Nachdem nun hergeleitet wurde, wo die Missstände gesehen werden und wo sie herkommen könnten, dazu welche Verantwortung gegenüber dem Fußball besteht um ihn in seiner Größe und weltweiten Dominanz unter den Sportarten zu erhalten, kann man in den einzelnen Abschnitten nachvollziehen, zum Teil an sehr konkreten Beispielen, wie sehr sich das auswirkt und wie einfach die Forderungen umzusetzen wären. Dazu dienen einige tiefer analysierte Beispiele der weiteren Verinnerlichung. Die wiederkehrend erwähnten, zentralen, wenn auch immer wieder umformulierten oder umsortierten Grundüberlegungen sind die:
Es geht um den Erhalt oder die Rückgewinnung des neutralen Zuschauers, der einen erheblichen Anteil am Wachstum haben könnte, was stets mit der angestrebten Steigerung von
Spannung, Attraktivität und Gerechtigkeit zusammenhängt.
Es wird die Anwendung bestehender Regeln gefordert
Es wird ein generelles Umdenken gefordert, durch welches die Torsituationen begünstigt werden sollen
Als erstes wird die Mutter aller Fußball Regeln in diesem Zusammenhang,
Das Abseits
sehr genau unter die Lupe genommen. Die Beweistechniken, die für jede noch so gewagte These zur Überprüfung angeboten werden, möge man stets im Hinterkopf behalten, werden aber situationsbedingt hier und da konkret angeboten. Auf das Abseits bezogen ist es zunächst jene, dass die Statistik über die Abseits Fehlentscheidungen mitgeführt werden müsste. War eine kritische Situation pro oder contra Angreifer ausgefallen? Was wäre die anerkanntermaßen richtige Entscheidung gewesen? Die Fehler, und nur diese, werden ins Verhältnis gesetzt.
Es gibt und gab zu allen Zeiten das Problem, dass die Abseitsregel zwar für sinnvoll erachtet wurde — ein Abschaffen kommt nicht ernsthaft in Betracht, wie zwar wiederkehrend von verschiedener Seite gefordert, jedoch würde eine komplette Umwälzung des gesamten Spiels und seiner Taktik einhergehen, mit völlig unübersichtlichen Folgen — , jedoch sich die Umsetzung und korrekte Anwendung als problematisch erwies. Nun gibt es eine uralte Fußballerweisheit, die da lautet: Am Ende gleicht sich alles aus. So schön diese Weisheit auch klingt, und sogar sicher hier ihre korrekte Anwendung finden mag, sie trifft nicht den Kern der Sache. Es gibt eine der Regel und ihrer Anwendung immanente Ungerechtigkeit. Dass diese vielleicht hier oder da längst erkannt wurde, ändert nichts daran, dass die Ursache noch nicht richtig gedeutet wurde.
Insofern bietet es sich an, sehr behutsam vorzugehen. Es historisch zu betrachten ist zumindest ein möglicher Ansatz. Die eigens entwickelte Theorie darüber lautet: In grauer Vorzeit war es zwar ebenfalls so, dass die Abseitsregel nicht immer korrekt angewendet wurde – sprich: es kam gerade bei Abseitsentscheidungen zu einer hohen Fehlerquote –, jedoch waren längst nicht in allen Stadien und an allen Ecken und Enden Kameras aufgebaut, welche die Fehler (schamlos) aufdeckten, zudem gab es noch lange keine Schiedsrichterbeobachter.
Die Folge war aber nicht etwa die neuzeitliche – die im Anschluss erörtert und als ernsthaft bedenklich eingestuft wird –, sondern die, dass man als (damals noch) Linienrichter die Fahne ganz gerne mal unten ließ, wenn es sich um die Angreifer der Heimmannschaft handelte, sie entsprechend häufiger hochriss, da sich die Auswärtsmannschaft im Angriff befand. Damals fühlte sich der für die Entscheidung verantwortliche im Stadion der Heimmannschaft von den Zuschauern ausreichend geschützt, gar ermutigt oder im Extremfall unter Druck gesetzt. Jedoch handelte man in ihrem Sinne, wenn auch gelegentlich falsch. Schlimmstenfalls musste man befürchten, dass ein übereifriger (Gäste-)Reporter am nächsten Tag in die Zeitung setzte, dass es ein irreguläres Tor für die Heimmannschaft gab. Auch dies lässt sich übrigens an Zahlenmaterial überprüfen, zumindest insoweit, als der Heimvorteil in früheren Jahren recht erheblich größer war – wofür aber nicht nur die Fehler bei Abseitsentscheidungen ursächlich waren.
