Wanja spricht mit seinen Kindern, heute über…
Ein Championsleague Finale
Klar musste man sich fragen, ob Wanja seinen Kindern all dies, was er ihnen erzählte und was meist sehr überzeugend war nicht auch in bewegten Bildern vorführen konnte. Selbstverständlich konnte er. Man konnte sich ab und an mal einzelne Szenen anschauen und diese bewerten – meist anders, als es die Kommentatoren im Spiel taten oder die Experten im Nachhinein bei ihrer Analyse der Spielsituation einschließlich der Entscheidung –, mal konnte man ein ganzes Spiel schauen. Das Problem an einem ganzen Spiel war jedoch, dass der Fußball zu Erdzeiten bedauerlicherweise sehr langweilig war und man eigentlich nicht die Aufmerksamkeit dafür ausreichend hochhalten konnte oder dies gar nicht wollte. Die Kinder wechselten den Kanal und schauten dann ein gerade aktuelles Spiel, gingen raus zu einer der Großbildleinwände, hatten sogar ein paar Stadiontickets für einen richtigen Stadionbesuch ergattert oder spielten einfach selbst. Mal in Vereinsspielen, mal in Freundschaftsspielen, einfach so, auf den überall verfügbaren ´Bolzplätzen´, die in Putoia nicht nur vorsorglich angelegt, sondern auch jederzeit reichlich frequentiert waren.
Zu einem besonderen Anlass gelang es Wanja denn doch mal, seine Kinder zumindest für die zwei Stunden eines gesamten Spiels vor dem Bildschirm zu bewahren. Es mussten aber schon wohlerwogene Spiele sein, mit möglichst einer besonderen Brisanz, zu einem sehr besonderen Anlass. Er nannte die Sitzungen allgemein „Heimatkunde“, denn die Kinder sollten schon ein wenig wissen, wo sie oder ihre Vorfahren herkamen und welchem Umstand sie die putoiesken Zustände hier zu verdanken hatten. Es gab, sagen wir es gerade heraus, ab und an sogar „Pflichtveranstaltungen“, zu welchen der sonst gar nicht gestrenge Vater hier und da lud.
Für heute hatte er sich das Championsleauge Finale 2019 zwischen Liverpool und Tottenham ausgewählt. Er erklärte dazu den Kindern: „England war das Mutterland des Fußballs und diese beiden Mannschaften kamen aus England, zugleich hatten sie sowohl eine sehr hohe Tradition als auch war man in England allgemein viel mehr mit der Wahrung von Traditionen vertraut, was sich durchaus an etlichen Stellen bewährte und die Welt schon hier und da recht neidisch nach England schauen ließ, weil es nämlich im eigenen Land unmöglich war, eine Tradition überhaupt erst aufzubauen. Zusätzlich hatten die englischen Mannschaften jahrzehntelang sehr wenig Glück und, wenn man denn der allgemeinen Beurteilung Glauben schenken wollte, hatte dies nichts mit Pech zu tun, sondern hatten sie sich viel eher beispielsweise ein Versagen im Elfmeterschießen zur Tradition gemacht. Die Engländer selbst hätten sich nie gegen diese Vorwürfe gewehrt und ihr Pech anschaulich gemacht oder sich darauf berufen. Sie hätten sich weiterhin schlicht den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit anvertraut und darauf gewartet, dass es irgendwann mal, durch reinen Zufall, anders käme. Natürlich waren sie innerlich schon ein klein wenig beleidigt, dass sie ihre Tradition, als Mutterland des Fußballs, nicht recht zur Schau stellen konnten und der Welt beweisen, dass im Mutterland noch immer der beste Fußball gespielt würde. Aber die Zeit war irgendwie denn doch mal auf ihrer Seite. In diesem Jahr war nämlich in der Europaleague – dem anderen große europäischen Wettbewerb – mit Chelsea und Arsenal, beide auch noch aus Londen, der Hauptstadt Englands, zwei weitere Clubs im Finale und somit hatte England nun doch, vielleicht nur für dieses eine Mal, eine Vormachtstellung behaupten können.“
Die Kinder hörten aufmerksam zu und schauten dabei Bilder von Vorberichten und hörten hier und da mal hinein. Wanjas Vortrag und diese Bilder und Stimmen – er hatte den kompletten Tag aufgezeichnet, in Bild und Ton – liefen sozusagen parallel, über ein paar Stunden verteilt. Durch die Ausschmückungen gelang es dem Vater, den Kindern eine längere Verweildauer für den heutigen Tag abzuringen.
