Wanja spricht mit seinen Kindern, heute über…
Judging by results
Die Familie saß wieder in vertrauter Runde beisammen. Die Kinder hatten diesen Teil der Schulergänzung längst irgendwie lieb gewonnen. Selbst wenn es so zahlreiche teils schockierende Berichte über die Zustände auf der Erde und vor allem über den Fußball dort gab: es übte eine gewisse Faszination aus. Zumal eben jeder irgendwann wusste, dass er die Existenz hier nur und allein dieser Vorgeschichte zu verdanken hatte. Und man fühlte sich einfach wohl hier, wo man war. Wobei es immer eine kleine Aufgabe blieb, das, was man alltäglich gewohnt ist, stets zu schätzen zu wissen und dankbar zu bleiben. Dauerhaftes Glück – so hatte es ihr Vater ihnen gut beigebracht und verständlich gemacht – ist genauso wertlos wie dauerhaftes Unglück, sofern man dieses oder jenes nicht mit einem alternativen Zustand vergleichen kann. Das heißt: zwangsläufig muss es auch Tiefen geben, in jedermanns Leben, allein, um die Höhen, welche sich anschließen, überhaupt wahrnehmen zu können. Trotzdem waren sich alle einig: hier auf Putoia lässt es sich gut leben. Wie es auf der Erde gewesen wäre? Dazu fehlte auch in dem Falle ein Vergleich. Zu tauschen wäre jedoch unter keinen Umständen auch nur ein einziger hier bereit gewesen. Man liebte das Leben und vor allem den Fußball hier – und zwischen beidem gab es einen engen Zusammenhang.
„Wir haben uns nicht einzig und nicht zum ersten Mal mit der Berichterstattung beschäftigt. Unbedingt beachten sollte man schon, dass das hauptsächlich ein deutsches Problem war. Warum dies so war, hatten wir auch schon besprochen. Die verlorenen Kriege, zu viele Titel in der Folge, etwas zu viel Glück, der verklärte Blick davon, die Rechtfertigung eines jeden Ergebnisses, da man sonst die eigenen Erfolge hätte in Frage stellen müssen, die gewisse Arroganz der Sprecher, aus dem Land des Weltmeisters zu kommen und allein deshalb alles und alles besser zu wissen, eigentlich wissen zu müssen, weil sonst auch die vielen Titel in Frage stünden. Wir sind Weltmeister, weil wir nun mal, jeder Einzelne, ein Fachmann ist und besser ist als der Rest der Welt, das muss in jedem Kommentar durchklingen und erkennbar bleiben. Eine Aktion zu loben entfällt. ´Gut gemacht´ sagt nur ein Laie. Der Experte erkennt: ´ja, wenn man ihm so viel Platz lässt, dann kann er natürlich… da muss der Gegenspieler eher rangehen, richtig zur Sache gehen´ oder so etwas.
Selbst wenn dieses Problem ein hauptsächlich deutsches war, so gab es dennoch auch im Ausland jede Menge Erwartungsdruck und, daraus resultierend, Trainerentlassungen oder Fans, die sich aufregten, die Kicker in Frage stellten oder sogar attackierten, weil sie die Erwartungen nicht erfüllen konnten. Auch hier eine unerfreuliche Folge daraus, aus meist falschen und von den Medien erzeugten übertriebenen Ansprüchen, die sich so oder so nicht für alle Teams erfüllen ließen. Minimalziel war der Klassenerhalt – und jenes konnten schon von Hause aus nicht alle Mannschaften erreichen. Die Fragestellungen nach einem schönen Spiel, nach einem unterhaltsamen Abend, nach viel Spaß, Spannung und Dramatik, die Frage nach Fairplay, der Dank an beide Mannschaften für ein gutes Spiel, in welchem nun mal nur einer gewinnen kann, all diese kamen nicht auf und gingen im ´reinen Ergebnissport Fußball´ unter und gänzlich verloren. Das war auch im Ausland so.“
Wenn Wanja einmal in Fahrt geriet, dann war er nicht zu bremsen. Natürlich war ihm auch klar, dass er besser ab und an mal innehalten sollte, eine Frage stellen, eine Denkpause einrichten, eine Reaktion abwarten, aber so lange alle die Lauscher gespitzt hatten, war dies nicht zwingend erforderlich und ab und an darf man sich ruhig auch mal auf diese Art gehen lassen. Es hatte sich halt über die Jahrzehnte auf der Erde eine ganze Menge angestaut. Da musste man sich mal Luft verschaffen.