Heute decken die Kameras jeden Fehler schonungslos auf. Dazu gibt es Schiedsrichterbeobachter, die kleinlich jeden Fehler notieren und über die Karriere des einzelnen Regeloffiziellen bestimmen. Das Kriterium des Schutzes durch Heimzuschauer fällt zu einem erheblichen Teil weg. Insofern gibt es heute andere Kriterien und Ursachen, die für das Hochreißen – oder das eher seltene unten lassen – verantwortlich sind.
Hier ein paar Behauptungen über das Abseits in der Neuzeit:
Behauptung 1: Die Abseitsfehlentscheidungen fallen zu einem hohen Prozentsatz gegen die Angreifer aus
Behauptung 2: Laut Regel sollte es umgekehrt sein.
Die häufig angebotenen Ursachen der Berichterstatter, derart „das war für das bloße menschliche Auge schwer zu erkennen“ oder das „oh, hier habe ich mich selber vertan“ gefolgt von einem „kein Vorwurf an den Assistenten“ gehen am Kern der Sache vorbei.
Behauptung 3: die wahren Ursachen liegen im Bereich der Psychologie, die unausgesprochenen Gedanken lauten in etwa so „wenn ich auf Abseits entscheide, passiert mir nichts“ und „Oh, steht der frei, der war sicher Abseits, hoch mit der Fahne“, beziehungsweise „Oh je, wenn ich da jetzt laufen lasse und ein Tor fällt bin ich verantwortlich für den Ausgang des Spiels. Hoch mit der Fahne!“ Intuitiv wird es ergänzt durch den Gedanken „Wenn ich winke, bin ich es nicht, selbst wenn das Winken zu Unrecht geschieht.“.
Behauptung 4: Die Amis haben zur WM in ihrem Lande – und man beachte, dass sie nur ein einziges Mal die Verantwortung mitgetragen haben – die genialste Regeländerung beziehungsweise Schiedsrichteranweisung aller Zeiten gefunden, die alles ausdrückt, nicht nur auf Abseits bezogen: Im Zweifel für den Angreifer auszulegen.
Die Behauptungen werden im Folgenden im Gesamtpaket abgearbeitet, da selbstverständlich alle Punkte ineinander greifen.
Zu Behauptung 1 sei erwähnt, dass es sich um die Abseitsfehlentscheidungen handelt. Da die Formulierung gelegentlich Verwirrung auslöst, hier die Erklärung: Es gibt die Entscheidungen, in denen auf Abseits entschieden wird, die Kameras aber aufdecken, dass es kein Abseits war. Dann gibt es die, da das Spiel weiter lief und der Nachweis erbracht wird, dass es hätte unterbunden werden müssen. Diese beiden Fehler werden jeweils aufaddiert und ins Verhältnis gesetzt. Die Behauptung lautet: Es gibt einen hohen, weit über 50% liegenden Prozentsatz von Entscheidungen, die zu Ungunsten der Angreifer ausfallen.
Wesentlich wird es an dieser Stelle, die diesbezüglichen Zweifel auszuräumen. Sofern sie tatsächlich bestehen, bietet es sich an — gerne für sich selbst, aber wer tut das schon; hier genügte ein intuitives Beurteilen, welches schon klare Ergebnisse liefert, sobald man die Aufmerksamkeit darauf lenkt, aber genauso gerne offiziell — die Statistik der fehlerhaften Abseitsentscheidungen mitzuführen. Beispielsweise zunächst – aufgrund des sehr leichten Einblicks und der hohen Medienpräsenz einfach — für die 1. Fußball Bundesliga, aber selbstverständlich ebenso gerne für alle anderen Ligen.
Bereits nach einem einzigen Spieltag wäre die Statistik mit ziemlicher Sicherheit erdrückend. Falls aber nicht, so würde man sie eben weiterführen und sehr bald ein eindeutiges Ergebnis erhalten.
Abgesehen davon sollte, laut niedergeschriebener Regel, das Verhältnis ja umgekehrt ausfallen. Durch das „Im Zweifel für..“ müsste nach eigener Auffassung die Statistik so etwa ab 60:40 zugunsten der Angreifer ausfallen, damit die Klausel erkennbar angewendet worden wäre. Nach oben angepasst wäre es aber keine Schande für die Pfeifenmänner, da sie explizit dazu aufgefordert werden, ruhig mal einen Fehler in diese Richtung, pro Angreifer, zu machen.