„Mir fällt auf, dass die Stimmen immer wieder lauteten ´ich gönne Jürgen Klopp den Titel´. Was sollte das denn?“ fragte der Jüngste.
„Das war für den Tag und dieses Finale die gängige Sprachregelung. Auch, wenn man auf der Straße oder irgendwo anders jemanden reden hörte: es klang immer gleich. ´Ich gönne Klopp den Titel´. Nun war das in Deutschland ziemlich einfach, denn immerhin war Klopp ein Deutscher. Dennoch ging es bei mir selbst bis zum Abend hin so weit, dass ich das nicht mehr hören konnte und es ihm nicht mehr gönnen konnte. Abgesehen davon: man hörte von ihm eh nur, vor nach und während der Spiele, sinnvolle, wohl durchdachte Aussagen. Man konnte ihm stundenlang zuhören und man konnte eh nicht anders, als ihm zu glauben, dass er ganz sicher kein unglücklicher Mensch würde, wenn er den Titel NIE in seiner Karriere gewinnen würde. Denn: da gab es auf der Welt schlimmere Schicksale als das seinige, wie er immer wieder betonte. Und immerhin kam er auch auf den Gedanken, dass er sicher kein Verlierertyp wäre, wenn er wiederholt ein Finalspiel mit seiner Mannschaft verlieren würde, aber andere, die im Halbfinale oder viel früher ausgeschieden wären, nun gänzlich unerwähnt blieben, somit also auch keine Verlierer wären?“
Wiederum überzeugten die Worte des Vaters. Aber die Kinder konnten sich auch so schon ein ausreichend gutes Bild von Jürgen Klopp machen und, ob man wollte oder nicht, man mochte ihn. Ihm einen Titel zu gönnen war unnötig, überflüssig, und „mit der Masse zu schwimmen“ war den Kindern, wohl vom Vater ererbt, so oder so ein Gräuel.
„Es ging aber sehr friedfertig zu“, stellte sein Jüngster fest. „Hattest du nicht gesagt, die würden sich immer bekriegen, auch die Fans untereinander, und das würde die letzten Reste an Spaß rauben, ein Stadion zu besuchen? Hier war es sowohl in der Innenstadt als auch im Stadion ruhig.“
Recht hatte er, der Junge. Ja, die Fans saßen sogar teils gemeinsam beim Bier. Alles war friedlich, sämtliche Einblendungen von Fans, dieser oder jener Mannschaft, oder auch Interviews, zeigten diese zwar gerne auch mal schon vom Alkohol „erheitert“, aber dennoch absolut friedlich ihrer Mission nachgehend.
„Ja“, so erklärte Wanja, „es war eine Ausnahmesituation. Selbst wenn diese beiden sonst, auch in der Liga, erbitterte Rivalen waren: hier überwog der Aspekt, dass England nun Europa dominierte, in beiden Cupwettbewerben beide Finalisten stellte und dass somit ohnehin England der Gewinner war. Ebenfalls war beiden bereits ziemlich klar, nicht viel mehr als das erreichen zu können. Sozusagen schon das Optimum herausgeholt zu haben, von daher selbst bei einer Niederlage hier jeder Gewinner wäre. Anders vielleicht als in einem Ligaspiel.“
Auch dies ließ der Vater kurz einwirken, eher er hinzufügte:
„Allerdings dürfte man noch einbeziehen, dass für solche Reisen plus Ticket meist vermögendere Menschen, also bildungsnähere Schichten in Frage kamen, während die einfacheren Fans, die dann möglicherweise für Unruhe hätten sorgen können, zu Hause blieben, schlicht, weil es zu teuer wäre. Für so ein großes Spiel fanden sich so oder so ausreichend viele Menschen, die bereit waren, es zu besuchen und auch die hohen Preise insgesamt – inklusive Anfahrt und Übernachtungen – zu berappen.“
Als Steffen Freund, der selbst einmal für Tottenham spielte, im Interview meinte, dass er Tottenham favorisiere, aufgrund ihrer Außenseiterrolle, gab es erst einmal Gelächter. Sie sind Favorit, weil sie Außenseiter sind? Die Kinder kannten sich schon ganz gut aus mit Wahrscheinlichkeiten und sogar den Wettmarkt hatten sie schon ein wenig verstanden. Am Wettmarkt wurden Kurse angeboten, diese Kurse standen im Verhältnis zu den Eintrittswahrscheinlichkeiten, außer, dass ihr Vater es noch ein klein wenig besser berechnen konnte und somit man sich in Fragen nach den Chancen lieber bei ihm als am Wettmarkt erkundigte. Abgesehen davon, dass der Wettmarkt sich nicht dafür interessierte, dass er die Chancen korrekt berechnet hatte, sondern es vielmehr jedem Einzelnen darum ging, möglichst am besseren Ende zu sitzen, also zu den Gewinnern zu gehören. Insofern waren die Wetten und Quoten vor allem an den Einsätzen orientiert und nicht an den tatsächlich zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeiten. Obwohl es dort, wie der Vater ihnen verständlich gemacht hatte, meist eine hohe Übereinstimmung vorlag aufgrund der sogenannten „Massenintelligenz“. Jeder Marktteilnehmer trägt nur seine einzelne bescheidene Einschätzung bei in Form einer Wette – und in der Summe kommt die richtige Quote dabei heraus.
