Wanja spricht mit seinen Kindern, heute über…
die Medien
Wanja saß mal wieder mit seinen Kindern zusammen, nach dem Abendessen. Sie waren ausreichend erschöpft heute, da sie den ganzen Nachmittag auf dem Fußballplatz verbracht hatten. Also hatte er zwar nicht zwingend ihre Aufmerksamkeit sicher, aber ebenso hatten sie heute auch keine „Hummeln im Hintern“, welche einen frühzeitigen Abbruch des Gesprächs befürchten ließen. Wanja eröffnete die Runde mit der Nachfrage: „Welchem Umstand haben wir diesen unseren schönen Planeten und dessen Gründung zu verdankten? Worauf geht das zurück?“
„Na, dass du mit dem Fußball auf der Welt nicht zufrieden warst!“ erhielt er die Antwort, wie aus einem Munde. „Ja, das ist schon richtig. Und was hat mich konkret gestört, was war faul am Fußball, was klappte nicht, warum musste man sich nur ärgern, was fehlte?“
„Wir haben doch fast täglich Gespräche darüber. Es waren nicht unbedingt die Regeln selbst, es war ihre Auslegung. Wobei du durchaus auch ein paar Verbesserungsideen hattest – wie man hier bezeugen kann, da sie umgesetzt sind und es gut funktioniert.“
„Auch alles richtig, na klar. Es waren die Regeln. Aber es gab noch einen weiteren gewaltigen Teil, welcher zum Himmel stank. Wisst ihr es?“
„Also du hast oftmals was von Erwartungsdruck erzählt, von Trainerentlassungen, von Interviews, die dir gegen den Strich gingen.“
„Das stimmt. Ja. Es gibt eine Überschrift dafür. Es waren die Regeln und es waren….“ „… die Medien, Jetzt weiß ich“, ergänzte der Mittlere.
„Genau. Und heute möchte ich einmal ausführlich über das Problem mit den Medien sprechen. Ihr dürft nie vergessen, dass die Dinge immer miteinander zusammenhängen. Es gab Regeln, die nicht gut angewandt wurden, es gab wenige Tore, es gab eine Aufmerksamkeit für Fehlentscheidungen, die ebenfalls in der Wirkung gegen die Tore gerichtet waren, es gab Änderungen, welche nicht fruchteten, weil man das Problem nicht erkannte. Und es gab die Medien. Welche Rolle käme denen zu?“
„Also“, begann der Älteste zu philosophieren, „Hauptaufgabe der Medien müsste es zunächst sein, Meldungen zu präsentieren, welche a) der Wahrheit entsprechen, b) interessant sind und c) diese dem Zuschauer so zu vermitteln, dass er Spaß daran hat, dass er es wissen will, dass er wieder einschaltet, dass er mitdenkt, dass er sich nachher bereichert fühlt. Essentiell ist aber, dass er bei der Sache bleibt, also sich gut unterhalten fühlt.“
„Gut auf den Punkt gebracht. Klasse, das gefällt mir. Sicher habt ihr in der Schule mal darüber gesprochen?“
„Ja, natürlich. Die Rolle der Medien. Wir haben selbst Berichte verfasst, bei denen es wichtig war, dass es spannend ist, eine Meldung, welche die Menschen interessiert, dazu müssen die Fakten stimmen und die Nachricht gut aufbereitet sein.“
„Ok, das hört man. Beim Sport ist es dennoch etwas speziell, noch spezieller ist der Fußball selbst. Was hat dem Fußball seine Sonderrolle verschafft?“
„Vermutlich, dass es die größte Sportart war?“
„Stimmt so ziemlich genau. Wobei, wie ich euch wohl schon einmal sagte, dass der US-Sport herauszuheben war, dass er sehr speziell war, dass dort alles ziemlich gut gemacht war, dass er sich so entwickelte, immer im Einklang mit dem Zuschauer, den man als Geldgeber ausgemacht hatte und wessen Bedürfnisse und Anliegen berücksichtigt wurden und vor allem diesem: der Fußball wurde in den USA nie wirklich groß. Denn hier hatte die Restwelt ihren bedauerlich großen Einfluss und diese sorgte dafür, dass die Zuschauer diese Sportart in den USA NICHT annahmen, eben weil alles so unschlüssig und kurzsichtig angelegt war. Also es stimmt, der Fußball war die größte Sportart in der Welt ohne die USA. Das brachte ihm eine Sonderrolle ein.“
„Was hat denn diese Sonderrolle nun bewirkt, welche Folgen hatte das?“ wollte der Jüngste wissen, damit natürlich die logische Frage aufwerfend, welche jeder andere auch hätte stellen können.
