. Nun gut, das übliche geschah. Deutschland hielt das 3:2 und war, wie immer, Gruppensieger.
Bemerkenswert noch Gruppe F: dass Holland, wie erwartet, Gruppensieger wurde, war nichts Besonderes. Nur: wie sie Gruppensieger wurden schon eher. Sie waren punkt- und torgleich mit Saudi-Arabien! Beide Mannschaften hatten am Schluss 6 Punkte und 4:3 Tore, nur hatte Holland den direkten Vergleich gewonnen. Das haben viele sicher vergessen, die mal wieder den Deutschen 8:0 Sieg gegen die Saudis im ersten Spiel der WM 2002 als „selbstverständlich“ und die Saudis als „Kanonenfutter“ betrachteten. Aber sowie Deutschland auftritt, dreht sich die Welt einfach ein bisschen anders…
Natürlich war das für mich beste Spiel das Spiel USA – Kolumbien. Das ganze Geld war auf „Geheimfavorit“ Kolumbien gelandet, nur meines nicht. Das hatte sich auf das Gegenereignis „Raus mit Kolumbien“ befunden. Nach der Auftaktniederlage gegen Rumänien musste Kolumbien das Spiel einfach gewinnen. Das wusste die ganze Welt. Außer mir und Pablo Escobar. Er hat den Ball, nach meiner Meinung unglücklich, ins eigene Tor gelenkt. Mir hat das Tor jede Menge Geld eingebracht, den kolumbianischen Verteidiger hat es jede Menge gekostet. Aber nicht Geld sondern gleich das ganze Leben. Zwei Wochen später wurde er ermordet. Bei mir fielen die Feierlichkeiten nach diesem, dem teuerstes Spiel meines Lebens, aber eher knapp aus. Es war bei Abpfiff 2:30. Ich trank ein Glas Wodka (das einzige, was ich auftreiben konnte) und legte mich selig ins Bett.
Natürlich wird man oft gefragt: „Was war dein größter Gewinn?“ Nur ist es prinzipiell so, dass die Frager nach meiner erschöpfenden aber dennoch alles offen lassenden 5-minütigen Antwort ihre Frage zurückziehen würden, falls sie bereits da zu Wort kommen könnten. „So genau wollte ich es gar nicht wissen.“ Bei Ihrem mittlerweile aufgebauten Verständnis (jenes für meine kranke Psyche meine ich) kann ich hier ja mal antworten:
Dieses Spiel war gefühlsmäßig das mit dem höchsten swing in meinem Leben. Denn Kolumbien war unwiderruflich ausgeschieden, das stand fest. Die gesammelten (angenommenen) Einsätze auf den Sieg in dem Spiel selber mögen auch sehr hoch gewesen sein. Aber: der equityzugewinn durch das Ergebnis war sicher nicht so gigantisch hoch. Denn die sehr hohen Wetten auf Kolumbien Weiterkommen waren ja nach der Auftaktniederlage gegen Rumänien nicht mehr so sehr viel wert. Sie hatten also gewaltig an equity eingebüßt. Diese Einbuße ging zu unseren Gunsten, die diese verlorene equity auf diese Wetten ja bereits, wenn auch nur rechnerisch, gewonnen hatten. Wenn ich also von einem swing von 120000 DM spreche, dann ist auch diese Zahl eigentlich falsch.
Wenn Kolumbien also das Spiel gewonnen hätte, dann hätte dem Weiterkommen noch ein entsprechendes Ergebnis aus dem Abschlussspiel gegen die Schweiz vorgestanden. Und es wäre sogar möglich, dass ein Unentschieden dann nicht gereicht hätte zum Weiterkommen. Aber auch sonst wäre der Sieg oder das Unentschieden gegen die Schweiz ja nicht bei 100%. Abgesehen davon war ja ein weiterer erheblicher Teil der Wetten noch auf Gruppensieg Kolumbien eingegangen. Und auch dieser Teil war sofort verloren nach der Niederlage, wäre aber schon bei einem Unentschieden auch komplett weg gewesen. Die equity auf die Wetten auf Gruppensieg war noch wesentlich kleiner als die auf Weiterkommen.
Ich schätze mal, dass der sofortige Gewinn mit diesem Spiel bei 60000 DM lag. Der swing mag auch wirklich 120000 DM betragen haben. Nur dadurch, dass die Wetten die bereits geringere equity hatten, bleibt vielleicht ein objektiver Zugewinn, also der Equityzugewinn, von 30000 DM. Damit wäre es natürlich nicht mehr das teuerste Spiel meines Lebens und auch nicht der höchste Gewinn meines Lebens.