In dem Falle hatte der Markt befunden (erneut: die Massenintelligenz), dass Liverpool 2:1 Favorit war. Also ging zu 66.7% der Pott an sie, zu 33.33% der Pott an Tottenham. Wanja hatte keine bessere Antwort parat: in der Liga lag Liverpool nach Punkten klar vorne, auch in der Meisterschaft hatten sie beide Spiele gewonnen. Favorit, in etwa dem angegeben Verhältnis, kein Einwand.
Das Gelächter? Nun, wenn es 33.33% sind für den Außenseiter, darin aber seine Chance liegen soll, dass er Außenseiter ist, dann hieße das schlichtweg, dass sich der Markt verrechnet hätte. Sie sind Außenseiter und deshalb Favorit? Das war purer Unsinn. Aber dennoch wurde so etwas ausgestrahlt und von niemandem richtiggestellt. Falls man Steffen Freund ein wenig mehr Intelligenz unterstellte und seine Aussage ein klein wenig anpasste, dann käme etwas gar nicht mal so Unsinniges dabei heraus: er könnte gemeint haben, dass Tottenham in einem so wichtigen Spiel unterschätzt wird und sich durchaus an´freunden´ könnte mit der Außenseiterrolle und sie nutzen könne, in einem etwas günstigeren Verhältnis als es der Markt errechnet hätte. Er würde tatsächlich behaupten, dass es einen minimalen Rechenfehler gab, der Liverpools Chancen etwas zu hoch ansetzte. Dies müsste er nützen in Form einer Wette. Sie wären zwar kein Favorit aber anstatt 1/3 zu 2/3 Außenseiter wären sie es vielleicht mit 2/5 zu 3/5. Durchaus möglich.
Als das Spiel nun begann, geschah nach 23 Sekunden etwas kaum Glaubliches: Handspiel im Strafraum, Elfmeter für Liverpool. Der Schiri hatte tatsächlich gepfiffen.
Auch hier direkt der Einwand des Mittleren: „Papa, hast du nicht gesagt, die Schiris hätten NIE auf Elfmeter entschieden und noch weniger in wichtigen Spielen, am allerwenigsten ganz früh im Spiel?“
„Ja, ihr habt gut zugehört. Hier erfolgte das Handspiel und als ich damals live schaute dachte ich auch sofort `klares Handspiel, aber er wird wohl nicht pfeifen´. Schon zeigte er auf den Punkt — und ich war überrascht. Dies hat mich aber nicht vom Nachdenken darüber abgehalten. Warum tat er es hier? Der Pfiff mit dem Fingerzeig zum Punkt geschieht natürlich spontan, reflexartig und ohne großes Nachdenken. Das hatten die Schiedsrichter im Blut, sich über Jahre angeeignet, das war ihre Domäne, das konnten sie in gewisser Weise. Nur lag einer jeden solchen Entscheidung eine zusätzliche psychologische Komponente zugrunde. Hier war es vermutlich, dass es auf keinen Fall eine Abneigung gab, dem Favoriten, und zugleich Jürgen Klopp — der überall diesen positiven Ruf hatte, keineswegs nur in Deutschland –, es zu gönnen, wie es standardmäßig hieß. Hätte die gleiche Situation in der gleichen Sekunde drüben stattgefunden, so wäre die Entscheidung vielleicht anders ausgefallen? Abgesehen davon spürte jeder, im Stadion, drumherum, vor dem Spiel, überall, wo man sich aufhielt und Stimmen hört, zum Spiel, zur Einschätzung, zur Gesamtlage, dass es, wie zuvor schon beschrieben, absolut friedfertig zuging und dass man, als Schiedsrichter, mit einem derartigen Pfiff unmöglich für böses Blut sorgen könnte. Also es bleibt eine ´kritische Entscheidung´, eine wegweisende, eine vielleicht spielentscheidende – Abseits und Elfmeter, aber auch rote Karten, sind die wichtigsten davon –, aber er wird mit einem solchen Pfiff keinen Krieg auslösen. So richtig schlimm kann es nicht werden. Man beachte dabei auch, dass Tottenham überglücklich war, überhaupt dort gelandet zu sein – was natürlich jeder wusste –, da sie erst in der letzten Minute mit dem 3:2 bei Ajax Amsterdam, das Ticket lösten, insofern vom Glück begünstigt, und dass sie auch sonst international kein Team waren, welches große Titel erbringen musste. Wäre es ein Spiel zwischen Barcelona und Paris Saint Germain gewesen oder Real Madrid und FC Bayern, dann hätte die Entscheidung ebenfalls anders ausfallen können. Nämlich, wie eigentlich üblich, gegen den Strafstoß.“