„Es hat eine durchgehend falsche Herangehensweise ausgelöst. Drei direkte Auswirkungen waren diese: a) der Fußball ist so groß, dass wir uns um ihn nicht sorgen müssen. b) der Fußball ist so groß, dass ihn eh jeder schaut. c) der Fußball ist so groß, da dürfen wir nichts ändern. Wenn wir es täten, wäre er vielleicht nicht mehr so groß? Ist das erst einmal logisch und verständlich?“
„Ja, auf eine Art schon. Wobei mich wundert, dass man nicht zu merken schien, dass es eigentlich keinen Spaß gemacht hat, oder?“
„Ja, das fand ich auch. Wir können direkt ein Beispiel nehmen, was mir immer wieder einfiel, wenn ich beispielsweise am Samstagnachmittag die Zweitligakonferenz schaute. Dabei spielen die Medien, die Berichterstatter, bereits eine zentrale Rolle.
Es war so, dass man wirklich Samstag für Samstag, auch von den gleichen Sprechern, immer wieder gleichlautende Kommentare hörte. Diese gingen etwa so: ´das Spiel hier ist nicht gut´ oder ´das Spiel hier ist langweilig, die Torszenen fehlen´. Jedes Mal, wenn ich das hörte, fragte ich mich nur, ob sie denn Amnesie hätten oder ob sie glaubten, dass dem Zuschauer das besonders viel Spaß machte, wenn er alle paar Minuten erführe, dass hier so rein gar nichts los wäre, aber auf dem anderen Spielplatz genauso wenig? Oftmals überboten sie sich dabei. Also der eine gab weiter an den anderen, indem er sagte ´sicher ist es bei dir in Darmstadt spannender, Günter?´, worauf derjenige konterte ´nein, hier ist es sogar noch langweiliger, Bei dir ist ja wenigstens schon ein Tor gefallen.´ oder irgendsowas. Die Frage, welche man sich als Zuschauer stellen musste, lautete also, ob sie nicht merken würden, dass es heute zwar langweilig zu sein scheint, dass der gleiche Sprecher aber letzte Woche genau die gleichen Sätze schon gesagt hatte? Hat er es vergessen oder hofft er, dass der Zuschauer es vergessen hat? Falls es der Zuschauer aber vergessen hat: glaubt er nun, dass der Zuschauer auch heute wieder Nägel kauend vor dem Fernseher sitzt und erneut begeistert ist von dem Spiel und der Reportage? Falls er, der Sprecher, einsehen würde, dass dieses Spiel genauso verläuft, wie es praktisch jedes andere Spiel in dieser Liga, vielleicht sogar jedes andere Spiel überhaupt, tut, dass es nämlich wenige Torszenen gibt, dass es meist eng steht, überragend oft 0:0, dass aber, wenn doch mal ein Tor fällt, die Dramatik keineswegs ansteigt sondern stattdessen die Sehnsucht nach dem Schlusspfiff einsetzt? Es lag nicht an DIESEM SPEZIELLEN SPIEL sondern es lag AM SPIEL FUßBALL, welches in dieser Form einfach nicht mehr unterhaltsam, nicht spannend, nicht schön, nicht dramatisch war.“
„Ja, wir haben schon ab und zu mal ein Spiel geschaut, ein paar Szenen, die du uns vorgespielt hast. Da war es wirklich meist so, dass man gegen das Zufallen der Augen ankämpfen musste. Zum Teil wegen eines Mangels an Spannung im Spiel, zum Teil wegen eines einschläfernden Kommentators. Und was hätten sie nach deiner Meinung dagegen tun können oder tun sollen?“
„Das ist eine gute Frage und kling so, als ob ich sie selbst gestellt hätte. Es war, wie ich euch schon einmal sagte, ein wenig wie des Kaisers neue Kleider. Der Kaiser hatte gar nichts an aber alle staunten, wie schön seine Kleider waren. Keiner traute sich, der erkannte, dass er nichts an hatte – und es erkannte jeder Einzelne –, nicht einmal seinem Nachbarn zuzuraunen ´fällt dir auch auf, dass er gar nichts an hat?`, weil er doch am Ende fürchtete, der einzig Geisteskranke zu sein, welcher seinen eigenen Augen nicht mehr trauen durfte, welcher Dinge sah, die gar nicht da waren. Also staunten alle im Verein, obwohl jeder Einzelne sah, was seine Augen ihm mitteilten: es ist nichts zum Staunen da.