Sofern die Statistik nun (mehr oder weniger erzwungen) akzeptiert wurde, kommen einige interessante Überlegungen, die sich mit den Ursachen beschäftigen. Sofern der Leser an dieser Stelle mitgeht, ist er natürlich jederzeit aufgefordert, seine eigenen Überlegungen anzustellen – falls nicht schon längst geschehen –, bevor er weiter liest. Die Behauptung steht übrigens, dass es sich um grob geschätzte 90% der Fehlentscheidungen handelt, die entgegen der Angreifer ausfallen.
Hier gerne die möglichen und bereits angetroffenen Erklärungen. Allesamt haben natürlich ihre Bewandtnis und Stichhaltigkeit, Jedoch werden sie bei genauerer Betrachtung vor allem gegenüber der angebotenen wahren Erläuterung recht fad und verlieren ihre Überzeugungskraft oder werden zu Einzelfällen.
a. Die Geschwindigkeit der Aktion
Natürlich ist es richtig, dass der Fußball immer schneller geworden ist. Dazu kommt, dass ein taktisches Mittel – welches übrigens erstmals kollektiv von der belgischen Nationalmannschaft angewendet wurde – heute bei allen Verteidigungslinien Gang und Gäbe ist: Die Abseitsfalle. Sie bewirkt, dass sich die Verteidiger – im Idealfall gleichzeitig — nach vorne bewegen, während der Angreifer zeitgleich entgegengesetzt hineinläuft. Diese Gegenbewegung bewirkt einen doppelt so großen Vorsprung des Stürmers gegenüber früher, ohne Abseitsfalle. Intuitiv wird es dadurch empfunden als „noch mehr Abseits“. Sicher richtig und Teil des Problems, aber nicht der Kern. Oftmals denkt man, selbst als Zuschauer: „Der ist so frei, der war sicher Abseits“, und wird von der Zeitlupe im Anschluss eines Besseren belehrt.
b. Die Überforderung des menschlichen Auges
Natürlich hauptsächlich angegeben als Ursache für die Fehler. Dies wurde sicher schon zu Zeiten behauptet, als es die oben beschriebene Gegenbewegung Verteidiger-Angreifer noch nicht gab. Es ist ebenfalls richtig, dass es extrem schwer ist, das richtig hinzubekommen. Jedoch gerade deshalb wurde ja die „Erleichterungsklausel“ aufgenommen, die einem bei Zweifeln – für die es im Übrigen fast immer Anlass gibt — das „Fahne unten lassen“ anheim legt.
Tatsache ist, dass es sehr schwer ist. Tatsache aber auch, dass es laut Regel leicht wäre, sich für die Angreifer zu entscheiden. Tatsache ist auch, dass „schwierig zu entscheiden“ niemals eine eindeutige Statistik zugunsten einer Partei erklären könnte, es sei denn…
c. Abseits wird gehört und nicht gesehen
Dies die Erklärung, die ein Schiedsrichter zu dem Thema abgegeben hat. Auf die Frage, zu wie viel Prozent er die Fehler entgegen der Angreifer einschätzt, kam er auf solide 80%, die, selbst wenn noch unterschätzt, immerhin ein eindeutiges Ergebnis ausweisen, bei dem das Nachforschen der Ursachen lohnt.
Angesprochen auf die eigene Einschätzung nach der dafür verantwortlichen Ursache kam die verblüffende Antwort – die anscheinend bei einem Schiedsrichterlehrgang vertreten wurde –, dass Abseits gehört und nicht gesehen wird. Nun, die Logik entbehrt nicht einer gewissen Komik und wird hier gerne angegeben:
Als Assistent schaue man auf die Angreiferlinie im Verhältnis zur Abwehrlinie. Sobald der Steilpass erfolgt, wird die Situation beurteilt. Nur: Wann ist sie erfolgt? Natürlich für den Assistenten dann, wenn er das Abspiel hört, da sein Auge ja vorne ist. Der Schall hätte aber eine geringere Ausbreitungsgeschwindigkeit als das Licht. Insofern sind die verstreichenden Hundertstelsekunden dafür verantwortlich, dass sich Stürmer und Abwehrspieler die entscheidenden Zentimeter weiterbewegt haben, die einem das Abseits suggerieren. Hier genügt eine einfache Rechnung, dass diese Überlegung in sich schlüssig ist:
Der Assistent steht vorne auf der entscheidenden Linie, der Passgeber befindet sich im Mittelfeld, insofern sind 30 Meter Entfernung ein vernünftiger Durchschnittswert für den Abstand Ball zu Schiedsrichterohr bei Abspiel. Ab dem Moment, da der Pass gespielt wird, dauert es also ca. eine Zehntelsekunde, bis der Schall des Abspiels ans Ohr dringt. In einer Zehntelsekunde würden sich gute Läufer – Armin Hary etwa bewältigte bei seinem Weltrekord 1960 exakt einen Meter im Schnitt pro Zehntelsekunde — in etwa einen Meter nach vorne bewegen. Da es beide tun – Abwehrspieler und Angreifer –, könnte die Summe bis zu zwei Metern betragen, um die sich der Fahnenmann vertut.
