Dieser Abschnitt hier soll eine Vorüberlegung grundsätzlicher Natur darstellen, der sich mit der Fragestellung einer wirklichen „Bestrafung“ auseinandersetzt, die den Zweck verfolgt, gewisse Regelverstöße durch Strafmaßverschärfung tatsächlich aus dem ärgerlichen Fußball Alltag zu verbannen..
Um einem Kind eine bestimmte, unerwünschte Verhaltensweise abzugewöhnen – als Familienvater weiß man vergleichsweise gut, wovon man da spricht – gibt es eine häufig verwendete, meist aber nicht mit übergroßer Wirkung versehene Methode: dem Kind mit Vernunft kommen. „Du musst doch einsehen, dass…“ oder „wenn alle sich so verhalten würden wie du, dann…“ oder auch „denk doch mal darüber nach, dass das nicht richtig ist.“ Wie gesagt, die eher ineffektiven Versuche. Man appelliert an die Vernunft, an den Verstand, an das Ehrgefühl, was auch immer, und stellt das Kind damit mit einem (angeblich) vernünftigen Erwachsenen auf eine Stufe. Es mag gelegentlich sogar – je nach Alter und vorher aufgebauter eigener Autorität– hier oder da kleinere Teilerfolge geben, aber im Großen und Ganzen erweist es sich meist als nutzlos. Die Kinder testen ihre Grenzen aus, sie wollen herausbekommen, nicht nur, was man wirklich nicht darf und was ernsthaft Schaden kann, sondern auch, wie sehr der die Strafe androhende geeignet ist, diese Rolle für das Kind einzunehmen. Es hat also viel mit Glaubwürdigkeit zu tun.
Sofern man sehr ernsthaft daran interessiert ist, eine bestimmte Verhaltensweise abzugewöhnen, eine bestimmte Regel durchzusetzen, ist es hier und da erforderlich, mit wirklichen Strafen zu operieren. Dabei gibt es zwei sehr wesentliche Stufen: Die erste ist die Androhung einer Strafe, die zweite ist die Verhängung einer Strafe. Sinnlos – wenn auch in der Praxis durchaus häufig anzutreffen – ist es, eine Strafe anzudrohen und bei Zuwiderhandlungen zur Vorgabe diese nicht umzusetzen. Man büßt an Glaubwürdigkeit ein und garantiert hat man beim zweiten Mal auf die gleiche Art eine härtere Arbeit, das Gewollte durchzusetzen. Ab dem dritten Mal wird es sogar in Bezug auf eine beliebige andere Regeleinführung entsprechend schwieriger, da allgemein die Anwendung der Strafe in Zweifel gezogen wird. Es kann sogar sein, dass das Kind noch mehr über die Stränge schlägt als zuvor, da man als Erziehender die Verpflichtung hat, dem Erziehungsauftrag nachzukommen. Es ergibt sich sozusagen eine gewisse Orientierungslosigkeit bei dem Kind, die man im Grunde selbst zu verantworten hat.
Ebenso sinnlos aber ist es, eine Strafe zu verhängen, ohne sie vorher anzudrohen. Das Kind kann keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Fehlverhalten und der Bestrafung ausmachen. Die Reaktion wird empfundene Ungerechtigkeit sein, die lediglich später zu Ablehnung und dennoch zu Anzweiflung der Maßnahmen des Bestrafenden führt, was keineswegs sinnvoll sein kann.
All dies auf den Fußball übertragen ergibt eine einfache Schlussfolgerung: Welche Verhaltensweisen erscheinen einem als angemessen, korrekt oder im Rahmen, welche möchte man gerne loswerden, möchte man sicht sehen. Sofern Einigkeit darüber besteht, dass man eine Notbremse nicht sehen möchte, so wäre es erforderlich, ein Strafmaß zu finden, dass den Notbremsenden davon anhält, das Mittel einzusetzen..
Um hier einmal ein praktische Beispiel anzuführen: Am ersten Spieltag bei der EM 1996 war der Kroate Vlaovic in letzter Minute gegen die Türkei (nach deren Eckball) alleine durchgebrochen. Der letzte Mann, Alpay, hatte die Chance, den Gegenspieler per Notbremse kurz hinter der Mittellinie zu stoppen. Es hätte ein Knochenbrecher Tackling sein müssen, aber er hätte es bewerkstelligen können. Jeder, auch der türkische Trainer, hat das gesehen. Vlaovic kam zum Abschluss, erzielte das 1:0, die Partie war vorüber.