Genau so war der Fußball: jeder, der schaute, merkte es, dass es eigentlich gar keinen Spaß mehr machte. Aber er traute sich nicht, etwas zu sagen weil er fürchtete, der Einzige zu sein, dem das auffiel.“
Der Jüngste hatte einen berechtigten Einwand: „Das ist unlogisch, was du da sagst. Denn die Sprecher haben es ja anscheinend gemerkt und es sogar laut ausgesprochen, für jedermann zugänglich zu machen. Sie sagten Woche für Woche ´das Spiel ist langweilig´, das hast du selbst gesagt. Du irrst dich also. Und ich bin dahintergekommen! Ätsch!“
Selbst wenn der Vater rundherum Bewunderung für seine Kinder aufbrachte und auch hier seinem Sohn eigentlich nur recht geben konnte, war es offensichtlich, dass er das Problem noch nicht vollständig dargestellt hatte. Es war etwas komplizierter. Er hatte seine so oder so aufmerksamen Zuhörer jedoch erkennbar noch nicht verloren. Das war zugleich ein gutes Zeichen.
„Du bist ein kluger Junge. Da bist du mir tatsächlich auf die Schliche gekommen.“
„Siehst du? Nun musst du entweder deine Ansichten revidieren oder es besser oder auch nur anders erklären – dir selbst und uns.“
„Ok. Ich entscheide mich für die zweite Variante: es besser zu erklären. Man muss dazu etwas weiter ausholen. Wobei es auch möglich ist, dass die erste Erklärung bereits ausreicht. Diese bezieht sich nämlich auf die Anzahl der Zuschauer, welche einer solchen Konferenz folgten. Ihr dürft mit raten, wie viele das waren?“
„Ja, das ist eine spannende Frage. Wenn du sagst, dass die Sprecher es nicht verhehlen konnten oder wollten, dass sie sich selbst gelangweilt haben, wie soll sich dann der Zuschauer gefühlt haben?“
„Richtig. Das hat mich nämlich auf die richtige Spur geführt. Diese Sprecher, welche sich an langer Weile überboten haben, hatten absolute Narrenfreiheit.“
„Wie meinst du das denn?“
„Ganz einfach: sie konnten erzählen, was sie wollten. Der einzig mögliche Grund dafür, dass sie auf diese Art keinen einzigen Zuschauer vergrault haben war nämlich welcher?“
„Ich habs“, meldete sich der Mittlere, „sie konnten nie einen einzigen verlieren, weil sie keinen einzigen hatten!“
Diese Schocknachricht mussten alle erst einmal überdenken und anschließend verdauen. Aber tatsächlich schien da etwas dran zu sein. Von der Logik her auf jeden Fall.
Wanja nahm nach einiger Zeit den Faden wieder auf, um ihn weiter zu spinnen.