„Ok, aber heute wollte ich mit euch eigentlich über ein Prinzip sprechen, wessen sich die Kommentatoren mehr und mehr bedienten und welches a) ihre Arbeit so unendlich viel einfacher machte, welches b) ihnen zu jeder Zeit ein hohes Ansehen, einen Expertenstatus, die bereits erwähnten Expertenpunkte, welche man heimlich ansammelte, verschaffte und welche c) dennoch absolut oberflächlich und meist falsch waren, welche d) im Ergebnis meist falsch waren und welche abschließend e) den Spaß am Fußball, der Freude an der Angelegenheit, dem eigentlich gewünschten Unterhaltungswert der Reportage verdarben. Dieses Prinzip nennt sich ´judging by results´.“
„Ja, das kenne ich“, sagte der Mittlere, „das nervt mich auch immer, wenn jemand sagt, ´pass auf´, nachdem mir etwas runtergefallen ist. Das weiß ich schließlich jetzt auch und der Rat kommt zu spät – außerdem ist es gar kein Rat. Diesen hat er erst als solchen formuliert, nachdem das Ergebnis offensichtlich ist. Hätte er sich auch sparen können.“
„Ja, ein gutes Beispiel. Aber die Reaktion eigentlich ein wenig menschlich. Derjenige, der den Rat ausspricht, meint, teils an sich selbst gerichtet, ´hätte ich dich bloß vorher gewarnt, dann hätte man das vielleicht vermeiden können´. Es ist eine Art Reflex, kann man sogar sagen. Ab und an passiert es sogar, dass man den Moment gerade noch erwischt, in welchem eine Warnung hilfreich ist. Also man sieht etwas wackeln, erkennt, dass es gleich fällt, und eilt sogar zu Hilfe mit den Worten ´pass auf, Vorsicht!` und kann das Unglück sogar noch abwenden. Also von daher: ich verstehe deine Aufregung. Es ist eine Alltagssituation, man kann aber die Menschen dennoch verstehen und teils darin sogar einen Sinn erkennen. Dennoch natürlich: erfreulich, wenn ihr solche Beobachtungen macht und sie, genau wie ich damals, einordnen könnt und eure Schlüsse daraus zieht.“
Eine kurze Pause hier und da, wie gewohnt, konnte nie schaden und ergab sich oft zwangsläufig. Man besann sich einfach. Wanja nahm den Faden wieder auf.
„Dies kann jedoch, wenn dauerhaft eingesetzt, sehr bald zur Klugsch… werden. Vor allem, wenn einem die Möglichkeit eines Einwandes nicht zur Verfügung steht. Wir müssten die Punkte a bis e weiter mit Leben füllen, aber ich möchte nun das einfache Leben der Kommentatoren, welches sich bedauerlicherweise immer mehr in die genannte Richtung entwickelte, einmal am Beispiel erläutern.
Es ergibt sich eine Torchance. Der angreifenden Mannschaft stehen ein paar Optionen zur Verfügung. Die beliebtesten davon: selbst den Abschluss suchen oder den besser postierten Mitspieler anspielen. Nur geht all dies in Sekundenbruchteilen. Abgesehen davon, dass die Verteidigung mit ihren Reaktionen da ein gehöriges Wörtchen mitzureden hat. Das einfache Leben des Reporters ist nun davon geprägt: der Spieler schießt, es wird kein Tor. Kommentar: ´da hätte er abspielen müssen´. Die Alternative ist die, dass er abspielt und es auch kein Tor wird. Der Kommentar dann: ´da hätte er es alleine probieren müssen´. Dieser UND jener Kommentar sind allein am Ergebnis abgeleitet.“
Ja, das war spielend leicht nachzuvollziehen. Die Kinder schwiegen und dachten darüber nach. Ein zögerlich hervorgebrachter Einwand lautete: „Es stimmt doch aber ab und zu mal? Das sehe ich doch im Spiel, ab und zu wenn wir selber spielen, ab und zu beim Zuschauen. Das sagst du doch selber manchmal?“
Wanja musste sich kurz zurück erinnern und die Worte auf sich einwirken lassen. Natürlich hatte sein Sohn damit recht. Aber auch er hatte seinen Punkt.