Abgesehen davon zielt ja die Frage nach dem höchsten Gewinn nicht unbedingt auf ein Spiel sondern vielleicht auf einen Tag, ein Wochenende, eine spezielle Wette ab? Man weiß es nicht. So, ich schätze mal, die 5 Minuten sind rum. Und Erhellung haben meine Erläuterungen auch nicht gebracht. Bei mir zumindest war das Blatt vorher weiß und ist jetzt in großen Teilen schwarz. Da kann von „Erhellung“ ja nun wirklich keine Rede sein.
Im Achtelfinale spielte Deutschland gegen Belgien. Es mag sein, dass es auch den einen oder anderen „härteren Brocken“ gegeben hätte, aber ach die Belgier hatten nach meines dämlichen Computers Berechnungen eine Chance von ca. 25% auf Weiterkommen. Falls es so viele Prozente waren, so wurden sie zumindest in diesem Spiel nicht realisiert. Aber als die Belgier kurz vor Schluss das 2:3 Anschlusstor erzielten (Albert), kann ich zumindest erwähnen, dass ich für ein paar Minuten mal wieder auf dem (heimatlichen) Tisch gestanden habe. Denn Belgien machte jetzt auch noch wirklich Druck. Aber Glück, Geschick, Schicksal (?) waren wieder einmal auf Deutscher Seite. Papst in der Tasche, Gott Deutscher, man weiß es nicht. Ich konnte den Tisch dennoch wieder unversehrt verlassen. Für einen Todessprung reichten Höhe und Anlass aber sowieso nicht aus.
Immerhin gab es ja noch ein Viertelfinale, Halbfinale und Finale, was die Deutschen stoppen konnte. Und es wurde mehr und mehr zur Privatfehde zwischen mir und dem deutschen Glück. Aber es war tatsächlich im Viertelfinale aufgebraucht. Ich sage die Namen, nur mal so, für mich, sie vergehen einem auf der Zunge, besser als Trüffel oder Auster: Hristo Stoichkov und Yordan Letchkov. Stoichkov mit einem verwandelten Freistoß, Letchkov mit dem „diving header“, ein Flugkopfball. 2:1 für Bulgarien.
Und mit der im Gewinn so einfachen Objektivität und der dadurch gewonnenen Nonchalance darf ich anmerken: In diesem Spiel hatte Deutschland wirklich Pech. Sie führten verdient mit 1:0 durch Rudi Völler. Und dann kam eine Szene, die viele sicher nicht mehr in der ihr gebührenden Erinnerung haben (Sie sind natürlich die Ausnahme). Andy Möller feuerte ab und ließ es tatsächlich krachen. Den Krach verursachte allerdings der Ball, der nur den Pfosten traf. Aber wozu haben wir denn Rudi Völler, den Mann mit dem wunderbar ausgeprägten Geruchssinn, auch wenn einseitig. Er „roch“ also, wo der Ball hinging und war da, schubste den Abpraller über die Linie.
Das ist an sich nichts Ungewöhnliches und in 1000 Vorgängerszenen schon gesehen, erlebt. Nur die Konsequenz hier hatte Einzigartigkeitscharakter, aber nur bis zu diesem Zeitpunkt: Der Assistent hob die Fahne, der Schiri pfiff. Abseits. Die Überraschung war allerseits groß. Man konnte aber rekonstruieren: Beim Schuss von Möller war Rudi Völler tatsächlich der gegnerischen Torauslinie näher als zumindest zwei gegnerische Spieler. Das erfüllte insofern die Bedingungen für Abseits. Der Sprecher erklärte sich also mit der Entscheidung einverstanden. Nur war so eine Situation früher nie auf Abseits entschieden worden.
Es war so, dass es bei einem direkten Torschuss kein Abseits gab, das war selbstverständlich. Und wenn der Ball abprallte und zurückkam so war gar keine Rede mehr von „Abseits“. Es war, wenn ich es regeltechnisch ausdrücken darf, ohne dass dies erwähnt wurde, „eine neue Spielsituation“. Der Torschuss war die eine Spielsituation, die ja mit einem Torschuss „abgeschlossen“ war. Danach entsteht eben eine neue. Wie gesagt, das war eine Art der Auslegung, wie sie, ohne es näher zu erwähnen, einfach praktisch gehandhabt wurde. Möller – Völler hat diese Auslegung an diesem Tage (zu meinem Wohle, aber nur vorübergehend; das Geld, was ich durch das Ausscheiden der Deutschen verdient habe, habe ich natürlich eingesackt und nicht den Regelkommissionen gestiftet; vorübergehend also nur insofern, als diese Form der Regelauslegung seitdem ständig mein Ärgernis erregt) Grund legend geändert. Nur hat es nie jemand gesagt, auch das nicht, und es ist auch explizit keine Regel geändert worden. Vorher wurde so gepfiffen, seitdem so. So entstehen Regeländerungen aufgrund einer geheimnisvollen Übereinkunft. Die Hintergründe dafür habe ich bis heute nicht verstanden. „Exempel statuiert“ sagen Juristen dazu?