„Ich habe das tatsächlich zu Ende gedacht. Die Reportagen waren so schlecht, dass man dafür so oder so keine Zuhörer erwarten konnte. Selbst wenn der Fußball weiterhin so war, wie er nun mal war: Zweitligafußball. Alle Teams auf Augenhöhe, durch die vielen Trikotwechsel – von der Marketingabteilung vorgegeben, um hier ein wenig am Umsatz schrauben zu können, durch Verkäufe dieser Trikots an Fans – auch äußerlich bald nicht mehr zu unterscheiden, geschweige denn anhand eines ´Spielstils´, durch alljährlich um die fünfzehn Trainerwechsel bei achtzehn Vereinen, welche sich die Klinke in die Hand gaben, allerdings praktisch immer im Kreislauf die gleichen Gesichter und Namen, ebenso saßen die Spieler im Karussell und sprangen mal hier, mal dort ab, zugleich waren alle Trainer und Teams geprägt vom Ergebnisdenken, welches einem aufzwang, alles tun zu dürfen, nur eben kein Gegentor kassieren, mit der Hauptbetonung auf Zweikämpfen und allgemein, auf Kämpfen gegenüber Spielen, aber so war er halt. Woche für Woche, Spiel für Spiel.
Falls man dieses Produkt dennoch an den Mann zu bringen gedachte, so hätte man dies entweder über eine spannende Berichterstattung wenigstens versuchen müssen, oder aber auf den Plan bringen müssen, dass der Fußball so keinen Spaß macht und dass man daran dringend etwas ändern müsste. Falls man weder dies noch jenes tut bekommt man die Quittung dafür, indem niemand den Ladenhüter haben möchte beziehungsweise zunächst einmal keiner mehr zuschaut, geschweige denn zuhört.“
Auch diese Worte mussten erst einmal verarbeitet werden. Der Fußball war ein faules Ei, stellte man fest, und dachte drüber nach. Denn irgendwie war er doch noch immer eine Art Dinosaurier Ei? Er existierte weiter und auch die Umsatz-und Zuschauerzahlen gingen nicht wirklich in den Keller?
„Nun, zunächst einmal beziehe ich diese Beobachtung auf die Zweitligaspiele. Nur ist dies schon ein recht gewaltiges Indiz. Es fiel auch irgendwann auf, dass sie ein paar Highlight Spiele dann immer wochenlang ankündigten. Dies warf bei mir die Frage auf, ob man auch hier nicht irgendwann merkte, dass es so nicht funktionieren kann, wenn man ein Jahresabo verkaufen möchte, am liebsten an Jedermann, aber bereits selbst darauf aufmerksam macht, dass es sich nur für DIESES EINE EINZIGE SPIEL lohnen sollte. Denn: wenn ein einzelnes Spiel wochenlang im Vorlauf angekündigt wird, während in der Zwischenzeit vierzig andere Spiele in der Liga stattfinden: was erwartet man, was der erhoffte Abonnent von diesen vierzig anderen Spielen halten soll? Langeweile pur? Nein, das Konzept war nicht gesund und rundherum eine Fehlplanung.
Aber noch einmal zurück zu den Zuhörern und Zuschauern einer Zweitligakonferenz: Eine einzige Person hätte zuhören müssen – und selbst die tat es nicht. Wisst ihr, wer?“
„Nein, Moment, ich denke nach. Wen meinst du denn? Ich komme nicht drauf.“ Allgemeines Kopfschütteln im Raum.
„Er hätte eigentlich nur ein einziges Mal zuschauen und vor allem zuhören müssen – und dann alle Kommentatoren feuern müssen. Jetzt wisst ihr aber, wen ich meine?“
„Ja, na klar, den Programmchef. Den zuständigen Mann für die Übertragung, für die Einteilung der Kommentatoren.“
„Aber ihr habt sicher jetzt auch verstanden: selbst dieser hat es nicht getan. Das stellt man einfach nach einer Weile fest. Wenn er es geschaut hätte, ohne dabei einzuschlafen, hätte er es einfach merken müssen, dass fast jeder einzelne Kommentar, den man hört, nur eine einzige Richtung konsequent verfolgt: wie kann ich den Zuhörer davon überzeugen, hier bloß nicht auf dem Kanal zu bleiben? Wie werde ich sie allesamt los? Wie ein Insektenmittel oder so etwas, was seine Aufgabe dann optimal gelöst hat, wenn alle Schädlinge entfernt sind. Kurios nur, dass die Aufgabe des Kommentators eigentlich genau umgekehrt hätte sein müssen.“
Auch hier war eine Sprechpause angebracht.
