Wanja spricht mit seinen Kindern, heute über…
Die Dreipunkteregel
„Es gab vielleicht doch ab und an Menschen auf der Erde, die was gemerkt zu haben schienen“, eröffnete Wanja die heutige Runde. „Du meinst, dass irgendwas faul war an den Regeln?“ fragte einer der Jungen. „Nein, na ja, diesmal meinte ich eher, dass es vielen zu fad war, dass es ruhig etwas mehr Tore, mehr Action, mehr Spannung sein dürfte. Obwohl das prinzipiell wenig zu interessieren schien. Argumente wie ´war doch schon immer so´ und ´der Fußball ist so riesengroß, da sollte, eigentlich darf man gar nichts ändern, sonst schrumpft er vielleicht?´ hatten, wenn auch nicht unbedingt so ausgesprochen, der Gedanke war nur in den Köpfen, aber doch hatten diese Vorfahrt. Vielleicht zusammengefasst der Urgedanke: ´der Fußball ist nur so groß, weil wir ihn immer so gelassen haben.´ Es gab keine Veranlassung, irgendetwas Grundlegendes zu ändern.“
„Das ist doch aber auch nachvollziehbar?“ wandte eines der Kinder ein.
„Hmm, ja, auf eine Art schon. Aber trotzdem hätte doch irgendwann auffallen können, dass man zumindest die Diskussionen bei wichtigen Entscheidungen nicht eindämmen konnte, auch nicht mit dem angeblich so zuverlässigen und endlich für Gerechtigkeit sorgenden Video Assistenten. Es gab also doch Anzeichen, dass es sich lohnen könnte, etwas genauer hinzuschauen, woher die Probleme rührten. Wir könnten zuvor aber noch einmal die Kernproblematik zusammenfassen?“
„Also“, ergriff heute mal wieder der Älteste das Wort, „Abseits und Elfmeter waren die kritischen Entscheidungen. Hieraus konnten sich am ehesten Tore entwickeln. Bei zahlreichen Angriffen in der gefährlichen Zone in Tornähe – sprich: dem Strafraum – gab es ständig Situationen, in welchen eine der beiden Entscheidungen zumindest zur Diskussion stand: war ein Stürmer nicht doch die Fußbreite näher am Tor als zwei Verteidiger, war das kurze Zerren, Ziehen, Halten, Sperren, Zupfen, Schieben, was ständig vorkam, ausreichend für einen Strafstoß?“
„Auf den Punkt. Und, wie war die generelle Auslegung?“ „Wenn es knapp war, war es abseits – und es war immer knapp – und auf die andere Frage lautete die Antwort ´nein, es reichte in dem Falle nicht aus´. Wenn es doch mal geschah, wurde aber heftig diskutiert und die Entscheidung oftmals als ´zu hart´ erachtet, was in der Folge bedeutete, dass die Verteidiger noch ein bisschen mehr durften und die Schiedsrichter noch seltener auf den Punkt zeigten. Das haben wir verstanden, nicht wahr Papa?“
„Kann man nicht anders ausdrücken. Ursächlich hier aber noch etwas tiefer liegend gab es das Problem….“ „….dass es so wenige Tore gab, dass ein jedes für die Spielentscheidung sorgen konnte und insofern noch kritischer beäugt wurde, ob auch alles mit rechten Dingen zuging“ setzte diesmal der Jüngste den Satz fort. Wanja staunte nur.
„Man konnte aber noch zwei weitere Dinge beobachten. Wer kann mir dabei helfen?“ Diesmal gab es fragende Blicke. Was meinte er diesmal?