Eine kurze Unterbrechung konnte nie schaden, um das Gesagte verarbeiten zu lassen. „Du sagst also, dass die Schiedsrichter viel eher intuitiv entschieden hat und nicht etwa anhand der Spielsituation und objektiven Kriterien?“
„Gute Frage. Ja, das meine ich. Selbstverständlich gab es auch stets eine Spielsituation, die zur Beurteilung stand. Dennoch ließ es die anerkannte, akzeptierte Bandbreite der Regelauslegung fast immer zu, eine Szene so oder so zu beurteilen, ohne, dass man dafür hätte belangt werden können. Und gerade die wichtigen Entscheidungen wurden zwar sehr genau beäugt, aber dennoch fanden sich immer Stimmen für diese und Stimmen für jene Seite. Alles war grenzwertig, Zweikämpfe, beiderseits hart bis überhart geführt, Handspiele wie hier stets ´kritisch´, aber selten eindeutig, Abseitsentscheidungen ebenfalls. Jede Situation eng und insofern Auslegungssache. Also entschied der Schiri nach seiner Intuition.“
„Und wie wurde die Szene allgemein beurteilt? Es war doch nun mal ein klares Handspiel?“
„Wartet mal ab, dazu kommt ja gleich noch viel mehr. Wir sind uns aber einig, dass es klares Handspiel war und der Elfmeter so oder so berechtigt?“
„Ja, das ist offensichtlich.“
„Ich würde euch gerne versuchen, das Verhalten des Abwehrspielers, des Sündigers, näher zu bringen. Seht ihr, was er da macht?“
„Ja, es sieht so aus, als ob er irgendwo hinzeigt, als der Ball ihm an den Arm springt. Der Arm ist ausgestreckt, der Finger zeigt in Richtung Mitspieler, Gegenspieler oder eigenes Tor. Was zeigt er denn da, was soll das?“
„Genau das ist es, worüber ich reden wollte. Das Zeigen hat nichts damit zu tun, dass er Mitspielern eine Anweisung geben möchte. Obwohl dies später behauptet wurde. Zugleich wurde dies aber als unglücklich und auch unnötig ausgelegt. Also: hätte er nichts angezeigt, wäre das Malheur auch nicht passiert. Nur sage ich euch dazu: er hat getan, was er getan hat, weil er dachte: ´wenn der Ball nun gegen meinen Arm geht, habe ich eine Torchance verhindert, durch das Zeigen mit dem Finger habe ich aber angedeutet, dass es nur unglücklich war und weder eine unnatürliche Armhaltung oder Bewegung noch eine absichtliche Körperverbreiterung. Zusätzlich ist es die erste Minute im Spiel und so früh wird er schon keinen Elfer geben, auch wegen der von mir angeführten Entschuldigungsgründe.´“
„So viel kann ein Mensch doch in so kurzer Zeit nicht denken?“
„Richtig, ja, nur ist es, wie beim Schiedsrichter, der Grundgedanke dahinter, welcher diese Art von Reflexen erklärt. Man geht mit einer gewissen Einstellung hinein, auch in diese Situation. Es ist ein wenig brenzlig, also täte eine Körperverbreiterung gut, um die Flanke abzufangen. Es ist früh im Spiel, da wird er doch nicht? Das Zeigen mit dem Finger soll dem Schiedsrichter einen Anhaltspunkt geben, dass er doch bitte nicht pfeifen möge. All dies geschieht in Bruchteilen von Sekunden und ist der Grundhaltung sowie vielen angesammelten Erfahrungswerten zu verdanken.“
Man konnte diesem Gedanken schon so weit folgen.