Nun, sehr überzeugend argumentiert. Falls das Lehre ist, so sind hier dennoch ein paar Einwendungen zu machen:
Erstens, so sei versichert, schaut der Assistent, genau wie jeder andere auch, auf den Ball. Das geht kaum anders, wie man gerne durch Befragung, aber auch durch Beobachtung der Kopfbewegungen erkennen wird.
Zweitens würde für den Fall, dass sich jemand tatsächlich danach verhält und sein Auge vorne hat, das Ohr hinten, es sich anbieten, die Entscheidungsgrundlage guten Gewissens um die bis zu zwei Metern zu justieren. Da ihm die Regel das gestattet, gäbe es kaum Probleme.
d. „Eine Frage des Stellungsspiels
Jüngst wurde sogar diese Überlegung angetroffen. Als nach 10 Minuten die zweite Abseitsfehlentscheidung zu Ungunsten der Angreifer gefallen war (dies in etwa der Durchschnittswert; auf der Gegenseite der Statistik stand bis zum Schlusspfiff die Null) und ein Sprecher entgegen der Gewohnheit darauf aufmerksam wurde, kam er zu der Erkenntnis, dass der Assistent sich nicht auf Ballhöhe befunden hätte. Es wäre also insofern gar nicht das gute Auge, dass man bräuchte oder welches fehlte, sondern es wäre eine Frage des Stellungsspiels. Keine schlechte Idee, nur noch immer an der Oberfläche, denn…
e. die Psychologie: „Fahne hoch und alles ist gut.“
All die oben gemachten Beobachtungen liefern Ansatzpunkte und Möglichkeiten der Erklärung. So recht sind sie aber noch nicht geeignet, das gesamte Phänomen aufzuklären. Der wahre Grund für das Fahne hoch reißen besteht in einem psychologischen Aspekt, der dem Assistenten intuitiv sagt, dass er, immer wenn es kritisch wird, lieber Abseits anzeigt, da ihm selbst (und auch dem Spielstand) nichts passieren kann. Um diese gewagte Behauptung gut zu stützen, betrachte man die nun folgenden Überlegungen, für die der Einstiegssatz Pate steht: „Fahne hoch und alles ist gut.“
i. Medienverantwortung
Die Medienverantwortung wird auch in diesem Fall groß geschrieben. Fakt ist, dass den nachweislichen Abseitssituationen, die zu einem Tor führen, wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als jenen Situationen, wo das Spiel – zu Unrecht – unterbunden wird, wo die Folge aber nur ein mögliches Tor hätte sein können. Es obliegt den Medien, dies ausgewogen zu tun.
Sogar jene Situationen, die lediglich das eindeutige Abseits nachweisen, aber laufen gelassen werden – auch ohne Torerfolg –, werden vergleichsweise höher gehängt als jene, wo zu Unrecht unterbunden wird. Sofern Zweifel daran bestehen – die sicherlich zumindest seitens der Journaille zu erwarten sind –, so möge man in aller Ruhe ein paar Spiele unter diesem Aspekt betrachten. Jedes Mal, wenn die Fahne hoch geht und hinterher festgestellt wird: „Oh, hier irrte er sich aber“, so ist das im nächsten Atemzug schon vergessen. Umgekehrt wird das zu einem Tor führende aber nicht als solches erkannte Abseits aber lang und breit diskutiert.
Sicher, gerade diese Situationen ereignen sich aufgrund der beschriebenen Ursache ausgesprochen selten. Insofern scheint sich seitens der Medien ein Nachgehen zu lohnen. Nur ist auch das ein wenig paradox: Man erzwingt durch das ungleiche Beurteilen der Situationen (für oder gegen Angreifer) ein viel selteneres Auftreten der einen Ausprägung, dem „für“ – und hat auf diese Art etwas zum Anprangern gefunden.