„Wisst ihr, ich habe immer Gesprächspartner gesucht, welche dies mit hätten beurteilen können. Das Problem war dies: es gab keine, es fanden sich keine. Dies erhärtete den anfänglichen Verdacht immer mehr: es schaut wirklich keiner und das ist keine Polemik von mir.“
„Das wäre zwar so weit einleuchtend, aber noch immer würde es grundsätzlich nicht erklären, warum die Kommentatoren so kommentiert haben wie sie es taten. Ich meine: erstens sind sie doch Journalisten geworden, sicher, weil sie die gute Absicht hatten, einem potenziellen Zuschauer die ganz große Story zu verkaufen, diese Story gefunden zu haben, sie so aufzubereiten, dass jeder sie gerne hören und sehen möchte, aber zweitens müssten sie doch auch selbst gemerkt haben, dass sie bei so viel Langeweile, wie sie verbreiten, selbst einschlafen? Warum also haben sie so angefangen und dies so beibehalten?“
„Genau. Ein wichtiger Punkt und gut beobachtet. Man muss hier ebenfalls ein Stück weiter zurückgehen und ebenfalls die Psychologie herbei bemühen. Der eine Teil der Ursache ist in der Geschichte des deutschen Fußballs zu finden. Denn zunächst einmal muss man allgemein festhalten, dass dieses Problem ein rein deutsches Problem war.“
„Du meinst also, wir wären gar nicht hier, wenn du nicht in Deutschland geboren und aufgewachsen wärst? Woanders war die Berichterstattung besser oder sogar gut?“
„Nun, es gab ja noch immer das Problem mit den Regeln. Ich habe auch hier sehr aufmerksam verfolgt, wie das Ausland reagierte und kommentierte. Zum Beispiel zum Videobeweis oder den Elfmetern. Aber dazu an anderer Stelle mehr. Bezüglich der Berichterstattung hatte Deutschland einen Sonderstatus, welchen man zunächst verstehen muss.“
„Ok, dann erkläre bitte, wir hören dir zu.“
„Historisch also gab es zwei verlorene Kriege und bald danach einen Weltmeistertitel. Dieser Titel wurde weitaus überinterpretiert und war glücklich, kam den Deutschen aber gerade recht, um ihr arg ramponiertes internationales Renommee aufzupolieren, leitete aber somit auch die von mir beobachtete und kritisierte Berichterstattung mit ein. Denn fortan war man wieder wer und musste dies bei jeder Gelegenheit raushängen lassen.“
„Aber sag doch bitte, wie wurde denn das Finale damals, 1954, wie wurde das kommentiert?“
„Das war eine begeisternde Reportage, keine Frage. Der Mann – Herbert Zimmermann, eine Legende – hat sein ganzes Herz hineingelegt. Er hat so inständig gebetet und gefleht und mitgefiebert, bei jeder einzelnen Aktion, genau so, wie man bis heute die Leute begeistern und mitreißen könnte, aber es war eben spürbar, dass Deutschland nicht nur ein Wunder schon bis dahin geschafft hatte, sondern auch, dass sie in diesem Spiel die klar unterlegene Mannschaft waren, was vorab aber auch niemand angezweifelt hatte. Ungarn war die beste Mannschaft der Welt, wenig Zweifel, besser als Deutschland waren sie allemal. Insofern hatte Zimmermann aus der Position des Außenseiters kommentieren können, was dann seine Anteilnahme und Begeisterung noch besser erklärt. Ihr könnte gerne mit mir reinhören?“
Tatsächlich fanden die Kinder es spannend und Wanja spielte ihnen Teile der Reportage vor. Eines wurde dabei jedem klar: hier war wahre Begeisterung zu spüren, dieser Sprecher schämte sich nicht, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, dieser Mann fühlte mit und man fühlte mit ihm. Er sprach zwar ständig, aber wenn die Zeit reif war, hielt er die Luft an, weil er nicht sprechen konnte, weil die Situation es erforderte, weil man von der Spielszene gezwungen wurde, es zu tun, nur platzte es danach aus ihm heraus: „Toni, du bist ein Teufelskerl“, weil der Torwart eine weitere Großchance vereitelt hatte. In der Stimme schwang jederzeit etwas mit, was einen Großes vermuten ließ, sie klang bedeutungsschwanger und wer anfing, reinzuhören konnte nicht mehr aufhören. So waren die Zuschauer zu gewinnen, so war das Spiel zu schauen, so machte es Spaß. Wanja bekam selbst Gänsehaut, als er das mal wieder hörte, aber auch, weil er spürte, dass seine Kinder seine Begeisterung teilten.
