Wanja spricht mit seinen Kindern, heute über…
Handelfmeter
„Also“, begann Wanja die heutige Gesprächsrunde, „wir sprachen ja neulich über den Foulelfmeter. Fassen wir noch einmal zusammen, worin die Hauptproblematik beim irdischen Fußball bestand?“
Die Kinder antworten, einander abwechselnd ergänzend : „Das Problem war, dass die Strafe Elfmeter für die meisten Foulaktionen im Strafraum eine zu hohe Aufwertung der Torchance bedeutet hätte. Und obwohl es, laut Regel, einen Elfmeter hätte geben sollen oder sogar müssen für ein Foul im Strafraum, bewertete man hier die Spielsituation anders, fürchtete immer oder dichtete dem Stürmer immer an, dass er den Elfmeter doch nur haben wollte oder ließ Milde walten, selbst bei recht klaren Foulaktionen, und fand für die Verteidiger immer mehr Rechtfertigungen, dass es doch hier gar nicht so schlimm war und dass man dafür doch nicht einen Elfer geben kann und in der Situation wäre es auch etwas zu hart. Außerdem foulten die Abwehrspieler natürlich immer nur ein klein wenig, obwohl auch eine kleine Behinderung oftmals ausreichte, einen erfolgreichen Torabschluss zu verhindern. So wurde zwar tüchtig gefoult und fast immer so, dass es ´schwer zu beurteilen war´, die Abschlussaktionen waren davon nachteilig beeinflusst, aber Elfmeter gab es sehr, sehr selten dafür. Auch davon beeinflusst insgesamt wenige Tore, so dass sich der Schiedsrichter noch mehr dagegen sträubte, durch diesen einen einzigen Pfiff ein Spiel zu entscheiden. Und genau so empfand dies auch der Zuschauer. Es bestand sozusagen Einigkeit darüber, dass man beim Elfmeter schon sehr, sehr sicher sein müsste, dass das auch ein klares Foulspiel war und immer mehr Situationen wurden dadurch zum Nachteil für die Stürmer, also als Foul nicht ausreichend für einen Strafstoß beurteilt. Psychologisch gesehen muss man die Schiedsrichter sogar erstens halbwegs verstehen und zweitens in Schutz nehmen. Eine Entscheidung für Elfmeter war gefühlsmäßig so wie ´ich entscheide auf Tor´, und das in Spielsituation, wo ein Tor in weiter Ferne lag. Die Bedeutung eines Tores so hoch, der Einfluss auf den Ausgang des Spieles von fast überragender Bedeutung, da konnte man doch nicht ´einfach mal so auf Tor entscheiden´?“
Wanja war schon sehr mächtig stolz auf seine verständigen Kinder. Dem gab es wenig hinzuzufügen, selbst wenn gewisse Authentizitätsverluste bei der Übermittlung der Rede vorstellbar sind. Inhaltlich: einwandfrei. Es gab immer diese oder jene Möglichkeit, das zum Ausdruck zu bringen, was eigentlich ganz offenbar war, aber den Erdlingen so unzugänglich schien. Hätten sie doch mal die Chance erhalten, einem derartigen Gespräch zu lauschen? Vielleicht hatten sie, aber sie blieben dennoch in ihrer eigenen Welt gefangen.
Die Stürmer konnten eigentlich gar nichts dafür, dass die Regeln, welche seit 1891 mit einigen Abänderungen bestanden, ihnen diesen Vorteil verschafften im Sinne einer meist gigantischen Torchancenvergrößerung, die es im Falle eines Strafstoßpfiffes gegeben hätte. Natürlich war dies in der ersten Regelfassung und der damals gängigen Art, das Spiel allgemein ohne die heute auf der Erde üblichen Bösartigkeiten, permanenten Regelverletzungen, Unsportlichkeiten, Foulspielen mit Verletzungsfolgen, vom Attackierend billigend in Kauf genommen, gespielt, eigentlich als Gegenleistung für die unterbundene Torchance gedacht, aber sicherlich hatte man keineswegs die Absicht, mit einem ´Strafstoß´, das Wort ´Strafe´ beinhaltend, der verteidigenden Mannschaft einen Vorteil zu verschaffen. Warum sollte man? Sie haben eine Unsportlichkeit, eine Regelverletzung, ein Foul begangen, da schert man sich doch nicht darum, ob ihnen daraus ein Nachteil erwächst? Im Gegenteil war dies vielleicht sogar willkommen. Warum sollten Sünder belohnt werden oder gut dabei abschneiden? Insofern also: ein Elfmeter war für Regelverletzungen im Strafraum gedacht, die jedoch häufig genug auch, aufgrund der Tornähe, in früheren Zeiten höchste Torgefahr darstellten. Aber selbst wenn es den Stürmern zum Vorteil gereicht hätte, wäre dies nicht als Problem zu erkennen gewesen.