Also, Deutschland war draußen. Später war in den Medien zu lesen und zu hören von einer „Katastrophen WM“. Wenn Deutschland also nicht mindestens ins Finale kommt, dann ist es einfach eine zumindest nationale Katastrophe. Das die restliche Welt hörbar durchatmet nimmt man in Deutschland kaum zur Kenntnis. Wir sind und bleiben Weltmeister auf alle Zeiten. Was die Mannschaft allerdings prinzipiell spielerisch und taktisch, läuferisch und mental von den anderen so positiv abheben soll, bleibt obskur. Es ist eben so. Deutschland ist eine Turniermannschaft. Basta. Außerdem, nicht zu vergessen, „die Deutschen Tugenden“. Na dann.
So viele Details sich mir in der Vorrunde auch eingeprägt haben mögen, im weiteren Verlauf des Turniers hat das merklich nachgelassen. Die besondere Zeit bei einer Weltmeisterschaft ist für mich immer die, wo noch alle Mannschaften dabei sind, wo ich möglichst viele Exoten aber auch möglichst viele Spiele sehen (und auch wetten) kann. Wenn die anderen immer sagen: „Jetzt wird’s erst richtig spannend.“ dann wird es für mich zwar nicht langweilig aber auch ganz sicher nicht „besonders spannend.“
Und Depressionen bekomme ich, wenn ich so ein Finale sehe, bei dem wieder mal zwei „Große“ aufeinander treffen, in dem Jahr Brasilien und Italien, die Mannschaften insgesamt „kein Risiko eingehen wollen“ (was ist das Risiko eigentlich? Das Risiko, zu verlieren? Spätestens nach dem Elferschiessen hat ja doch einer verloren), sich tatsächlich mit 0:0 „trennen“, sich aber gar nicht trennen dürfen und dazu verurteilt werden, in aller Öffentlichkeit Roulette zu spielen, allerdings in der russischen Variante. Ich schaue das Elfmeterschiessen einfach nicht an. Nicht, weil ich es „vor Aufregung nicht aushalte“, sondern weil es mir total langweilig und uninteressant, eher schon ein Ärgernis ist.
Da werden irgendwelche „Helden“, die die Heldentat vollbringen, dass sie ein auf die Schlachtbank geführter Verurteilter „anschießt“, der genau weiß, dass, wenn er jetzt „versagt“ eine ganze Nation in Trauer versetzt wird, obwohl er nichts, aber auch gar nichts dafür kann. Der Torwart hat durch Zufall die gleiche Ecke gewählt wie er und hat den Ball abbekommen. Es gibt keine guten und schlechten Leistungen und keine Helden und keine Versager. Es gibt nur, wenn überhaupt, ein Glücksspiel, was öffentlich ausgetragen wird und Helden gebären soll, aber auch die Versager. Diese werden dann auch noch öffentlich angeprangert und geächtet. Wie ging das im alten Rom? Gladiatorenkämpfe?
War es nicht ausgerechnet Roberto Baggio, der im Turnier klar beste Italiener, der auch noch bis dahin 16 von 16 Elfern verwandelt hatte für sein Land, der den Elfmeter im finalen, künstlichen Showdown in die Wolken schoss? Ich hoffe nur für ihn, dass sein Ansehen in Italien darunter nicht gelitten hat. Ob er persönlich das je verwunden hat, weiß ich nicht. Er hat meine größte Anteilnahme. Aber tragischen Helden kann ich zumindest spielend leicht immer Sympathien zuteilen. Aber die ausschließlich glücklichen Gewinner in den Heldenstatus zu erheben? Das ist einfach lächerlich. Wenn sie es wenigstens anschließend sagen würden, eingestehen. Mögen sie sich meinetwegen freuen. Aber bitte, sagt im ersten Interview: „Es war Glück, Glück, Glück und nichts als Glück. Wir danken dafür. Aber wir wissen darum.“