„Die Abwehrspieler hatten zwar in letzter Zeit häufig mal eine Strafe kassiert, für Handspiele im Strafraum, in Form eines Elfmeters in der Folge, jedoch hatten sie auch gehört, wie diese Entscheidungen oftmals lächerlich gemacht wurden. ´Diese Leute, die da die Regeln machen, haben nie selbst Fußball gespielt. Sie wissen gar nicht, was sie tun. Das ist lächerlich, dass es für so etwas Elfmeter geben soll.´ Die Spieler, die eine solche Aussage hören, verarbeiten das und denken, der Schiedsrichter wird das auch hören und diesmal doch nicht etwa auf den Punkt zeigen? Wenn er es doch tut, dann hat man noch immer Fürsprecher, die einen in Schutz nehmen, was dann trotz allem gut gut. Man ist zwar trotzdem noch Sündenbock, nur einer, dem man auf die Schulter klopft. ´Ok, geht weiter, war Pech, konntest du nix dafür.´ Auch dies ein Teil seiner Rechtfertigung.“
Der Elfer ging rein, 1:0 nach einer Minute. Das Spiel ging weiter, was auch sonst. Nur hatte man nie wirklich das Gefühl, dass ein weiteres Tor fallen könnte. Keine Torchance, hier nicht und dort nicht. Dazu ein Sprecher, der sich mehr und mehr über das Spielniveau beklagte. Die Kinder langweilten sich und beschwerten sich lautstark: „Das ist gar nichts, das macht keinen Spaß. Was soll das? Keine Torchancen und ein sich beklagender Kommentator. Können wir was anderes schauen oder raus gehen?“
„Bitte, bleibt bis zum Schluss. Ein bisschen was kommt noch. Außerdem die Pausenanalyse. Was sagen die Experten?“
Wanja erklärte den Kindern dennoch: „Früher hieß es oftmals, wenn ein Spiel länger 0:0 stand, dass ein Tor dem Spiel guttun würde. Weil endlich das Abtasten, das vorsichtige Spielen, ein Ende hätte. Die einen müssten nun angreifen, es ergäben sich Chancen hüben und drüben. Das mag in früheren Zeiten mal so gewesen sein, es gilt heute nicht mehr. Es überwiegt zu jeder Zeit das Taktieren. Wer zurückliegt, wirft keineswegs alle Fesseln über Bord sondern behält die gleiche Taktik bei. Abwarten, auf eine Zufallschance warten, Hauptsache kein 0:2. Die führende Mannschaft überlässt dem Gegner oftmals den Ballbesitz, nur wird so geschickt – ihr wisst, die Ungleichbehandlung Stürmer gegen Verteidiger ausnutzend – verteidigt, dass der Ballbesitz kein Problem darstellt. Sie werden schon kein Tor schaffen. Wir werden auf jeden Fall nicht angreifen, sagt sich der Führende.“
Tatsächlich hatten dies sogar die Experten in der Halbzeit so angesprochen und beobachtet. Nur blieben sie an der Oberfläche, indem sie erkannten, dass DIESES Tor DIESEM Spiel nicht gutgetan hatte. Hätten sie mehr Erfahrung gehabt oder die vorhandene genutzt, hätten sie erkennen können, dass es bei den meisten anderen Spielen genauso ist. Tore taten den Spielen früher vielleicht gut. Heute stimmt das nicht mehr. Aus den genannten Gründen.
Auch die Elfmeterszene wurde allgemein beurteilt. Die meisten Stimmen bestätigten jedoch, was nicht weiter verwunderlich war. Dieses war wirklich zu eindeutig. Umso erstaunlicher, dass Experte und Ex-Nationalspieler Michael Ballack die Auffassung vertrat, dass man ihn geben kann, aber nicht geben muss. Das genügte schon wieder, dass sich doch Gegenstimmen einfanden – denn fraglos wird es ausreichend viele Menschen geben, die dies hören und sich der Meinung anschließen, weil er das gesagt hat – und insofern es doch wieder Gründe gäbe, auch diesen Elfer anzuzweifeln und, vielleicht beim nächsten derartigen Vorfall, dem Schiedsrichter ein Alibi an die Hand geben, ihn nicht zu pfeifen. Was denn vielleicht die gängige Art der Auslegung werden könnte, so, wie es bei vielen Vorgängerbeispielen auch schon war? Dies ist keiner, weil… Dies ist keiner, weil… Und so weiter.