„Nun, man durfte sich immer fragen, wer eigentlich bei den härter und härter geführten Zweikämpfen das Hauptinteresse an der Behinderung hatte?“
„Ach so, das meinst du. Selbst wenn die Zweikämpfe als ´hart´ bis später ´überhart´ bezeichnet werden konnten, gab es den Aggressor, denjenigen, welcher die Regelwidrigkeiten eröffnete. Ich erinnere mich“, meinte diesmal der Mittlere. „Es war der Verteidiger. Der Stürmer reagierte darauf – und doch wurde sein entsprechendes Gegenverhalten geahndet, dass des Verteidigers jedoch großzügig übersehen, übergangen.“
„Exakt. Nur gab es zur WM in den USA mal einen von der Idee her guten Gedanken, dagegen etwas zu tun. Denn das Problem wurde dort schon viel eher erkannt: wir brauchen mehr Tore.“
„Richtig, richtig, jetzt weiß ich“, ergriff erneut der Jüngste das Wort. „Im Zweifel für den Angreifer. Das war die Idee.“
„Wieder mal 100 Punkte für dich. Es war zwar zuerst nur auf Abseits bezogen – da den Amis wohl die nervösen Arme der Assistenten an der Linie als erstes unangenehm ins Auge fielen –, aber auch bei Foul- oder Handspielen hätte es durchaus Sinn gemacht. Denn: auch hier waren es meist die Verteidiger, welche sich zuerst nicht an die Regeln hielten. Auch bei Handspielen passierte es dem Stürmer, wenn überhaupt, mal unglücklich, während der Verteidiger vorsätzlich seinen Körper verbreiterte und hoffte – oft mit Erfolg – dass der Schiedsrichter, wenn der Ball denn den Arm berührte, dies als unglücklich bewertete, was er jedoch umgekehrt beim Stürmer niemals tat.“
„Ok, war nur eine Wiederholung, aber es kann nicht schaden, sich daran ab und an zu erinnern. Es schien also doch jemanden mal etwas aufzufallen und eine Idee wurde erkoren: wir vergeben drei Punkte für einen Sieg, weiterhin einen je Mannschaft bei Remis. Ist das eine gute Idee, meint ihr?“
„Bei uns hier gibt es das nicht, wozu auch? Aber auf den ersten Blick könnte es doch dazu führen, dass es mehr Spektakel, mehr Tore zu sehen gibt? Zumindest schien es ein Versuch zu sein.“
„Ja, so sollte es wohl sein. Wobei man dazu, nach Einführung der Regel, in der Folge kaum je hörte, dass dies noch jemanden interessierte oder gar beschäftigte. Was hat es gebracht, waren die Spiele spannender, gab es mehr Tore, gab es weniger Ballgeschiebe und weniger Unentschieden? Ich hätte so gerne mal einen FIFA-Offiziellen dazu befragt. Aber das war wirklich schon merkwürdig, dass sie einfach so, aus einer Laune heraus, eine doch grundlegende Regel abgeändert haben – aber sich nie mit den ausgelösten Folgen beschäftigt haben?“
„Ja, das klingt unglaublich. Aber sag uns doch: was hat es denn nun gebracht?“
„Gar nichts. Das ist das Ergebnis meiner Analysen. Ich habe als Beispiel mal die Statistiken angefertigt für die Bundesliga von 1993 bis 2019. Hier das Diagramm:“
Und Wanja hatte zu vielen Dingen Statistiken angefertigt. Er war, früher, auf der Erde, einer der ersten, welche statistische Modelle angefertigt hatte, mit welchen Prognosen erstellt werden konnten, mit welchen Wahrscheinlichkeiten Spiele so oder so ausgingen und sich sogar für viele Jahre davon ernährt, indem er erfolgreich auf die Spiele wettete. Seine Berechnungen waren den damals tätigen, eher intuitiv arbeitenden Buchmachern und Wettanbietern einfach weit überlegen. Die Kinder kannten so etwas also längst. Hieß aber nicht, dass es deshalb weniger interessant gewesen wäre.
„Könntet ihr anhand dieser Grafik erahnen, wann die Dreipunkteregel eingeführt wurde?“ „Hmm, wohl kaum“, sprachen die Kinder fast gleichzeitig aber jedenfalls sinngemäß.
„Nein, die Tore gingen mal etwas rauf, mal etwas runter, meist so knapp um die drei Tore pro Spiel…“ „Was, so wenig? Und das hat den Leuten Spaß gemacht? Das kann ich mir kaum vorstellen“, unterbrach mal wieder der Jüngste.