Zudem aber gab es a) mehr Tore, so dass ein einzelnes keineswegs für eine Spielentscheidung sorgte, aber b) hatte man auch überhaupt nichts dagegen, wenn es mehr Tore gab? Das war doch Spaß und Unterhaltung, allgemein, für die keineswegs nur in Fanlager sich unterteilenden Zuschauer? „Wow, es gibt Elfer, das will ich sehen!“
Wanja übernahm: „Es gab übrigens eine Art von Redewendung, was die Stürmer anging. Man sagte den besonders guten nach ´der geht dahin, wo es weh tut´. Genau. Es tat weh. Es tat sogar enorm weh. Die körperlichen Schmerzen waren nicht einmal die schlimmsten. Es waren die Seelen, welche verletzt wurden. Nur erkannte das niemand. Man könnte die Lage, in welcher sich die vordersten Angriffsspieler befanden, in etwa so zusammenfassen : a) du wirst dauernd gefoult, b) wenn du fällst, bekommst du Gelb oder manchmal auch kein Gelb; vergiss es, denk nicht mal dran, einen Elfer zu bekommen; c) wenn du fällst, wird es nie ein Tor, wenn du auf den Beinen bleibst, ist die Torchance wesentlich geringer als sie ohne das Foul wäre; d) wenn du es trotzdem versuchst, ein Tor zu erzielen, aus der geringeren Chance, wird dir nachgesagt, ´da hätte er fallen müssen, dann hätte er ihn bekommen´ und dazu hast du dem Schiri das Signal gegeben, nun auf keinen Fall mehr zu pfeifen, da du ihn ja nicht einmal haben wolltest; e) werden dir Erfolglosigkeit und Torlosminuten vorgerechnet und nächste Woche sitzt du auf der Bank, da dir ´das Durchsetzungsvermögen fehlt´; f) solltest du selbst einmal, im Gegenzug, tief einatmen und der Gegenspieler von dem Luftzug zu Boden gehen; dann bist DU derjenige, der gefoult hat und es gibt, ohne jede Diskussion, Stürmerfoul – und keine Zeitlupenwiederholung und keine Diskussion darum, wofür der Pfiff erfolgte, keinen Videobeweis, keine Analyse, einfacher Pfiff, das war´s; g) stellen wir uns ein Laufduell vor, um es anschaulich zu machen, indem dein Gegenspieler beginnt, mit den Armen zu rudern, da er langsamer ist und nicht hinterherkommt; solltest du nun sein Rudern unbeantwortet lassen, jagt er dir den Ball ab, weil er dich einholt und überholt; solltest du als Antwort darauf ebenfalls die Arme zum Einsatz bringen, heißt es ´da haben beide gefoult; weiterspielen war die richtige Entscheidung´; durch die Behinderung wird die Aktion entscheidend zu deinem Nachteil beeinflusst; also vergiss es: ein Tor wirst du nicht erzielen.“
„Ich fühle mit den Stürmern“, sagte einer der Jungen, „und ich kann es nur nicht verstehen, dass niemand was gemerkt hat und sich niemand dagegen wehren konnte. Das waren universumsschreiende Ungerechtigkeiten. Wie hast du das bloß ausgehalten, Papa, denn du sagst doch, dass Fußball ein Großteil deines Leben war?“
„Ihr könnt euch das in etwa so vorstellen wie in der Geschichte ´des Kaisers neue Kleider´. Dort mussten alle die neuen Kleider des Kaisers bestaunen, obwohl der Kaiser GAR NICHTS anhatte. Nur traute sich niemand, auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. Alle staunten und jeder dachte wohl, er wäre der Einzige, der das sehen würde?