Das Spielniveau wurde allgemein als recht bescheiden eingestuft. Auch hier hatten die Experten nicht gemerkt, dass es erstens nicht speziell an diesem Spiel lag, sondern allgemein an der Art, wie Fußball derzeit gespielt wird und vor allem die Regeln ausgelegt und angewandt, sowie zweitens, dass man vielleicht gerade heute eine wesentlich höhere Anzahl von Zuschauern vorfindet, welche sich ausnahmsweise mal ein richtig großes Spiel anschauen, und dass man jene mit jeglicher Art von Negativdarstellung vergraulen könnte und dies sogar auf Lebzeiten. Also: selbst wenn das Spielniveau nicht gut wäre, hätte man allen Grund, nur und ausschließlich positiv zu berichten. Heute gab es eine Chance, neue Zuschauer zu gewinnen. Auf die vorgetragene Art hat man diese Chance verpasst, abgesehen davon vielleicht noch ein paar Eingefleischte verjagt. „Championsleague Finale schaue ich auch nicht mehr. Das ist langweilig.“
Die Passquote von Liverpool lag bei 68%. Ein „unterirdischer Wert“, wenn man Kommentator Wolff Fuss Glauben schenkte. Tottenham erspielte sich denn doch hier und da ein paar Chancen, aber, ebenfalls laut Kommentator, „keine richtig zwingende“ darunter. „Zwingend“ sind nämlich nur Tore. Ebenfalls unterließ er, sich eine gewisse Spannung zu wünschen und jene zu vermitteln. Eher erklärte er durchgehend den Spielstand und, dass sich daran wohl kaum etwas ändern dürfte. Übrigens unterschied diese Art der Aufbereitung sich nicht von anderen. Der aktuelle Spielstand veranlasst einen deutschen Kommentator eigentlich zu einer Art Dauerfazit, auf diesen Spielstand bezogen. Sollte sich denn doch an der Tendenz, durch einen Ausgleichstreffer beispielsweise, etwas ändern, wird sich eher über das anfängerhafte Abwehrverhalten beschwert. Die Beschwerde kommt eigentlich nur daher, dass das eigentlich so verlässliche gezogene Fazit nun über den Haufen werfen würde – und er nun ein neues, auf Remis zugeschnittenes, ziehen muss. Wehe, wenn sich jedoch auch dieses wenige Minuten später durch ein weiteres Tor als falsch entpuppen sollte. Dann hieße es „um Himmels Willen, was ist denn hier los?“ und, in dieser Aussage ist denn viel weniger zu verhehlen, was eigentlich dahintersteckt. Der Gedanke scheint durch: „immer, wenn ich mit meinem Fazit fertig bin, schießen die ein Tor. Was soll das denn?“
Nach etwa 60 Minuten sprach der Kommentator den folgenden Satz: „Tottenham wird das Risiko nach und nach erhöhen.“ Der Vater musste nicht viel dazu sagen, fragte aber dennoch mal kurz nach bei seinen Kindern, wie ein solcher Kommentar rüberkäme und was dahinter stünde.