„Sehr gut beobachtet. Es ist ab und an erkennbar, welches die Option ist, die die höhere Torwahrscheinlichkeit ergibt. Falls ich es sagen sollte – was tatsächlich hier und da vorkommt –, dann würde ich es erstens aus der Situation ableiten, zweitens mit einem Bedauern über die verpasste Chance aussprechen und nicht mit einer Art von Belehrung und drittens wisst ihr sicher, dass ich nur für den Fußball bin und voller Bewunderung, was die Spieler – wie auch ihr selbst – können. Von daher ist es nicht vergleichbar. Abgesehen davon dürfte man sehr wohl anführen, dass ich ab und zu die Erkenntnis hätte, selbst wenn es ein Tor wird, dass es nicht die bestmögliche Entscheidung war oder umgekehrt, wenn es kein Tor wird, sehr wohl sage, dass ich es so für richtig erachte. Also sämtliche Facetten der Differenzierung sind bei mir erfüllt, welche meine Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit in der Aussage unterstützen.“
Nun konnten die Kinder eigentlich nur anerkennen, dass ihr Vater das gut beobachtet und zusammengefasst hatte. Die Chance nutzte Wanja, um fortzufahren. Sie waren sozusagen auf seiner Seite.
„Der Unterschied zu den Sportkommentatoren ist offensichtlich, denke ich, und sie haben dieses Stilmittel in der Entwicklung auch anwachsend stark eingesetzt. Das heißt: als ich ein Kind war, konnte man sehr wohl hier und da diese Unterscheidung auch erkennen, eine Art von Bedauern, wenn eine Aktion daneben ging. Schade für den Fußball, wir hätten alle gerne ein schönes Tor gesehen. Außer – immer mit dieser kleinen Einschränkung – die weit in der Unterzahl befindlichen Fans der das Tor kassierenden Mannschaft. Im Grund möchte jeder Zuschauer gerne gelungene Aktionen sehen. Es ist ein bisschen wie Zirkus. Dort ist vor allem die Freude über das Gelingen, keineswegs das Scheitern.
Die Abwehrspieler sind diejenigen, welche dem Gelingen im Wege stehen könnten. Sie versuchen, sich optimal zu postieren, um den Torerfolg zu verhindern. Dennoch bleiben sie die Zerstörer, jene, welche dem allgemeinen Zuschauer das Spiel verleiden könnten. ´Schon wieder ein Abwehrbein im Wege´ könnte er denken. Sie sind die Fußballverhinderer. Dennoch darf man deren gelungene Aktionen auch hier und da bewundern oder sich an ihnen erfreuen. Hervorzuheben wären gute Paraden eines Torhüters – welche als solche schon zum Spektakel beitragen können –, ein gelungenes faires Tackling, ein dazwischen sprintender Verteidiger, welcher mit fairem Körpereinsatz den Ball abläuft. Dennoch dürfte sich die Welt weniger an diesen Aktionen erfreuen können. Ihre Zweckhaftigkeit entnehmen sie dem Verhindern der Tore, wobei sie dazu beitragen, dass man sich im Anschluss über eine doch überwundene Abwehr mit dem letztendlichen Toreinschlag wiederum erst so richtig freuen kann. Sprich: wenn es immer allzu einfach gelänge, wäre diese Freude arg gemindert. Man muss also das Gefühl haben, dass es schwierig ist, damit man sich über ein Tor freuen kann.“
Nun war Wanja mal wieder in Fahrt geraten. Das hieß zwar nicht, dass das Erzählte langweilig wurde, nur schweifte er immer gerne. Er vertrat jedoch immer die Ansicht, dass man die Zusammenhänge an allen Stellen ruhig deutlich machen konnte, um sie richtig zu verstehen.