Die anschließenden Diskussionen sind das, was nun für Aufsehen sorgen könnte oder was diesem Beispiel hier die Erwähnung verschafft — und damit dem Leser die Reflexionsmöglichkeit. Der Türke Alpay wurde von der Welt für die Fairness gelobt und geadelt. Der türkische Trainer beklagte sich bei Alpay und ließ ihn danach auf der Bank. Alpay bekam später den Fair-Play-Preis.
Wenn man sich das einmal überlegt, können einem schon erheblich Zweifel an der Bedeutung des Sports und des Erfolgs, an Vorstellungen von Moral und Ethik, an den Fußball Regeln und am Fair-Play Gedanken kommen.
Zunächst einmal hat Alpay das getan, was eine Selbstverständlichkeit sein müsste. Natürlich foult man nicht, vor allem macht man keine Notbremse, so ziemlich das Niederträchtigste was man sich vorstellen kann: Man verwehrt dem Gegner per illegaler Aktion seinen eigenen Heldenstatus, sei es auch nur den wohl verdienten Torerfolg. Das muss einfach eine Selbstverständlichkeit sein. Dass die erkennbare Möglichkeit einer unfairen Aktion überhaupt erwähnt wird, ist beinahe ein Unding, spricht aber Bände für die Auffassung von längst verflossenen Ehrbegriffen, die einst ein John Wayne vielleicht im Ideal verkörperte. Dass das erforderlich Foul sogar eine ernste Verletzung des Gegenspielers hätte bedeuten können – was sicher nicht in allen derartigen Fällen so ist – macht die Sache nur noch schlimmer. Dass es für die Nichtausübung einer groben, ganz schlimmen absolut unmenschlichen, rabiaten, gemeinen, fiesen Attacke einen Fair-Play Preis geben soll, lässt einen endgültig alle Zweifel über Bord werfen: Die Moralvorstellungen sind verkommen. Fair-Play gibt es nicht. Es ist einfach nur lächerlich, peinlich, entlarvend. Alpay hat richtig gehandelt, ohne Wenn und Aber. Sein Trainer hat sich vertan. Die Türkei hatte Pech. Aber die FIFA? Die hat sich lächerlich gemacht, ohne davon die geringste Ahnung zu haben. Peinlich. Fair-Play ist eine unterlassene Notbremse?
Wenn man diese Szene und die Diskussionen aber weiter denkt, kommt noch etwas dabei zum Vorschein, was auf den ersten Blick vielleicht verborgen blieb: Er hätte diese Notbremse machen müssen, um den Erfolg zu erzwingen. Die gesicherte Ansicht besteht, dass, wenn er es getan hätte, er der Türkei zu einem 0:0 verholfen hätte. Es ist beinahe unzweifelhaft. Denn: Die Regeln sehen folgende Bestrafungen vor: Der türkische Abwehrmann Alpay erhält eine glatte Rote Karte. Notbremse oder rüdes Foulspiel oder beides, unzweifelhaft. Er muss runter. Auweh, was für eine „Strafe“! Für 30 Sekunden müssen sie in Unterzahl spielen! Wie soll man das denn verkraften? Dazu aber hätten die Kroaten eine ganz tolle Torgelegenheit eingeräumt bekommen: Einen direkten (!) Freistoß direkt hinter der Mittellinie, also bereits in des Gegners Hälfte! Die Statistik belegt: Eine solche gigantische Möglichkeit erreicht bereits locker den Promille-Bereich!
Somit lässt sich einfach an die einleitenden Worte und die Kapitelüberschrift anknüpfen: Was ist eine Strafe? Oder: Wie kann man Spielern unerwünschte Verhaltensweisen abgewöhnen? Es muss doch einfach ein Strafmaß geben, welches in der Höhe liegt, dass man die kindliche Neigung ablegt, das Verhalten zu wiederholen, es überhaupt einzusetzen?