Es sei gerne eingestanden, dass ein erkanntes Tor, welches zu Unrecht zustande kommt, tatsächlich eine Spielentscheidung oder zumindest eine Veränderung des Spielstandes bewirkt. Diese wird immer als dramatischer empfunden als eine nicht stattfindende, aber eigentlich rechtmäßige Veränderung des Spielstandes – dies kann auch der Autor nicht leugnen. Das geht einfach nicht anders. Eine Mannschaft gewinnt ein Spiel 1:0 durch ein zu Unrecht anerkanntes Tor. Ja, offensichtlich Schuld des Schiedsrichters. Umgekehrt könnte bei einem als korrekt nachgewiesenen, aber nicht anerkannten Tor, bei einem Endergebnis von 0:0, der Trainer der benachteiligten Mannschaften kaum sagen: „Wir haben das Spiel ja gewonnen, da das Tor korrekt war.“ Er könnte nur sagen „eigentlich hätten wir…“. Das zählt im Verhältnis nicht, wird eher belächelt als anerkannt. Es ist die Möglichkeitsform. „Ja, wenn…. Ist aber nicht.“
Wenn man das Nachforschen psychologischer Ursachen noch weiter betreiben möchte, so sei hier angeführt: In der Spielsituation, da ein Angreifer alleine auf das Tor zuläuft nach einem geglückten Steilpass – also der typischsten aller fraglichen Abseitssituationen – so wirft er automatisch einen Blick auf den Assistenten. Er möchte vermeiden, sich ins Zeug zu legen, ein Tor zu erzielen und dann diesen Frust abzubekommen, dass es nicht zählt. Vor allem will er die Blamage vermeiden, dass alle außer ihm wissen, was los ist. Genau wie er schaut aber auch der Torhüter auf den Assistenten. Sobald er sieht, dass die Fahne oben ist, vermeidet er ein Eingreifen. Er macht die Arme nach oben. Sofern der Stürmer den eigenen Blick noch nicht auf den Assistenten gerichtet hatte oder auch sonst aus Frust noch schießt – mit der Bitte um Verständnis, auf seine Ohren deutend, nichts gehört zu haben – und der Ball einschlägt, so wird zwar häufig von einem erzielten Abseitstor gesprochen. Jedoch kann man aufgrund der obigen Beschreibung ablesen, dass es alles andere als eindeutig ist, ob es wirklich ein Tor gegeben hätte. Dies bedeutet – psychologisch betrachtet – dass man in der Argumentation auf ein „hätte, wenn und aber“ zurückgeworfen wird, sofern man von einem „an sich korrekten Tor“ spricht. Dieser Argumentation fehlt im Verhältnis zu einem anerkannten, aber irregulären Tor die Stichhaltigkeit.
Die Folge von allem bleibt diese: „Mach lieber die Fahne hoch und alles ist gut.“
ii. „hier, ich spiele auch mit“
Eine hoch interessante, sicher aber nicht akzeptierte Beobachtung. Nur hat sich neuzeitlich ein Phänomen – gesamt gesellschaftlich — immer weiter ausgeprägt, welches einem Unbescheidenheit aufzuzwängen scheint. Merksätze wie „Lass dich ja nicht unterkriegen“ oder „wenn du immer nachgibst, bist du der Arsch“ oder „jeder muss sehen, wo er bleibt“ haben längst christliche Ansichten verdrängt. Insofern wird jedem, der die Chance dazu hat, das öffentlich werden, das bekannt werden, verlockend gemacht. Die Stürmer, die ein Tor erzielen versuchen oft genug, ihren eigenen Mitspielern – die zu einem großen Teil das Tor ermöglicht haben – zu entfliehen, um für einen möglichst langen Zeitraum die Kameras auf sich und nur auf sich gerichtet zu haben. Teilweise können das sogar Sponsorenvorgaben sein oder eine Wertsteigerung für die nächste Verhandlungsrunde ergeben.
Auf die Assistenten hat dieser Virus auch übergegriffen. Wenn man die Fahne hebt, hat man mitgespielt. Vor allem bei kritischen Entscheidungen wird das irgendwie relevant. „Wenn ich mich jetzt abducke und gar nichts tue habe ich die Chance verpasst, ins Rampenlicht zu gelangen. Also: Fahne hoch! Alle Kameras auf mich!“ Bei klaren Situationen spielt man keine Rolle, Die hätte ja jeder richtig erkannt. Diese hier ist unklar, jetzt hab ich meinen Auftritt.