„Ok, ich habe das Urteilen anhand des Ergebnisses, das judging by results, ein wenig aus den Augen verloren. Was ich jedoch betonen wollte ist dies: falls einer dieser weisen Ratschläge erfolgte, ´da muss er abspielen´ oder ´da muss er es selbst probieren´, dann vergisst der Sprecher in dem Moment anscheinend, dass die Abwehr etwas dagegen hatte und alles in ihrer Macht liegende getan, um das Tor zu verhindern. Vielleicht waren sie einfach in dem Moment mit ihrer Abwehraktion erfolgreich. Also: der Sprecher könnte den Spieß zunächst in der Theorie gar umdrehen und stets alles von der positiven Seite beleuchten. Also wenn der direkte Schuss kein Tor ergibt, dann hätte die Abwehr dem Schützen nur diese schlechtere Option angeboten, also positiv gesehen den gefährlich lauernden Mitspieler in der Mitte rechtzeitig abgedeckt oder, falls das Abspiel erfolgte und es kein Tor wird, hätte der Gegenspieler den günstigeren direkten Weg zum Tor erfolgreich zugestellt und somit das weniger zielführende Abspiel provoziert, was dadurch wieder zu verteidigen war. Sie haben sich aber stets für die negative Seite entschieden. Da musste er dies tu, da hätte er besser das getan. Je nach Ausgang der Situation.“
Die Kinder lauschten weiterhin. So sehr ihr Vater auch immer wieder drumrum redete: irgendwie schloss sich am Ende doch der Kreis.
„Denn ihr wisst sicher, was geschah, wenn es doch zum Torerfolg kam?“
„Das kann man locker heraushören: sollte der Ball den Weg ins Netz finden, dann hatte sich der Angreifer keineswegs, wie man nun annehmen müsste, für die bessere Option entschieden, nachdem er es vorher bereits vier Mal falsch gemacht hatte.“
„Sondern…?“ hakte Wanja nach.
„… hatte sich urplötzlich die komplette Abwehr im Tiefschlaf befunden, hätte ihn der Gegenspieler laufen lassen, ihm nur freundlichen Geleitschutz gegeben, hätte sich anscheinend noch nicht herumgesprochen, wie torgefährlich der Mann wäre, wenn man ihm den Platz lässt, hätte keiner zuvor schon im Mittelfeld den Pass verhindert durch energisches Einschreiten, hätte der Torwart entgegen gehen sollen oder aber, falls er es getan hatte, hätte er auf der Linie bleiben müssen, und überhaupt hätte jeder in der gesamten Mannschaft seinen Teil dazu beigetragen, dass es zum Gegentor kam, insofern hätten sie es sich selbst zuzuschreiben, dass es nun 0:1 stünde.“
„Das bedeutet in der Summe?“
„Egal, wie eine Aktion endete: der Sprecher wusste immer, wer was falsch gemacht hatte, befand sich stets im Recht, da er den Ausgang der Aktion nun kannte, sammelte jede Menge Expertenpunkte – zumindest nach eigener Ansicht, weil er so unendlich schlau war – und hat zugleich dem Zuschauer jegliche Freude an den Geschehnissen verdorben. Wer möchte schon durchgehend über die ständigen Fehler informiert werden? Wie könnte man darauf kommen, dass das guter Fußball sein soll, dass das Spaß macht, hier zuzuschauen? Möchte man nur auf die nächste Aktion warten – um dann schon wieder belehrt zu werden, was an dieser alles faul war? Denn merke: kein Tor – die Angriffspartei hat etwas falsch gemacht, etwas vermissen lassen. Doch ein Tor – die Hintermannschaft hat etwas falsch gemacht, wobei hier durchaus die Unterscheidung gerechtfertigt ist: wenn es kein Tor wurde, hat die Angriffspartei nur EIN PAAR KLEINE FEHLER gemacht. Wird es doch ein Tor, hat die Abwehrpartei RUNDHERUM ALLES FALSCH gemacht. Kleine Fehler – dann fällt eben nur kein Tor. Grobe Fehler – doch das seltene Ereignis eines Tores. So primitiv wurde uns der Fußball im Laufe der Zeit vermittelt. Kein Wunder, dass die Menschen in Scharen abwanderten – nach Putoia.“
Wanja war aber noch lange nicht durch mit diesem Thema.