Übertragbar ist das Ganze auf jede Aktion auf dem Platz. Ein umspielter Gegenspieler wird immer wieder foulen, natürlich nicht schlimm, immer nur per Halten oder Trikotzupfen oder eigenem Hinfallen, das aber zufällig genau vor die Füße oder in den Weg. Keineswegs gelbwürdig, nein, natürlich nicht. Ein einfaches Foul. Eines ist aber sicher: Der Verteidiger weiß, was er tut. Und er weiß auch, warum er es tut.
Was er tut? Er foult. Da gibt es keine Kompromisse. Bevor er den Gegenspieler ziehen lässt? Na, da müsste man mal die Mitspieler hören! Warum er es tut? Weil der Nutzen größer als der Schaden ist. So wird es immer sein. So weit haben uns – Verzeihung, 5 Euro in das eigene Phrasenschwein, welches später unter ständigem Umrühren über dem Ozean der Nächstenliebe und Menschlichkeit entleert wird – die Medien gebracht: Es ist alles gut und richtig, was Erfolg bringt. Jeglicher Ehrgedanke ist für immer (?) aus dem Denken und Empfinden verbannt. Es lebe der Sieger! Nieder mit dem Unterlegenen! Was hat der Robben, dieses Ekel, den man einfach nicht bremsen kann, auch so schreckliche Glasknochen, dass er bei einer ganz einfachen Blutgrätsche von hinten schon wieder runtergetragen werden muss? „Wenn de den eenma richtich umhaust, jehta runte. Und ohne den sind se nur die Hälfte wert!“ So sieht´s aus!
Die sich ergebende Forderung ist klar: Eine Strafe müsste tatsächlich eine Strafe sein. Wenn ein taktisches Foul sinnvoll ist, weil es Nutzen bringt, dann müsste die Strafe härter sein, damit es sich nicht mehr lohnt. Denn: Wer will den viel versprechenden Konterangriff, der gerade nach einem Ballverlust eingeleitet wird, nicht sehen, sondern stattdessen eine Gelbe Karte und einen lächerlichen Freistoß aus der eigenen Hälfte heraus, der mit Torgefahr oder der vorherigen Situation einfach rein gar nichts mehr zu tun hat?
Analog ist übrigens auch ein Foulspiel kurz vor der in aller Regel Strafraumgrenze ein guter Deal. Man hat den Elfer nicht riskiert, hat den durchgebrochenen Stürmer gerade noch rechtzeitig, aber natürlich nicht rotwürdig gefoult, die eingetauschte Torchance ist wesentlich kleiner und der vielleicht Gelb verwarnte wird notfalls direkt danach ausgewechselt.
Nein, das Umdenken bezieht sich auf alle Bereiche. Die Medien haben die Chance, außer Sieger zu feiern und Verlierer zu verachten, eine unfaire Aktion herauszustellen und als unerwünscht erkennbar zu machen. Sie haben die Chance, es den Tätern schwerer zu machen aufgrund der geernteten Reaktionen. Die Regelverantwortlichen haben aber ebenso die Chance, sich ernsthaft darüber Gedanken zu machen, welches Verhalten sie unterbinden wollen und welches sie legalisieren wollen. Auch der Zuschauer hat sein Mitspracherecht, indem er – sei es auch nur live im Stadion – seinen Unwillen gegenüber gewissen Aktionen Luft macht (raus mit der Luft: Pfeifen). Und sogar die Spieler könnten wieder gewisse Ehrbegriffe untereinander einführen. Sie sitzen doch alle im gleichen Boot, spielen die eine Saison miteinander, in der nächsten gegeneinander, warum nicht Einigkeit erzielen, welche Mittel für den Erfolg eingesetzt werden sollen, können, dürfen? Sowie ein wenig Fokus darauf gelegt wird, von allen Seiten, könnte dieses Denken und Handeln wieder Einzug halten. Denn: Es war schon einmal so. Und früher war doch wirklich alles besser. Sogar die Zukunft.