Auszuhalten war es ja nicht. Und sehr viele Menschen, die ich kannte, mit einigem Verstand gesegnet, wandten sich einfach ab von dem Spiel. Sie konnten das nicht aushalten, dachten aber nicht so viel weiter nach, woher die Abneigung und Ablehnung kamen. Und wenn man sich einmal abgewandt hatte und sich dafür anderen Dingen, beispielsweise gerechteren Sportarten, zugewandt hatte: welchen Grund hätte man nun gehabt, sich damit zu beschäftigen, was so alles im Fußball falsch lief und wie schön er sein könnte, wenn man ihn gerechter, fairer, attraktiver, unterhaltsamer gestalten würde?“
„Ja, das leuchtet ein. Aber lautete die Überschrift nicht eigentlich ´Handelfmeter´?“
„Wie aufmerksam, ja, richtig, aber ab und an mal rekapitulieren schadet ja nicht und außerdem hängen Foulelfmeter und Handelfmeter eng miteinander zusammen. Also: für Foulspiel gibt es keinen und dementsprechend für Handspiel auch nicht.“
„Also hier bei uns ist die Regel doch ziemlich einfach und es gibt auch kaum je Diskussionen. Wenn man den Ball mit der Hand spielt, gibt es Freistoß. Wenn es im Strafraum ist, gibt es andere Strafen, wobei hier noch ein wenig differenziert wird. Aber das muss ich dir ja nicht erzählen. Nun sag schon, wie war es zu irdischen Fußballzeiten, vermutlich bis heute noch so?“
„Es fing eigentlich ganz harmlos an. Genau wie du schon sagtest: bei Handspiel gab es Freistoß, wenn es im Strafraum geschah, sollte es Elfmeter geben. Erwähnen muss ich nicht ein weiteres Mal, dass in den meisten Fällen der Elfmeter eine erhebliche Vergrößerung der Torchance bedeutete und dass ein einzelnes Tor oftmals spielentscheidenden Charakter hatte und dass man sich insofern irgendwie intuitiv dagegen wehrte, als Schiedsrichter aber auch die weniger reflektierenden und kaum vorhandenen neutralen Zuschauer. Die so genannten ´Fans´ dieser oder jener Mannschaft galten ohnehin als befangen und auf deren Äußerungen ´das war Elfer´ oder ´das war nie und nimmer ein Elfer´ wurde nichts gegeben, selbst wenn sie ab und an, dann aber eher zufällig, recht hatten.“
„Nein, das musst du NICHT erneut erwähnen, hast es aber in diesem Moment getan.“ „Ja, ich weiß, ihr Anwender der unerbittlichen Logik. Ihr müsst nur verstehen, dass ich damals gegen Windmühlenflügel ankämpfen musste und mir den Mund fusselig geredet sowie die Finger wund geschrieben habe, aber nicht so recht erhört wurde. Insofern muss ich das meinen verständigen Kindern wieder und wieder erzählen.“
„Ja, haben wir verstanden“ erklang es fast unisono.