„Das Prinzip lässt sich überall anwenden und es ist überall gleichermaßen oberflächlich, irrig und Spaß und Freude verderbend. Eine einzelne Aktion wird anhand ihres Ausgangs beurteilt. Der Ausgang dieser Aktion ist jedoch, je nach Perspektive, positiv oder negativ zu anzusehen. Falls man es bei einem internationalen Spiel getan hätte, einer deutschen Mannschaft gegen eine ausländische, dann könnte man eine dauerhafte Perspektive in gewisser Weise hinnehmen. Also: die deutsche Mannschaft erzielt KEIN Tor, da hätte man irgendwas anders machen müssen, sie kassiert eines, da hätte sie besser verteidigen können. Selbst wenn das noch immer falsch und oberflächlich und nur am Ausgang orientiert: man könnte es als mitfiebern auffassen.
Wenn man jedoch eine beliebige Bundesliga Partie kommentiert, dann wäre man zur Neutralität verpflichtet. Falls man nun stets den negativen Part heraushebt, dann stimmt eine ganze Menge nicht. Tor kassiert – die haben was falsch gemacht. Kein Tor erzielt – die andern haben was falsch gemacht. Immer die Sicht von der negativen Perspektive.“
Auch dies war verständlich. Warum das so geschah? Es war offensichtlich: der Kommentator wollte der Schlaumeier sein.
„Die Ausdehnung des Prinzips erfolgte auf ganze Spielausgänge beziehungsweise Tabellenstände, auf ganze Spielzeiten oder, sogar noch weiter gedacht, auf Jahre hinaus. Waren also – wie 2019 – beide europäischen Cupfinals ausschließlich von englischen Mannschaften bestritten, so wurde uns dies erklärt mit den Clubübernahmen von ausländischen Investoren, welche in Deutschland nicht gestattet waren. Zugleich hätten sie im Ligaalltag Woche für Woche schwere Spiele, aufgrund der großen Konkurrenz, während Bayern München in Deutschland nie richtig gefordert war und deshalb an der ganz oberen Spitze nicht mehr mithalten konnte.
Gingen die englischen Mannschaften davor jahrelang leer aus, so wurden sie – so oder so – ausgelacht aber einem zugleich erklärt, dass dies kein Wunder wäre, da sie nämlich eine so lange Saison hätten und zugleich die ganzen Cupwettbewerbe aber auch sonst einfach nicht gut genug wären. Sollte man das nun glauben oder sie für schlau erklären oder im Gegenteil sie einfach nur selbst auslachen? Das wirklich Ärgerliche an diesen Zusammenhängen, welche einem permanent aufgetischt wurden und die sich tatsächlich in den Köpfen der weniger Reflektierenden festsetzte war aber nicht so sehr, dass es nicht irgendwie menschlich und verständlich, gar selbstverständlich wäre, nach ihnen zu suchen? Sicher fand sich hier oder da auch mal ein Körnchen Wahrheit drin? Nein, viel mehr war es so ärgerlich, weil einem eine jegliche Erklärung als der Weisheit letzter Schluss verkauft werden sollte, als Gipfel der Erkenntnis, als unumstößliche Wahrheit – dabei nicht spürend, dass es vor einer Woche, einem Monat, einem Jahr noch genau umgekehrt, aber davon kein bisschen weniger überzeugt erklärt wurde. Das Motto eines jeden dieser Experten hätte gelautet: ´genau so ist es´. Auf die Nachfrage ´woher weißt du das` hätte die einzig richtige Antwort lauten müssen ´na, das sehe ich doch am Ergebnis´. Eine jede dieser Erkenntnisse ist genau so leer wie es Kurt Tucholsky einst über die Essayisten sagte: ´Banalitäten aneinandergereiht, aufgeblasen wie ein Kinderballon, ein Stich mit der Nadel der Vernunft hinein – und es bleibt nichts als ein runzeliges Häuflein schlechter Grammatik.´