Wenn man das ganze Beispiel von Kindern weiter ausführt, dann hat auch der Teil „Grenzen austesten“ seine Bewandtnis. Die Spieler gehen in Bezug auf die Beurteilung nach Legalität und Illegalität ebenfalls stets bis an die Grenzen. Ob erwünscht oder nicht sei noch dahingestellt. Wenn die Schwere eines bestimmten Vergehens einmal nicht geahndet wird, dann wird automatisch im nächsten Versuch die Grenze ein wenig weiter nach hinten verschoben. Man denkt als Spieler so: „Wenn er das leichte Schieben nicht ahndet, dann kann es doch sein, dass er das etwas stärkere Schieben auch nicht abpfeift.“ So werden ständig die Grenzen ausgetestet – und nach hinten verschoben.
Ein (weiteres) Beispiel dafür ist der Einwurf, eines der Abschlag aus der Hand. Beide machen die obige Aussage plastisch. Beim Einwurf gab es in den 80ern einmal die Erkenntnis, dass der Einwerfer Meter schindet. Es gab einen Ort, an dem der Ball ins Aus ging. Der Einwerfer eilte dem in seine Angriffrichtung rollenden Ball hinterher(früher gab es nur einen Spielball), schnappte ihn sich lief sogar diagonal zurück zur Auslinie zurück, und lief dann noch etliche Meter vorwärts, stets das Einwerfen andeutend. So kamen oftmals weit mehr als 10 Meter heraus, um den der reguläre Einwurfort verschoben wurde.
Die Regelmacher wollten dem ein Ende setzen und schrieben in die Regeln den Passus, dass der Einwurf ausschließlich und exakt an der Stelle auszuführen sei, an welchem der Ball die Linie überschritten hatte. Strafe bei Zuwiderhandlungen: Wechsel der Einwurfpartei, der Gegner bekommt ihn. Nun gingen die Jahre ins Land. Zunächst verhielten sich die Spieler sehr artig, da sie fürchten mussten – siehe Kindergarten –, dass die Regel tatsächlich zum Einsatz kommt. Teilweise sah man sogar noch, dass ein Spieler den Schiedsrichter extra nach dem genauen Ort befragte, um ja nicht in die Gefahr einer Regelverletzung zu geraten (wenn dieses Verfahren heute eingesetzt wird – der aufmerksame Leser bemerkte sicher gleich – dann dient es lediglich noch der Zeitschinderei; man weiß genau, wo es war, deutet aber wieder und wieder hin, um damit eine beabsichtigte Regelkonformität anzudeuten, „nimmt aber etliche Sekunden von der Uhr“, laut Reporterdeutsch).
Weitere Jahre vergingen. Irgendwann fiel jemandem auf, dass die Regel ja gar nicht wirklich angewendet wurde. Die Strafe wurde angedroht, ja, aber eventuell haben die Schiedsrichter bei Strafen, die selten bis nie verhängt werden, irgendwann gar vergessen, wie sie lautet? Der erste Spieler versucht es wieder mit einem halben Meter, den er schindet. Der zweite denkt sich, „wenn er bei einem halben Meter nicht pfeift, wird er es wohl bei einem ganzen auch nicht tun?“ So wird die Grenze weiter und weiter hinausgeschoben. Die Regel existiert eigentlich nicht mehr, da sie nicht angewandt wird. Viel wichtiger aber: Die Spieler haben beinahe das Recht dazu, so zu handeln. Es ist eine Art Gewohnheitsrecht, welches sich einschleicht. Denn, ganz ehrlich: Wenn ein übereifriger Pfeifenmann heute bei einer Einwurfs-Positions-Regelverletzung von einem Meter abpfeifen würde, so hätte der „Bestrafte“ alle Berechtigung, sich zu ereifern. Denn: „Nicht nur gestern hat einer 6 Meter geschunden und ging straffrei aus, heute werde ich für einen Meter bestraft? Das geht nicht und ist inkorrekt.“ So ist es.
Das gleiche gilt für das Halten des Balles beim Abschlag eines Torhüters. Die aktuelle Regel lautet wohl, dass der Torhüter den Ball 6 Sekunden lang halten darf, bevor er die Hand wieder zu verlassen hat. Man sollte einmal exakt die Stoppuhr einschalten, auf wie viele Sekunden es die größten Zeitschinder Experten bringen. Aber abpfeifen nach 8 Sekunden? Das geht nicht. Denn: Letztes Mal hat einer 9 Sekunden gehalten. Gewohnheitsrecht im Kindergarten.