Diesmal dachte der Älteste laut nach: „Sie werden es nach und nach erhöhen. Das heißt, dass der Spielstand in dieser Zeitspanne unverändert bleiben müsste. Er geht also davon aus, dass es 1:0 bleibt. Dazu möchte er als wahrer Experte dastehen, der solche Spiele kennt. Es steht 1:0, die einen beschränken sich auf das Verteidigen, die anderen versuchen, risikofrei zu einem Tor zu kommen, was aber nicht möglich ist. Sie haben bisher noch nichts weiter ´riskiert´. Die Formulierung ´etwas riskieren´ heißt übersetzt, dass man angreift. Es ist vermutlich tatsächlich ein Risiko, anzugreifen. Die Gefahr, ein Tor zu kassieren ist wesentlich größer, als die Chance, eines zu erzielen. Ohne Risiko passiert dies UND das nicht, mit Risiko passiert das eine zwar immer noch nicht, aber das andere vermutlich auch nicht. Oder halt vielleicht denn doch.“
„Das hast du gut erklärt und gut beobachtet, obwohl es hier auf Putoia nicht so ist. Es war tatsächlich so, auf Erden. Weiterhin die Frage: welche Reaktion dürfte man vom Zuschauer auf so eine Aussage hin erwarten?“
„Der Zuschauer könnte zwar staunen über so viel Erfahrung, so viel Ahnung vom Fußball, aber er könnte auch sagen: ´das ist doch banal. Natürlich werden sie nicht noch energischer verteidigen, sollten sie weiter zurück liegen.´ Außerdem unterlässt der Kommentator die Voraussetzung bereits – jene, dass der Spielstand dazu erhalten bleiben müsste, damit die Voraussage des erhöhten Risikos eintrifft –, womit offensichtlich wird, dass er gar kein Interesse an einer Veränderung des Spielstandes hat. Denn was möchte man lieber: recht behalten oder ein schönes Tor sehen? Standardmäßig: recht behalten. Vermitteln tut er zugleich, dass es langweilig ist, aber vielleicht eine Weile später etwas interessanter werden könnte, mit dem anwachsenden Risiko. Übersetzt könnte er gemeint haben, was eben durchklingt: ´die nächste Viertelstunde können Sie getrost ein Nickerchen halten. Ich wecke Sie dann, wenn es wieder interessant wird. Aber eigentlich können Sie sich den Schlussteil auch sparen. Liverpool gewinnt.´ Es gibt so etwa drei Möglichkeiten, auf welche sich der Zuschauer ´freuen´ könnte. a) es bleibt beim 1:0, b) es fällt der Ausgleich, c) es fällt das 2:0. Am meisten wäre zu befürchten: er hat recht damit. Und so ist tatsächlich der Anschein.“
Die Kinder erspürten das. Wofür man jedoch nicht allzu viel Gespür brauchte war, dass es langweilig blieb. Es gab kaum Chancen. Als Tottenham dann doch mal ein paar bessere herausspielte, richtete man sich für eine Weile lang doch noch einmal auf. „Könnte es tatsächlich sein, dass hier ein Ausgleichstor fällt?“ Nein, es war nicht.
Wolff Fuss erkannte irgendwann, so etwa nach 75 Minuten: „Allisson Becker sitzt schon auf der Uhr.“
„Sehr witzig“, sagte der Mittlere, „was er meint, ist klar. Er spielt auf Zeit. Warum ging das bloß damals auf der Erde? Das wäre meine erste Frage. Dann wäre es, warum er es schon in der 75. Minute täte? Falls das hier passieren würde – was so oder so, auch von den Regeln her, ausgeschlossen wäre –, dann würde es bald 1:2 stehen und der Mannschaft plötzlich die Zeit fehlen, welche sie zuvor versucht hätte, herauszuschinden.“
„Ja, es war nicht schön. Deshalb sind wir ja hier und machen alles anders. Was aber dem Kommentator nicht aufgefallen ist, dass nicht nur der Torhüter sondern die gesamte Mannschaft ´auf der Uhr sitzt´ und es ist ihm auch nicht aufgefallen, dass sie es seit der zweiten Spielminute tut. Ebenfalls entgangen dürfte ihm sein, dass es jede Mannschaft tut, ab einem zufälligen Führungstor, und auch nicht aufgefallen wäre ihm, dass so etwas kein Zuschauer sehen möchte und dass ein Fehler in den Regeln und deren Anwendung zugrunde liegen muss, dass es jeder tut, zu jedem Zeitpunkt, und noch weiterhin, dass sie es deshalb tun, weil sie so mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Erfolg kommen und dass dies die Regelproblematik noch mehr unterstreicht. Ansonsten eine brillante Erkenntnis.