Diese Beobachtung spielt übrigens bei Bällen, die angeblich die Auslinie überquert haben eine noch größere Rolle. Immer, wenn der Ball knapp ist, wird Aus gewunken. Unglaubwürdig? Hinschauen!
iii. „mir passiert nichts“
Die Erwägungen gehen Hand in Hand, keine Frage. Wenn man mehrfach zu Unrecht Abseits gegeben hat, dann lautet oftmals das Urteil im Nachhinein: „Ja, bei einigen kritischen Entscheidungen lag er daneben, aber im Großen Ganzen war die Leistung in Ordnung.“ Ein solches Urteil würde niemals derjenige zugeteilt bekommen, der ein irreguläres Tor anerkannt hat: „Fehler in entscheidenden Situationen. Schwache Leistung. Das hätte er einfach sehen müssen.“ All dies legt nahe, was man zu tun hat: „Fahne hoch, dann passiert dir nichts.“
iv. „Hauptsache, es fällt kein Tor“
Noch ein weiterer Punkt: In Zeiten der Torarmut bringt ein einziges Tor sehr häufig die endgültige Spielentscheidung. Man hat das Gefühl, sofern man das Spiel laufen lässt und damit ein möglicherweise irreguläres Tor zulässt, dass man verantwortlich ist für den Ausgang des Spiels ist. Dies betrifft vermehrt die Situationen, in denen es noch 0:0 steht – ein Spielstand, der aber mehr und mehr gerade deswegen anzutreffen ist – aber auch gelegentlich die Situationen, da ein mögliches 1:1 fallen könnte. Aber auch jene sind alles andere als die Ausnahme. Sofern es mal 3:0 steht, so beobachtet man auch schon mal eine entspanntere Haltung der Assistenten. Der Arm wird locker und bleibt unten. Was soll jetzt noch passieren?
Insgesamt auch dieser Punkt geeignet, um aufzuzeigen: „Mach nur die Fahne hoch, es passiert dir schon nix.“ Weiter gedacht: „Wenn ich jetzt auf 1:0 entscheide, ist das Ding durch. Bei 0:0 kann noch immer alles passieren, das Spiel bleibt offen.“ Wichtig ist nur: „Fahne hoch. Diskutieren, ob zu Recht oder zu Unrecht kann man hinterher immer noch. Du bist fein raus.“
Obwohl die vierte Behauptung auch mit eingearbeitet ist in die oben angeführte Argumentation, kann man sie gerne hier noch ein wenig weiter verfolgen. In den USA gibt es etliche Sportarten, die gut vermarktet werden und bei Weitem die Größe derselben in Europa übersteigen. Nun, hierzulande wird gerne so argumentiert, dass die Amis sich halt treffen, ein paar Pop-Corn reinschieben und dabei ausgelassen irgendeinem Schwachsinn zujubeln, einfach so, um sich selbst zu feiern. Was bitte ist Baseball? Was soll an American Football so toll sein? Und Basketball? Jeder Angriff ein Treffer? Na, toll! Hör mir auf mit Catchen! Denen kannst du alles andrehen. Die spinnen halt, die Amis.
Hier wird allerdings die Ansicht vertreten, dass man sich in den USA ganz einfach am Faninteresse orientiert. Es lässt sich alles vermarkten. Das ist richtig. Sofern man es richtig tut und sich um die kümmert, die man am Ende – brutal formuliert – melken möchte. Es ist ein Geben und Nehmen. Auch dort ist es ausgeschlossen, dass die Menschen mehr als 24 Stunden am Tag Zeit haben. Davon sind ein paar Stunden Freizeit. Es ist ebenso unmöglich, ihnen mehr Geld aus der Tasche zu ziehen, als sie haben. Insofern ist es der berühmte Kreislauf. Wo fühle ich mich gut unterhalten? Wo verbringe ich meine Freizeit und kloppe die sauer verdiente Kohle auf den Kopp? Ok, hier. Dann könnt ihr es haben, ihr habt es gut gemacht. Aus voller Überzeugung. Das ist mein Sport, hier gehe ich hin.