„Du sagst aber nun mehr oder weniger, dass dieser Weltmeistertitel dem Fußball oder der Berichterstattung gar nicht wirklich gutgetan hat? Also an dieser Reportage könnte sich jeder ein Vorbild nehmen und, ehrlich gesagt, spüre ich fast das Verlangen, Sportreporter zu werden und auf diese Art den Fußball weiter zu verbreiten.“ meinte der Älteste. Ja, das konnte man irgendwie gut verstehen.
„Nun, in dem Moment wurde der Titel als Glücksfall betrachtet und Sepp Herberger, der Trainer, zum Helden und mit ihm alle seine Spieler. Nur vergaß man allmählich die glücklichen Umstände daran. Das lag eben auch an dem angekratzten Selbstvertrauen der Deutschen, welche ein schlechtes Gewissen hatten, aufgrund ihrer eigenen Geschichte der angezettelten und verlorenen Kriege. So nahm man dies als Anlass, das Selbstwertgefühlt aufzupolieren. „Wir sind Weltmeister im Fußball“, selbst wenn sonst am Boden, wirtschaftlich und moralisch und im Ansehen erst recht.“
Ja, die Kinder konnten folgen.
„Es folgten weitere internationale Erfolge. Beinahe war es so, dass ganz Deutschland sein gesamtes Empfinden nur auf seine Erfolge im Fußball aufbaute. 1966 eine unglückliche Finalniederlage gegen Ausrichter England, aber Finale und gefühlt erneut Weltmeister? 1970 das Spiel des Jahrhunderts im Halbfinale gegen Italien unglücklich verloren, am Ende Platz 3 und fast erneut so etwas wie ´Weltmeister der Herzen´, zumindest im eigenen Land. 1982 Finale, 1986 Finale, beide zwar verloren, aber wo waren denn die anderen alle, die so viel auf sich hielten, wie man in Deutschland meinte? 1990 erneut der Titel. Und so weiter. Im Ausland wusste man nur, dass es praktisch egal war, wie ein Spiel verlief, am Ende gewann immer Deutschland. Sie waren nicht besser, aber sie gewannen. All dies ist den Menschen hier mehr und mehr zu Kopfe gestiegen. Wenn man zu oft Glück hat, vernebelt das einem den Blick. Man wird vom Glück umgerannt, kann es aber einfach nicht mehr als Glück wahrnehmen. Aber selbst wenn es kein Glück gewesen wäre: die Folgen wären vermutlich die gleichen gewesen.“
„Was waren nun die weiteren Folgen? Wie hat sich das auf die Art des Kommentierens ausgewirkt?“ wollte der Mittlere wissen, wobei die anderen auch nicht anders gefragt hätten.