„Es gab irgendwann mal in den Regeln so etwas wie Schutzhand oder auch angeschossene Hand. In diesen Fällen gab es demzufolge auch in viel früherer Zeit schon Diskussionen. Schutzhand wurde aber abgeschafft, obwohl der Ball schon mit großer Geschwindigkeit flog und beinahe ein Reflex verantwortlich sein konnte, aber dennoch galt dies nicht mehr, der sich darauf berufen wollende als ´Weichei´. Nun gut, das kann man so durchgehen lassen, obwohl ich selbst immer einen gewissen Respekt vor den harten Geschossen hatte und zumindest nicht mit dem Kopf hineingegangen bin. Aber die Hände vor den Kopf halten, um eine Verletzung zu vermeiden war auch nicht so viel besser als den Kopf einzuziehen: beides etwas peinlich. Insofern also: Schutzhand abgeschafft, das war schon ok. ´Angeschossen´ wäre natürlich immer irgendwie vertretbar gewesen als Gegenargument, nur war ein solches eigentlich kaum nachzuweisen. Also: ein Spieler, welcher seine Arme irgendwo im Weg hatte und den Ball dort gegen bekam musste sich aus meiner Sicht schon fragen lassen, wenn er auf ´nicht schuldig´ plädieren wollte, ob sie wirklich so zufällig dort waren oder ob er nicht doch etwa einen möglichen Schuss in die Richtung antizipiert hatte und insofern sicherheitshalber Arm und Hand mal draußen gelassen hat?“
„Also hier bei uns ist und bleibt es ganz einfach und so finde ich es auch richtig“, sagte der Jüngste. „Hand ist Hand. Egal, aus welchem Grund die Hand sich dort befindet. Es kann ja auch mal einfach nur Pech sein, dass der Ball gegen geht? Nur ist das kein Problem. Auch andere Situationen sind vom Glück oder Pech abhängig und abgesehen davon gibt es mit der Strafe auch nicht die von dir genannten Probleme. Hier gibt es Tore und fast alle freuen sich daran – außer den im Verhältnis wenigen Anhängern der gerade betroffenen Mannschaft, aber selbst denen macht es nicht viel aus, da es erstens genug Tore gibt, dass man bei einem davon ausgelösten Rückstand keinen Grund zur Verzweiflung hätte aber zweitens auch, da man weiß, dass man umgekehrt genauso von einer derartigen Glückssituation profitieren könnte. Abgesehen davon, dass das Strafmaß hier in allen Fällen ein angemessenes ist, also man nicht etwa von einer solchen Entscheidung benachteiligt wird. Selbst wenn man tatsächlich mal nichts dafür gekonnt hätte, einen Ball mit der Hand zu spielen: es wird dadurch kein Spiel entschieden, es war Pech, das kommt vor und es gibt eine angemessene ´Strafe´, selbst wenn in dem Fall das Wort nicht einmal passt.“
„Das hast du aber schön gesagt. Hier passt es einfach. Auf der Erde hat man aber nie und vielleicht bis heute nicht verstanden.“
„Die Argumente, mit welchen die Abwehrspieler in Schutz genommen wurden, nahmen aberwitzige Formen an. Es gab immer mehr sinnlose Argumente, welche sich völlig planlos aneinander reihten oder gegeneinander austauschen ließen, ohne dass man je hinter den Kern der Sache kam geschweige denn der Gerechtigkeit auch nur den kleinsten Schritt näher und etwa die Diskussionen eingeschränkt und am allerwenigsten die vielen so genannten ´strittigen Situationen´ abgenommen hätten. All dies im Gegenteil: es wurde immer mehr und immer unsinniger diskutiert und der Video Assistent Referee, welcher bald eingeführt wurde, trug nur dazu bei, dass es noch mehr Diskussionen gab, zumal er eben rein gar nichts beweisen konnte, stattdessen aber eine weitere, neue Position, schon während des Spiels einbrachte. Wie sinnlos es war, den Schiedsrichter zu bitten, sich die Szene noch einmal anzuschauen und welch totale Verblendung, damit zu hoffen, die Diskussionen aus der Welt zu schaffen.“
„Nun gib doch endlich mal ein paar Beispiele für Argumente. Die würden uns wirklich interessieren.“