„Nein“, konnte Wanja nur recht geben, „es machte nicht so besonders viel Spaß. Wobei man dies etwa vergleichen könnte mit einem Höhlenmenschen, welcher nie etwas anderes als seine Höhle gesehen hat und insofern gar nicht weiß, wie schön es in der Sonne ist. Träte er nur ein einziges Mal heraus, würde er sein ganzes vorheriges Leben in Frage stellen. Also bliebe er sogar drinnen, wenn er die Chance hätte und ihm jemand vorschwärmen würde, wie schön es draußen wäre.“
Diese Art von Vergleichen zwangen einen zwar, kurz mal inne zu halten und darüber nachzudenken, aber dennoch machten sie die Lage anschaulich, wenn man es einmal erfasst hatte. Die Erdlinge wussten nichts davon, wie schön, spannend, unterhaltsam der Fußball sein könnte. Und etwas verändern? Da hatten sie irgendwie panische Angst. Nur die Höhle nicht verlassen!
„Es gab mal etwas mehr Tore, mal etwas weniger, ganz selten mal über drei pro Spiel, aber damit war die deutsche Bundesliga sogar anderen Ligen voraus, denn dort schepperte es noch seltener. Aber das gehört hier jetzt nicht her. Auch bei den Remisen ist schwerlich an irgendeiner Stelle eine Entwicklung zu sehen. Übrigens geschah die Einführung der Regel zur Saison 1995/1996. Genau dort gingen die Unentschieden aber erst einmal in die Höhe. Auf einen davor und danach nie mehr erreichten Höchstwert. Kurios, oder?“
„Das würde ja bedeuten, dass die Spieler und Trainer die Regel gar nicht verstanden haben?“ „So in etwa. Später hat sich das wieder normalisiert. Es schwankte so um die 25%. Unauffällig, könnte man insgesamt sagen. Insofern auf die Remisen bezogen: kaum Auswirkungen, aber wenn, wären dies wohl eher nicht die erwünschten? Man bekam ja keine Stellungnahme zu hören. Die Regel wurde eingeführt und danach unbeachtet, unkommentiert gelassen. Aber anzunehmen ist doch, dass man eigentlich auf mehr Tore hoffte, oder?“
„Davon wäre auszugehen“, meinte der Älteste. „Falls es um mehr Spektakel oder mehr Action oder mehr Angriffsschwung oder mehr Unternehmungslust gegangen wäre, dann hätte sich diese doch ebenfalls nur irgendwann in Toren niederschlagen müssen und insofern nachprüfen lassen? Unsinnig wäre es doch, wenn man die Regel einführen würde, auf mehr, nehmen wir einen der Begriffe, Action hoffen würde, diese zwar bekäme, aber der Toreschnitt gleichbliebe? Sie hätten sich beide mehr bemüht – aber damit keinen Erfolg gehabt?“
„Sehr scharfsinnig. Ja. Es hätte sich eigentlich und theoretisch in mehr Toren bemerkbar machen müssen. Deshalb hier diese Statistik:“
„Da ihr nun wisst, wann es die Einführung gab, entfällt die Frage nach der Erkennbarkeit. Hier sind nur zwei Spielzeiten mit der alten Regel aufgezeichnet, aber dort sieht man, dass es eher etwas mehr Tore gab als in der Folge, wobei es zwischendurch und ganz am Ende auch mal etwas höher ging. Allgemein würde man auch aus dieser Grafik schließen: die Dreipunkteregel hat nichts gebracht.“
„Das ist ersichtlich. Falls man also mehr gewollt hätte, hätte man, spätestens nach ein paar Jahren, überprüfen und nach neuen Mitteln zum Erreichen der Ziele suchen müssen. Das willst du uns doch sicher sagen?“
„Ertappt. Und die Mittel lagen eigentlich auf der Hand. Aber nun fangen wir nicht wieder damit an. Die Fragen, welche mich dennoch beschäftigten, waren die: warum hat es sich denn nicht ausgewirkt? Es muss doch eine Logik dahinter geben?“
„Vielleicht haben die Ausübenden einfach nicht verstanden, wie man richtig damit umgeht? Du sagtest aber ´Fragen´. Das war bisher nur eine. Nenne bitte die andere. Was könnte man sich noch fragen?“