Den Fußball kann man den Amis nicht „andrehen“. Nein, das geht nicht, Denn, ganz einfach: Hier werden sie nicht gut unterhalten. 20 Minuten warten auf den ersten Torschuss? Die würden, einmal ins Stadion gelockt, nach einer halben Stunde sagen: „Ist ja alles ganz toll hier, schön bunt und was nicht alles. Aber erklär mir mal bitte: Wozu haben die am Ende des Spielfelds auf beiden Seiten diese komischen Kästen aufgebaut? Die sehen ja schick aus, aber haben sie auch eine Funktion?“
Genau hier haben die USA im Jahre 1994 für die WM im eigenen Lande erkannt, dass der Ball öfter mal dort hinein sollte. Die Zuschauer – und dies, mit Verlaub, nicht nur, weil sie Amis sind – wüssten das garantiert allseits zu schätzen. So arbeitete man an allen Ecken und Enden daran, dass die Regeln den Angreifer begünstigen sollten. Für den Ausrichter eine Kleinigkeit und eine Selbstverständlichkeit, weil er es bei den „eigenen“ Sportarten ebenfalls so tut: Was unattraktiv, langweilig, ungerecht, schlecht ist, wird geändert. Was ist daran nun auszusetzen? Es wurden nur die zwei Punkte übernommen. Die eine war die Rückpassregel, die dem Torwart verbietet, einen vom Verteidiger zu ihm zurückgespielten Ball mit den Händen aufzunehmen, das andere war die göttliche Klausel, die an sich als Anweisung schon genügt hätte – eben auch auf andere Situationen bezogen – bei Abseitssituationen im Zweifel für den Angreifer auszulegen. Die Folge war übrigens, dass es tatsächlich eine sehr schöne und spannende WM gab mit mehr Toren, was aber ausschließlich darauf zurückzuführen ist, dass die Spieler und Trainer verstanden haben, wo sie hier sind und was die Leute sehen wollen (der Effekt verblasste auch, als die Entscheidungsphase, also die k.o.-Spiele anstanden) und ist explizit nicht den Schiedsrichtern zu verdanken.
Komisch aber, dass sie, so wenig sie sich für andere interessieren und mit sich selbst zufrieden sind – auch Hollywood arbeitet übrigens nach dem Prinzip: was wollen die Leute sehen? – , gerade hier die Argumentation spielend umdrehen könnten: „Der restlichen Welt kann man wohl alles andrehen. 90 Minuten Ballgeschiebe, jede Menge Fouls, Pfiffe und Ungerechtigkeiten, niemals ein Tor, und immer, wenn’s spannend wir, wird unterbrochen. Wenn aber doch durch irgendeinen Zufall ein Tor fällt, weiß man, wer gewonnen hat, weil es das einzige bleibt? Ein tolles Spiel. Für Schwachköpfe.“
Das Spiel ist ein bisschen wie des Kaisers neue Kleider. „Warum guckst du denn?“ Passiert da irgendwas“ „Nö, passieren tut nix, ich gucke auch nicht richtig, ich stehe nur hier, aber der Nachbar macht es auch so.“ „Ach so! Toll! Na, dann bleibe ich auch.“ Herdentierprinzip?
Markus Merks Abseitsfehler
Zum Beleg für die Medienreaktion auf unterlassene Abseitsentscheidungen, die zu einem Tor führen, im Verhältnis zu geahndeten, die zu Toren führten oder hätten führen können, sei erinnert an Markus Merks anerkanntes Tor in der Partie Werder Bremen gegen Borussia Dortmund zu Beginn der Bundesliga Saison 2008/2009. Ein Abseitstor wurde anerkannt, welches hohe Wellen schlug.
Sicher kam hier der (bedauerliche und bedauerte) Irrtum hinzu, dass eine Wiederholung der Szene über die Videoleinwand lief, welche jedem der 42.100 Zuschauer – jedoch zusätzlich sowohl Schiedsrichter plus Assistenten als auch die Spieler — Aufklärung verschaffte, an der es in diesem Moment keinerlei Zweifel gab. Jedoch, wie richtig im 11-Freunde Magazin damals herausgearbeitet wurde, konnte der die Szene wiederholende die schwammige DFB-Klausel „bei strittigen Szenen dürfen keine Wiederholungen eingespielt werden“ nach Belieben deuten. Nicht nur, da sie – für besonders Spitzfindige – ja in dem Sinne unstrittig war, dass das Abseits völlig eindeutig war. Aber auch sonst ist es gewagt, einem Menschen die Verantwortung zu übertragen, der weder die Verpflichtung hat noch die Urteilsfähigkeit, geschweige denn auf die Distanz überhaupt die Möglichkeit, darüber zu befinden.
Markus Merk sprach angeblich von seinem „schwersten Fehler der letzten 10 Jahre“, jedoch gibt es eine andere Quelle, die behauptet, dass er es nur auf die Situation, in der er sich befand, nicht aber auf den Fehler selber bezog. Jedenfalls war die Medienreaktion überwältigend. Hier gab es keine Zweifel. Das Tor durfte nicht zählen. Sicher, Teil der Schelte bezog sich auch auf die Wiederholung der Szene, ein Teil der sich aufschaukelnden Wellen hatte etwas mit der Situation zu tun, in der sich Markus Merk in dem Moment befand – der Fehler ist nachgewiesen, er hat aber keine Möglichkeit, zu korrigieren –, jedoch bleibt es dabei: die Reaktion erfolgte auf ein anerkanntes Tor, welches nicht hätte zählen dürfen.