„Also Schutzhand und angeschossen wurden nie mehr genannt und fraglich, warum man sich dieser nicht mehr besann. Vor allem in dem Sinne, dass man doch immer die Frage aufwerfen dürfte: wo kommt das alles her, wie war es ursprünglich und wie war es ursprünglich geplant? Das hätte schon ein klein wenig weiterhelfen können. Aber das nur am Rande. Ein Argument lautete zum Beispiel ´Körperverbreiterung´.“
„Also für mich ist das so, dass der Körper zwangsläufig durch ein Handspiel verbreitert wird, oder?“ „Ja, das ist, rein logisch gesehen, absolut richtig. Das Argument wurde in etwa so verwendet: wenn es KEINE Körperverbreiterung war, dann war es auch kein Handspiel. Entgegen deiner absolut schlüssigen Logik, dass es IMMER eine ist. Einschränkend: das galt nur für Handspiele im Strafraum. Im Feld, vor dem Strafraum, was es weit weniger dramatisch. “
„Hatte ich ja vorhin schon gesagt, wie es hier ist: wenn der Ball gegen den Arm geht, dann kann es schon ab und zu mal unglücklich sein, aber es gibt halt kein Problem damit. Handspiel, was sonst? Abgesehen davon, dass den Abwehrspielern mit dieser Art der Auslegung zugleich anheim gelegt wird: halte mal schön die Arme am Körper, dann wird dir das Glück schon hold bleiben und du keine Nachteile haben. Wenn du sie nicht dort hältst, kann es eben zu Kollisionen kommen und in der Folge zu angemessenen ´Strafen´. Es wird dir ein Nachteil daraus erwachsen, also lass es bleiben. In allen Fällen: halte dich an die Regeln, dann geht alles gut. Wenn du es nicht tust: kann passieren, ist aber nicht zu deinem Vorteil. So einfach.“
„Erneut richtig, ja. Wir sind aber noch lange nicht am Ende: ein Argument lautete: ´unnatürliche Körperhaltung´, welcher man gleich die ´unnatürliche Armhaltung´ und auch die ´unnatürliche Bewegung´ anschließen kann. Wie auch immer es zu den Handspielen kam und wie wenig die Spieler auch dafür gekonnt haben mochten, welche für die strittigen Szenen sorgten: könnt ihr euch eine sinnvolle Fragestellung vorstellen, mit welcher man den Regeloffiziellen die Augen hätte öffnen können?“
„Natürlich weiß ich eine“, meinte der Mittlere. Die Frage könnte lauten: „Haben im Laufe der Zeit die Handspiele zugenommen oder abgenommen, dank der zusätzlichen Regelauslegungsmöglichkeiten?“ Der Älteste fügte eine weitere hinzu: „Gab es mehr oder weniger Diskussionen im Laufe der Entwicklungen des Handspiels, vor allem im Strafraum?“
„Perfekt. Ich merke, ihr seid immer bei der Sache und habt die Kernproblematik erkannt. Aber ich muss den in Interviews oder Fragerunden gehörten insofern ein Kompliment aussprechen: sie haben es tatsächlich irgendwann gemerkt. Es wurden zumindest mehr und längere und kontroversere Diskussionen geführt. Das fiel auf und das ging nach und nach jedem auf die Nerven, so dass nach Einheitlichkeit gefragt wurde.“
„Und, wie hätte diese Einheitlichkeit aussehen können, was für Vorschläge gab es?“
„Das Kuriose war, dass sich mehr und mehr Ex-Spieler zu Wort meldeten, und auch in Diskussionsrunden, zumindest in Deutschland, mehr und mehr zum Schutze der Verteidiger argumentiert wurde. Da hieß es dann immer häufiger: ´Ja, laut Regeln soll das nun ein Elfmeter gewesen sein, aber das ist aus unserer Sicht nie und nimmer einer; da konnte er rein gar nichts dafür.´ Und man lachte sich teils schlapp darüber, was die Regeloffiziellen sich nun wieder für einen Unsinn hätten einfallen lassen, so etwas als Handspiel werten zu wollen?. Also ging es mehr und mehr in die Richtung ´das ist keiner und das ist auch keiner´. Und so wurde auch argumentiert und ausgelegt.“
„Komisch und für uns hier kaum vorstellbar. Aber wir können ja mal wieder ein Spiel von früher zusammen anschauen? Du hast doch sicher ein paar Beispiele parat?“