„Sehr kluges Bürschchen. Die andere Frage lautete nach der Gerechtigkeit. Macht das einen Sinn?“
„Ähm, ja, klar, die kann man immer stellen. Nur in dem Fall : was könnte ungerecht an einer Regel sein, die für alle gleich ist? Es ist halt jetzt so und gilt für alle. Punkt.“
„Auch hier muss man einen Schritt weiterdenken. Aber zuerst möchte ich dazu Stellung nehmen, warum die Regel ihre Wirkung verfehlte – wobei man sich die Wirkung selbst ausdenken musste. Ich habe oftmals Menschen danach gefragt und irgendwie waren sie von der Frage schon irritiert. Das liegt wohl vor allem daran, dass man in den Medien dazu nie etwas hörte. Und die meisten Menschen – ob sie wollten oder nicht – waren von der Macht der Medien so sehr beeinflusst, dass sie sich deren Vorgaben untergeordnet haben. Die Dreipunkteregel ist so, weil sie so ist. Darüber spricht keiner.“
„Das leuchtet zwar ebenfalls ein, gibt aber noch keine Antwort auf die Frage der Auswirkung oder der unterbliebenen Auswirkung?“
„Tja, wenn man nachdenkt, dann kommt man eben an diesem oder jener Überlegung vorbei und beschäftigt sich damit. Aber dennoch richtig: ich schweife etwas ab. Die Regel hat aus mehreren Gründen nichts gebracht.
Ein erster war der, dass die Trainer nach verlorenen Spielen oftmals um ihren Job bangen mussten. Vor allem, wenn es zwei oder gar drei nacheinander waren. Unentschieden – das wusste irgendwie jeder – brachten einen zwar nicht weiter, wie es immer so schön und selbst überführend hieß, aber man konnte mit einer Fortsetzung der Tätigkeit rechnen. Gewänne man nach drei Remisen das vierte Spiel, hieße es sogar: ´seit vier Spielen ungeschlagen´. Eine Erfolgsstory. Das Ziel der Trainer war es, nicht zu verlieren. Die ausgelobten drei Punkte, falls man etwas riskierte, konnten den Job kosten. Schön vorsichtig. Das war die Taktik. An die Spieler weitergegeben, von denen so umgesetzt.“
„Ja, das macht Sinn. Obwohl man hier bei uns keine Jagd macht auf die Trainer. Aber davon haben wir schon gehört. Gibt es noch mehr Gründe?“
„Ja, durchaus. Ein weiterer ist der, dass der Mensch eine gewisse Veranlagung hat. Dieser Veranlagung zufolge hat man ein gewisses, schlummerndes Potenzial, an welches man so nicht herankommt. Dieses Potenzial zeigt sich aber dann urplötzlich, wenn man in Panik gerät. Viele Menschen haben in Panik bereits Dinge bewältigt, die sie nie so wiederholen oder vormachen könnten und sie selbst oder Beobachter dies ebenfalls nicht fassen können, wie so etwas möglich sein soll. Man entwickelt Kräfte oder eine Energie, von denen man zuvor nichts wusste.“
„Ja, davon haben wir schon gehört und es selbst sogar schon mal erlebt.“
„Auf dieses schlummernde Potenzial hat man also keinen Zugriff, es ist aber offensichtlich da. Ein Teil dieses Potenzials kann man abrufen, wenn man in Rückstand liegt, auch nur bei einem alltäglichen Fußballspiel.“
„Ja, das stimmt. Das habe ich schon bemerkt. Sobald meine Mannschaft zurück liegt, geht oftmals ein Ruck durch alle. ´Jetzt strengt euch aber mal ein bisschen an, sonst verlieren wir das Spiel noch´.“
„Genauso ist es. Selbst wenn es nur Teile dieses Potenzials sind: es gibt Lebenssituationen, in welchen man auf Teile davon doch Zugriff bekommt. Je dringlicher die Angelegenheit wird, umso mehr des Potenzials ist abrufbar. Und: dies geschieht eher intuitiv, nicht wirklich bewusst gesteuert.“
„So weit ist das klar. Aber was hat das mit der Dreipunkteregel zu tun?“