„Ich möchte euch noch ein Beispiel geben. Bei der Fußball Weltmeisterschaft 1970 kam es im Viertelfinale zur Paarung Deutschland gegen England. Da es zugleich die Wiederholung des Finales von 1966 war und ohnehin eine besondere Brisanz im Duell dieser beiden großen Fußball Nationen lag, wurde dieses Spiel noch mehr zu einem gigantischen Spektakel aufgebauscht, als Revanche für das aus deutscher Sicht angeblich so unglücklich verlorene Finalspiel von vier Jahren zuvor, aufgrund des Weltberühmtheit erreichenden Wembley-Tores, welches vermutlich keines war. England führte in dem Spiel bei glühender Hitze um die Mittagszeit im sommerlichen Mexico bereits mit 2:0. Deutschland holte die zwei Tore auf und gewann nach Verlängerung mit 3:2. Die Revanche sozusagen in jeder Hinsicht geglückt, da nämlich England ebenfalls vier Jahre zuvor, damals jedoch mit 4:2 aber ebenfalls nach Verlängerung gewann, und das berühmte Wembley Tor war genau das spielentscheidende 3:2.“
„Und, inwiefern hat das was mit ´judging by results´ zu tun?“
„Das will ich gerne erklären. England lag mit zwei Toren vorne und wechselte, Mitte der zweiten Halbzeit, zwei wichtige Spieler aus. Im Anschluss gelangen Deutschland die zwei Tore zum 2:2.“
„Ah, verstehe. Nun wurde ein Sinnzusammenhang hergestellt zwischen diesen beiden Toren und den Auswechslungen?“
„Genau so ist es. Es war erstmals erlaubt, bis zu zwei Spieler auszuwechseln. Also im Grunde hatte noch keiner rechte Erfahrungen damit. Zusätzlich – das gestehe ich sogar gerne ein – war es oftmals tatsächlich so, dass es einen Unterschied gab zwischen der ersten Elf und den Ersatzspielern. Ganz anders als später, als oftmals 22 gleichwertige Spieler zur Verfügung standen und es wohl kaum an einer solchen Auswechslung festgemacht worden wäre. Damals jedoch wurde dieser Zusammenhang hergestellt und das Spiel wird sozusagen in die Geschichtsbücher eingehen als jenes, in denen zwei fehlerhafte Auswechslungen England den Sieg gekostet haben. Es ist wie eine feststehende Tatsache, es ist ein historisches Ereignis daraus geworden unter diesen Vorzeichen.“
„Aber, du wirst uns sicher besser erklären können, wie es wirklich war?“
„Ich kann es höchstens mithilfe von Wahrscheinlichkeiten erklären. Aber ich möchte noch ergänzen, dass die Auswechslung von zwei zentralen Spielern dazu beitrug und dass nämlich somit dem Trainer unterstellt wurde, dass er den Sieg hier bereits in trockenen Tüchern wähnte, eine Art Arroganz ihm unterstellt wurde, dass er Deutschland abgeschrieben hatte, dass er die wichtigen Spieler für das anstehende Halbfinale schonen wollte.
All dies sind vermutlich irrige Annahmen. Denn: erstens sind die wichtigen Spieler oftmals Offensivkräfte, die Spiele entscheiden konnten. Vielleicht heute nicht mehr so sehr wie früher, aber dennoch. Offensivkräfte, die bereits ihr Werk erledigt hatten durch Defensivkräfte zu ersetzen wurde später ohnehin zur Regel. Man schaukelt das schon. Abgesehen davon waren diese Offensivspieler bereits etwas höheren Alters, welchen die Hitze vielleicht noch etwas mehr zusetzte. Die Entscheidung von Trainer