„Klar, machen wir, in jedem Spiel gab es meist sogar mehrere Beispiele. Aber erst einmal möchte ich die Liste der Argumente vervollständigen, welche der Verhängung eines Elfmeters im Wege stand. Neben dieser Körperverbreiterung oder der unnatürlichen Haltung oder Bewegung, welche oftmals als nicht gegeben gewertet wurde, gab es noch das Argument ´aus der Entfernung kommt er nicht weg mit dem Arm´. Auch dieses Argument war kurzsichtig und dumm, warum?“
„Bei uns kommt diese Frage gar nicht erst auf. Anscheinend hätte er den Arm aber dort hinbekommen. Was interessiert mich nun, ob er ihn auch wieder hätte wegbekommen können? Halte ihn am Körper – und alles ist gut.“
„Auch hier wieder: 100 Punkte. Es war ein unsinniges Argument, was jedoch wiederholt ausgesprochen wurde, bald in fast jeder Situation. Und was war die Folge für die klugen Verteidiger?“
„Da du bereits ´die klugen Verteidiger´ gesagt hast, hast du bereits zum Teil die Antwort gegeben: die klugen Verteidiger wussten auch dies alsbald zu ihrem Vorteil zu nutzen, indem sie eben immer häufiger die Arme in den Weg brachten, da sie wussten, dass ihnen hinterher, nach der Nicht-verhängung des Elfmeters, von den Sprechern und anderen Experten nachgewiesen würde, dass sie ihn von dort und aus der Entfernung nie und nimmer die Hand oder die Arme hätten wegbekommen können.“
„Genau. Die weitere Folge: Verteidigerarme folgen nach Herzenslust durch den Strafraum. Wenn der Ball dagegen flog war er oder der Stürmer, der nicht daran vorbei gezielt hatte, schuld. Aber niemals, niemals der Verteidiger. Diskussionen zwar ohne Ende, aber immer mit dem gleichen Ergebnis: kein Strafstoß, konnte er nichts dafür als abschließende Konsequenz. Und wenn es doch mal einen gab, dann wurde die Ungleichbehandlung als ultimatives Gegenargument beigebracht. ´da hat er doch auch nicht, also darf er hier auch nicht´. Hier kein Elfer, dort keiner. Im Grunde war es bald so, dass man als Angriffspartei quasi nicht mehr gegen einen einzigen Fußball Torhüter spielte, sondern eher gegen insgesamt elf Handballtorhüter, da praktisch alle Spieler mit den Händen herumhampelten wie Handballtorhüter. Konnte ihnen nichts passieren, wenn der Stürmer oder der Ball so dumm war, nicht an den vielen Armen vorbeizukommen?“
Die Kinder konnten es zwar nicht fassen, aber waren dennoch irgendwie fasziniert von diesen Geschichten. Es war so etwa wie Gruselgeschichten lesen. Man jagt sich selbst Angst ein, ohne jegliche äußere Veranlassung, um im Anschluss die tatsächliche Geborgenheit noch mehr genießen zu können.
Aber Papa war noch immer nicht fertig. „Nun habt ihr sicher die Gemeinsamkeit zwischen Foulelfmeter und Handelftmeter erkannt?“ „Ja, in beiden Fällen gab es sie nicht und immer ging es gegen die Angreifer und gegen die Tore und nie merkte jemand etwas.“
„Richtig. Eher gab es ein Horrorszenario, welches immer mal wieder drohend und ultimativ an die Wand gemalt wurde, jedoch der tatsächliche Horror daran nie überprüft. Dieses Szenario wurde mit den folgenden Worten eingeleitet – und jedem Zuhörer blieb die Satzvollendung und das mögliche Grauen vorbehalten: ´wenn man dafür Elfmeter gibt, dann gäbe es zehn oder zwanzig Elfmeter pro Spiel´.“
Die Kinder mussten auch dieses Szenario erst einmal durchspielen und sich die grauenhaften Folgen ausmalen. Die Konklusion des Mittleren brach das Schweigen: „Ja, und? Wo ist da das Problem? Wenn es laut Regel Elfmeter geben müsste, dann gibt es halt einen. Worin besteht eigentlich das ansonsten damit angesprochene oder zumindest angedeutete weitere Problem der Folge von vielen Elfmetern und daraus vielen Toren? Fürchtete man die Leute dann in Panik aus den Stadien rennen ´um Himmels Willen, ein 6:4, und kein Ende in Sicht; das hat doch nichts mit Fußball zu tun!´ oder wie erahnte man da ein resultierendes Grauen?“