„Eine ganze Menge. Denn: wenn ein Spiel Unentschieden steht, im normalen Ligabetrieb, dann sind beide immer so ein Stück weit zufrieden. Auch die Spieler, unabhängig vom Trainer. Sie bekommen bei einem solchen Spielstand keinerlei Zugriff auf das vorher erwähnte Panikpotenzial.“
„Auch so weit können wir dir nun folgen. Ja, das klingt logisch. Sogar kann ich dies auch aus der eigenen Praxis bestätigen. Sobald man den Rückstand kassiert, reißt man sich zusammen – was dann letztendlich diese Teile des Potenzials aktiviert. Erzielt man den Ausgleich, ist man zwar happy, verfällt aber direkt wieder in das alte ´Zufriedenheitsmuster´. Alles wieder gut.“
„Genau. Man kommt einfach darauf, wenn man drüber nachdenkt. Das heißt also: drei Punkte für den Sieg oder zwei Punkte für den Sieg: die Menschen lassen sich so einfach nicht übertölpeln von einer Zufallsidee. Man möchte dem Zuschauer etwas bieten, aber hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Wirt — hier Mensch — lässt sich das nicht aufzwängen. Es war ein Fehlschlag, auch unter diesem Aspekt. ´Es steht 1:1. Jetzt ackert mal doppelt so viel, ihr könnt einen Extrapunkt ergattern.´ ´Pustekuchen´ bekommt man zur Antwort. “
„Ja, alles klar. Es war ein Hirngespinst. Etwa noch mehr Gründe?“
„Ja, tatsächlich gibt es sogar noch ZWEI weitere Gründe. Da staunt ihr, was?“
„Also zuerst musst du uns mal davon überzeugen, dann staunen wir vielleicht.“
Wanja hatte schon ein paar verständige Kinder, die ihn immer wieder seinen eigenen Mangel an Logik aufdeckten.
„Ok, ihr Schlaumeier, dann staunt halt erst, nachdem ich es erklärt habe. Der zweite Grund, auf den man erst bei genauerem Hinschauen, speziell beim Beobachten des Verhaltens der Spieler auf dem Platz bei bestimmten Spielständen, kommt ist dieser: die Dreipunkteregel gilt nicht nur bei ausgeglichenen Spielständen, sie gilt auch bei Führungen. Was folgert ihr daraus? Und: Schlaumeier habe ich schon gesagt.“
„Hmm“, überlegte der Mittlere laut – fraglos ließ der Älteste oftmals den Jüngeren den Vortritt, selbst wenn er ebenfalls eine Antwort gewusst hätte –, „also es steht 1:0, wie du sagst ein typisches Ergebnis. Wenn der Ausgleich fiele, dann büßte die führende Mannschaft ZWEI Punkte ein und nicht mehr nur einen, wie bei der alten Regel. Also hatten sie viel mehr Grund, an diesem Spielstand festzuhalten. Anstatt mehr Angriff sah man, bei einem derartigen Spielstand, sogar mehr Verteidigung! Heureka!“
Ja, auf seine Söhne war Verlass. Genau dies war der Fall. Man musste eine gute Weile beobachten, um darauf zu kommen. Aber irgendwann wurde es offensichtlich und wenn man den Gedanken hatte, ließ er einen nicht mehr los. Es stand 1:0, sagen wir, für die Heimmannschaft, und es wurde eine regelrechte Abwehrschlacht, welche sogar die Zuschauer so hinnahmen, denn auch sie wussten, ohne es aussprechen zu müssen, geschweige denn Ursachen zu überdenken oder gar in Frage zu stellen, dass man den Dreier unbedingt festhalten muss. Immer unter der Voraussetzung – als gegeben angenommen aber in Putoia nicht der Fall, im Gegenteil –, dass ´Fußball ein reiner Ergebnissport ist´, wofür die Medien die Hauptverantwortung tragen.
„Ok, wir staunen schon mal ein bisschen und sind aber sicher, dass du uns gleich einen weiteren Anlass dazu geben wirst“, sprach diesmal doch der Älteste. „Welches ist der letzte Grund?“
„Gut, dass du fragst. An dieser Stelle kommen wir komischerweise nicht ganz ohne Mathematik aus. Seid ihr bereit?“
Wanja hatte seinen Kindern schon eine ganze Menge weitergegeben – wenn nicht noch etwas mehr – von seiner mathematischen Veranlagung. Sie waren bereit und zeigten es mit erwartungsvollem Nicken an.