„Nun, zunächst einmal ist das Selbstvertrauen wiederhergestellt, zumindest in dem Bereich Fußball. Da ist ein deutschsprachiger Kommentator, aus dem Land des Weltmeisters. Glaubt ihr nun, er identifiziert sich nicht mit seinem Land und ist nicht ebenfalls ein bisschen Weltmeister?“
„Nein“, so war man sich einig, „er fühlt sich als Weltmeister, obwohl er keinen Beitrag geleistet hat, aber so sind die Menschen.“
„Ja, so ist es. Er fühlt sich als Weltmeister und wenn jemand Weltmeister ist, dann weiß er die Dinge nun mal ein klein bisschen besser als jemand, der nur Zweiter ist, geschweige denn gar nicht die Qualifikation geschafft hat oder in der Gruppenphase ausgeschieden ist oder im Viertel- oder Halbfinale. So sind sie halt, diese Weltmeister. Nach einer Weile ist es aber längst nicht mehr so, dass sie die Dinge nur ein bisschen besser wissen, sondern sie wissen IMMER und ALLES besser. Und vor allem meinen sie, dass sie gut von schlecht unterscheiden können.“
„Ja, das macht so weit Sinn. Aber warum diese Langeweile, die sie verbreitet haben, viel später? Das ist noch nicht erklärt.“
„Nein, die Geschichte ist auch noch nicht zu Ende. Das eine sich ergebende Problem ist dieses: wenn man viel zu oft gewinnt und dazu jeweils gewisse Anteile von Glück in Anspruch nehmen muss – auch der Bessere benötigt das Quäntchen, wie wir schon woanders besprochen haben, um von seinen beispielsweise 70% auf 100% zu kommen –, ist nicht nur der Blick dafür verklärt, man meint rein intuitiv, dass im Grunde jeder Sieg berechtigt ist. Das ist ein kleiner Kunstgriff unseres menschlichen Gehirns – sofern man es sich nicht bewusst macht. Man hat das Glück gehabt, spürt dies aber nur intuitiv, nimmt es so hin, erklärt es sich eben keineswegs als Glück. Fortan ist man immer mehr dazu gezwungen, auch tatsächlich und erkennbare Glücksereignisse logisch erklären zu wollen. Wenn man dies nämlich nicht täte, sondern stattdessen dieses erkennbare Glück als Glück stehen ließe und als solches beschriebe, dann hätte man für seine eigenen Erfolge dies als Erklärung ebenfalls zugelassen – und möglicherweise würde ein anderer, ein ausländischer Kommentator, davon Gebrauch machen. ´Siehst du, du hast ja selbst gesagt, dass dieser Sieg hier glücklich war. Genau so erklären wir dir nun deinen Sieg damals im Halbfinale als Glück.´ „
Auch hier musste man einfach eine Denkpause gewähren. Wenn man Glück als Erklärung zulässt, könnte dies gegen einen selbst verwendet werden. Ein bisschen wie vor Gericht. „Sie können aussagen oder die Aussage verweigern. Sollten Sie aber etwas sagen, dann kann dies vor Gericht gegen sie verwendet werden.“ Also beißt sich jeder deutsche Sportreporter auf die Zunge, bevor er ein Ergebnis mit ´Glück´ erklärt. Das macht Sinn.
„Die beiden Erscheinungen passen perfekt zusammen. Einerseits weiß man, als Mensch aus dem Land des Weltmeisters, sozusagen Alles, aber zugleich gibt es auch kein Glück. Somit beginnt man, jedes beliebige Ergebnis als ´verdient´ zu erklären. Weil man davon profitiert und die eigenen Siege somit allesamt verdient waren, selbst wenn viel zu viele und noch immer im Grunde glücklich, aber das wird ausgeblendet mit diesem Kunstgriff, aber zugleich, weil man so klug ist und so sehr Weltmeister, dass man eben noch ein wenig tiefer blickt als derjenige, welcher sich auf die reine Zufälligkeit des Ausgangs beruft oder sogar, im Extremfalle, dem Sieger nachher nur bescheinigt: ´Da habt ihr aber jede Menge Glück gehabt. Der Gegner war die bessere Mannschaft.´
Nein, so etwas würde ein deutscher Kommentator als Unwahrheit entlarven. Er könnte die Niederlage besser erklären, er könnte tiefer blicken, würde Elemente aufdecken, welche dem Mann aus dem Land des ausgeschiedenen Gruppenphasenmitglieds entgangen sind. Er kennt den Fußball besser, er versteht ihn besser, er findet die Gründe, welche auch diesen Sieg letztendlich erklären können. Wer einen Sieg oder den Ausgang eines Ereignisses mit Glück erklärt, ist so oder so ein hoffnungsloser Laie.“
So allmählich wurde die Geschichte rund und die Kinder konnten kaum noch etwas einwenden. Es passte alles zusammen.
Den bleibenden Eindruck des Abends hat Herbert Zimmermann gemacht mit seiner Reportage. Das hat alle begeistert und mitgerissen, alle fühlte sich motiviert, es ihm gleich zu tun und vielleicht war tatsächlich eines der Kinder auf dem Weg zum Sportreporter? Der Grundstein war gelegt.