Das gewisse Lächeln, mit welchem er das aussprach, war deplatziert, sollte aber in gewisser Weise andeuten, wie clever der Torhüter wäre. Vermutlich wäre dies nämlich nur ihm und nicht etwa dem Schiedsrichter aufgefallen. Der Zuschauer wurde eingeweiht, in der Absicht, Wolff Fuss´ Ausnahmestellung erkennen zu können und natürlich im Anschluss den Torhüter ebenfalls für dessen Cleverness zu bewundern. ´Das macht er aber toll und geschickt, der Torhüter, wie er unauffällig das Spiel verzögert und somit Liverpool den Titel sichert. Super, beeindruckend´. Dass man zeitgleich ein paar Streichhölzer benötigte, um die Augen offen halten zu können war Teil des Deals? Alles rundherum lächerlich.“
Nein, es machte keinen Spaß. Es war eher ein bisschen wie Folter, so ein Spiel schauen zu müssen. Ein Großteil des Mangels an Freude trug jedoch der Sprecher dazu bei. Sein Fazit war gezogen, das spürte man, insofern wäre er der letzte gewesen, welcher sich eine Änderung des Spielstandes gewünscht hätte. Jedoch hätte ein Reporter eigentlich grundsätzlich die Aufgabe, als Ursache für Berufswahl zugleich, es spannend zu gestalten, dem Zuschauer die Story anbieten zu können, auf das ganz besondere Spektakel zu warten und zu hoffen, also hätte er zumindest erkennen lassen müssen, dass er Tottenham, in der Phase, als sie die paar guten Chancen kreierten, die Daumen zu halten. Im Gegenteil redete er sie klein. „Jo, immerhin mal ein Schuss, aber die große Torgefahr fehlte.“
Bei einer wichtigen Szene begehrten die Kinder auf. Ganz einfach: als neutraler Zuschauer hätte man Tottenham so oder so den Ausgleich gegönnt, einfach aufgrund der Spielanteile. Aber als Anhänger des Spiels Fußball musste man doch auf Spannung und Unterhaltung hoffen, welche nur durch einen Treffer hätte ernsthaft entstehen können? In der Druckphase nahm Son, ein Angriffsspieler von Tottenham, einen Ball an der Strafraumkante mit. Der Ball mag den Arm ganz minimal berührt haben, aber hier sicher weder unnatürlich noch die Bewegung des Balles ernsthaft verändernd. Sofort ertönte der Pfiff. Son war spürbar aufgebracht. Aber wohl weniger, weil er nicht wusste, dass er den Ball leicht touchiert hätte, viel eher, weil er wusste, dass Abwehrspieler ganz allgemein wesentlich mehr Hand spielen können – und dafür sehr selten belangt werden. Diese allgemeine Ungerechtigkeit war es, die ihn aufbegehren ließ, aber in diesem Moment waren sie dem Ausgleich auch nahe. Ein Pfiff hier unterbrach diesen Angriff, bedeutete, Ballverlust, Neuaufbau nach Rückeroberung, abgesehen von den Minuten, die es kostete und die gegen Spielende so wertvoll waren. Mehr oder weniger war es dieser Pfiff, welcher das Spiel endgültig entschied. Viele solcher Szenen ließen sich garantiert nicht mehr aufbauen, falls überhaupt noch eine einzige.
Die Kinder also mit Son in einem Boot: „Warum pfeift er das denn jetzt ab? Sie waren so nahe am Torerfolg und wir gönnten es ihnen.“
„Ja, es war genau die Art von Regelauslegung, von der wir schon gesprochen haben. Genau, wie er bei Handspiel Tottenham im eigenen Strafraum den Elfmeter gab, gab er es hier. Er war nicht parteiisch, das behaupte ich gar nicht. Aber er fühlte sich von der Welt beschützt. Heute war Klopps Tag, das hatte die Welt ihm eingeredet. Also kann er ruhigen Gewissens abpfeifen. Nur unterstreicht genau das, dass es reine Willkür des Schiedsrichters war, wie Spiele ausgingen. Zwei enge Entscheidungen, beide mit spielentscheidendem Charakter, beide so ausgelegt, beide einseitig, aber doch keiner, der sich beschweren könnte.“
„Papa?“, meinte der Jüngste noch, „die Nachberichte müssen wir uns aber nicht mehr anschauen? Wir gehen jetzt raus selber spielen. Aber ich bin traurig. Weil ich finde, dass die bessere Mannschaft verloren hat.“
Da konnten ihm alle in der Runde nur recht geben. Wanja war zwar auch ein wenig traurig, aber auch ein bisschen froh darüber, dass die Kinder wie er fühlten.
KloppBonus beim Elfer?
Keine Torchancen, hier nicht, dort nicht
Beschwerden von Wolff Fuss über das Spielniveau
Passquote Liverpool
„Tottenham wird nach und nach das Risiko erhöhen“
Allisson Becker sitzt schon auf der Uhr
Handspiel?! Son
Doch ein paar Chancen Tottenham
Druckphase, man wünscht es sich
Die bessere Mannschaft hat verloren
Viel Langeweile
Zusammenfassung: Schiedsrichterentscheidung im Nachhinein doch so, wie man es befürchten musste: spielentscheidend und für den Spielverlauf entscheidend