Markus Merk verfasste danach ein 25-seitiges Papier, in welchem er die Einführung des Videobeweises forderte und gut begründete, jedoch auf taube Ohren stieß, zumindest DFB-seits, der schlichtweg auf die FIFA-Verantwortung verwies.
Die Überlegung ist nur weiterhin die: ein korrekt erzieltes Tor, dem die Anerkennung verweigert wurde, nachgewiesenermaßen und amtlich anerkannt, könnte niemals eine solche Welle folgen. Man hätte sicherlich sogar in ländlicheren Gegenden schon ausreichend viel Mühe, einen einzigen Hahn zu finden, der danach kräht.
Übrigens: hier ein Gegenbeispiel anzubringen erübrigt sich. a) kann man es fast täglich beobachten und b) sind alle die Fälle längst vergessen und unter den Tisch gekehrt. „Aber gestern, da hat xxx gegen yyy ein Tor erzielt, das war ganz klar korrekt. Hast du das gesehen“ „Nee“ und weiter „Na und? War im andern Spiel doch auch. Da warens aber zwei. Und Nachbars Hahn hat gekräht!“
Nachbemerkungen zum Thema Abseits:
Sofern die Regel korrekt angewendet würde, könnte, geschätzt, bereits ein Anstieg des Toreschnitts von ein bis zwei Toren pro Spiel auftreten. Das wäre alleine die direkte Folge, sofern man die Statistik der Fehlentscheidungen oder die Beobachtung des „Huch ist der frei, Hilfe, Fahne hoch!“ richtig eingearbeitet hat Falls man die Regelerleichterung — die es den Assistenten explizit gestattet, die Fahne unten zu lassen und ihnen eine milde, aber natürlich angemessene Behandlung zusagt bei Fehlern — mit einbezieht, so wäre es vielleicht noch mehr. Eine der Folgen wäre mit Sicherheit, dass sich die Assistenten ein wenig entspannen bei der einzelnen Entscheidung und das Empfinden abbauen, mit einem Fehler ein Spiel zu entscheiden, genau, weil es ja noch etliche weitere Situationen geben wird, in denen ein Tor fallen könnte.
Es gibt aber noch eine weitere Folgewirkung, die einer gemachten Beobachtung entnommen einen weiteren wichtigen Einfluss haben könnte:
Die Passgeber aus dem Mittelfeld, wie man häufig beobachten kann, haben oftmals eine günstige Abspielsituation, in der sich der Stürmer anbietet mit einem plötzlichen Antritt in die Spitze, einen Passweg andeutend. Die Situation verstreicht ungenutzt, der Pass wird nicht gespielt. Hier wird nun die Ansicht vertreten, dass der richtige Abspielmoment (häufig) deshalb verpasst wird, da der Ball führende die Befürchtung hat, dass Abseits angezeigt wird, selbst wenn er den richtigen Moment erwischt.
Der Kommentar ist meist einheitlich: „Da hat er den richtigen Moment des Abspiels verpasst.“ da man das oftmals gut erkennen kann. „Jetzt müsste der Ball kommen!“ Das stimmt zwar, es war aber kein Fehler, keine Schwäche oder kein Übersehen. Es war lediglich dem begreiflichen Umstand geschuldet, dass, selbst wenn er im perfekten Moment spielen würde, dennoch auf Abseits entschieden würde. Wie viele tolle Szenen könnten einen da noch erwarten, falls sich diese Spieler auf der sicheren Seite fühlten und diese Angst abgelegt wäre?
Über die wahren Ursachen der verpassten Zeitpunkte wurde bisher wenig reflektiert.
Sofern man den offensiven Akteuren in jeder Hinsicht – was auch auf den nächsten Punkt, die Elfmetersituationen zutrifft – mehr (absolut legale und im aktuellen Regelwerk verankerte) Freiheiten verschafft, stünde einem erhofften Offensivspektakel so gut wie nichts mehr im Wege. Wünschenswert? Oder stünde die Befürchtung, dass dann alle weglaufen, weil so schrecklich viele Tore fallen, ernsthaft im Raume?
Man merke: bisher war nur von korrekter Regelanwendung, keineswegs von Regeländerungen die Rede. Falls es einem dann zu viele Tore würden könnte man immer noch….
Und: ein zusätzliches Herumdoktorn, wie es beispielsweise die später untersuchte Drei-Punkte-Regel darstellt, ist überhaupt nicht erforderlich.