„Fakt ist, dass dieser Satz, einmal ausgesprochen, bereits als Totschlagargument ausreichte. Berti Vogts, einst Nationalspieler UND später Bundestrainer, hatte diesen Gedanken meines Wissens als Erster in die Welt gesetzt und damit etliche Gefolgsleute erreicht. ´ja, da hat er Recht. Nicht auszumalen, wenn es ständig Elfmeter gäbe´, so sagte man, ´zwanzig Elfer pro Spiel gäbe es´ und anschließend lachte man über diese Aussage und der Gesprächspartner – meist der Interviewende – schloss sich dem Gelächter an, so nach dem Motto ´nein, das ginge ja nun wirklich nicht, dass muss jeder verstehen´. Ausgesprochen, gedacht ´nein, hähä, das geht ja nun wirklich nicht´ und fertig. Nur immer wieder angewandt und somit als Metapher herhaltend, warum man auch für dieses Foul- oder Handspiel keinen Elfer geben könne.“
„Albern, lächerlich, sinnlos, kurzsichtig und genau genommen dumm.“ „Ja, leider, aber so war es nun mal.“
Dennoch war die Runde noch immer nicht beendet. Die Kinder drängelten allerdings ein wenig, denn sie wollten ja noch einmal rausgehen und eine Runde kicken in ihrer heilen Welt, das entwickelte sich fast zum Ritual. „Nein, hiergeblieben“, meinte der gar kein bisschen gestrenge Vater. Dennoch blieben die Kinder, denn sie wussten: das wahre Grauen auf Erden war nicht etwa das gezeichnete Horrorszenario sondern vermutlich eher ein Fazit des Vaters.
“Zunächst einmal hatten wir nun die Schmerzen der Stürmer angesprochen, welche sie permanent erdulden mussten, auf die Foulspiele angewandt. Wie war denn beim Handspiel die ´Umkehrfunktion`?“
Schweigen. Das konnte doch nun wirklich nicht sein? Der Vater nahm dennoch seinen Kindern die Worte aus dem Mund: „Wenn ein Stürmer den Ball mit der Brust stoppte, aber der Oberarm auch nur den geringsten Part dabei spielte, wie lautete die Entscheidung in dem Fall?“ „Nein, das kann nicht sein. Handspiel?“
„Richtig. Und wie viele Diskussionen, Wiederholungen, Zeitlupen, Vergleiche mit von Verteidigern verübten, nicht geahndeten Handspielen gab es?“
„Hmm, vermutlich gar keine?“ „So war es. Der Pfiff ertönte, das Spiel ging mit Freistoß für die Verteidiger weiter, kein Hahn krähte. Nur lief der Stürmer, eine weitere Ungerechtigkeit erspürend aber nicht äußern dürfend, Kopf schüttelnd davon. ´Warum soll das denn nun Handspiel gewesen sein?` Aber keiner, der für ihn Partei ergriff. Die an ihn gerichtete Gegenfrage hätte, in allen Fällen, in etwa so lauten müssen: ´Was willst du denn hier vorne? Etwa ein Tor erzielen? So was gibt es hier nicht! Dampf ab!` Und einzig dies wäre zwar die richtige Auslegung der Situation – von Anfang bis Ende und auf alles angewandt – gewesen, nur ist darauf halt keiner gekommen. Tore schießen war nicht. Ein Spiel steht immer 0:0 und wenn doch mal ein Tor fällt, dann kennen wir den Sieger.“
„Unheimlich, erbärmlich. Aber jetzt müssen wir wirklich los, ein paar schöne Tore machen.“
„Nein, die letzte Frage noch: hatte Berti Vogts eigentlich recht mit seinem gezeichneten Horrorszenario? Was glaubt ihr?“
„Nun sag schon, Papa, wir müssen echt raus.“
„Die einfache Folge, wenn man die Regeln angewandt hätte, wäre die gewesen: jeder weiß, was man im Strafraum darf und was man nicht darf. Also weder Foulspiel noch Handspiel ist erlaubt. Wenn man sich daran hält, ist alles gut. Wenn man dagegen verstößt gibt es Elfer. Also spielt man weder Foul noch nimmt man die Hand zu Hilfe. Das Grauen verändert sein Gesicht: auf einmal gibt es Torchance und Tore. Oh weh! Weglaufen würde auch keiner sondern viele, viele mehr dazu kommen.“
„Was erzählst du uns denn da? Das ist doch einfach nur so, wie es hier ist?“