„Da man rein theoretisch mehr gewinnen kann als verlieren, wenn man bei einem Unentschieden auf Sieg spielt, wie es die Dreipunkteregel einem vorgeben sollte, dann ist es klar, dass man das Risiko dafür – rein mathematisch – erhöhen dürfte.“
„Ja, das weiß ich. Wenn man einen Punkt verlieren kann aber zwei gewinnen, müsste die Chance mindestens ein Drittel sein, dass man ein Tor erzielt gegenüber der Chance, eines zu kassieren.“
„Richtig. Ihr müsst aber nun noch wissen, dass die Rechnung so ohne Weiteres noch nicht aufgehen würde. Weil?“
Der Jüngste sprach weiter: „… weil, wie du immer sagst, die Abwehr im Vorteil war und somit die Chance viel geringer war, wenn man die Abwehr öffnete und auf Angriff spielte, ein Tor zu erzielen gegenüber jener, eines zu kassieren.“
„Absolut richtig und gut zugehört und aufgepasst. Es war tatsächlich so, dass es eigentlich sogar ein klein wenig dumm war, auf Angriff zu spielen – wie sich immer mehr zeigte. Die guten Trainer spielten vor wichtigen Spielen auch immer sich gegenseitig die Favoritenrolle zu, weil sie damit hofften, nicht etwa zum Angriffsspielgezwungen zu sein, wie sie damit zumindest ihren Fans signalisierten. Wenn die anderen Favorit waren, mussten DIE das Spiel machen – und wir erzielen unserer Tore aus der Kontersituation heraus. All dies hing damit zusammen, wie euer Bruder eben sagte, dass die Abwehr immer im Vorteil war, auch von der Regelauslegung her.“
Dieser Gedanke musste sich erstmal setzen. Dann fuhr Wanja fort: „Dennoch könnte es zwar sein, dass man, rein mathematisch gesehen, klugerweise auf den Siegtreffer gehen musste, wenn es 1:1 stand und, sagen wir, noch fünfzehn Minuten zu spielen war. Die Chance war zwar nicht etwa 50%, ein Tor zu erzielen gegenüber jener, eines zu kassieren, sie war auch nicht kleiner als 33%, wie man minimal brauchte, um es lohnenswert zu machen. Sie war irgendwas dazwischen. Dies eine rein theoretische Überlegung, aber wenn sie vielleicht 40% war, dann hätte es sich ja schon gelohnt, oder?“
„Natürlich“, rechnete der Älteste direkt vor. „Zu 40% gewinnt man zwei Punkte, also 0.4 * 2 ist gleich 0.8, zu 60% verliert man einen, ziehen wir also 0.6*1 = 0.6 von den 0.8 ab, es bleiben 0.2 Punkte, welche man zusätzlich gewinnt.“
Als Mathelehrer müsste ich eigentlich sagen „Perfekt“, aber es stimmt dennoch nicht ganz. Wer weiß, welches kleine Detail man an dieser Rechnung korrigieren muss?“ Wanja wartete schon einen Moment, aber diesmal konnte keiner aushelfen. Dauerte sicher nicht mehr lange…
„Wir haben gerechnet, dass die Chance 40% ist, ein Tor zu erzielen gegenüber jener, eines zu kassieren. Es ist aber die Chance NICHT eingerechnet, dass man WEDER eines erzielt NOCH eines kassiert. Diese Fälle blieben aber die häufigsten. Also: der Verzicht auf Angriffsfußball bedeutete nicht etwa, dass man 0.2 Punkte verschenkte, sondern wesentlich weniger, so richtig die Berechnung auch bleibt. Aber das wäre so oder so nur eine kleine mathematische Ergänzung. Wichtig blieben die Folgen oder das davon ausgelöste Verhalten. Mathematisch scheint es sich zu rechnen, was möglicherweise sogar die Trainer wussten. Dennoch taten sie es nicht – und ich rede nicht von den vorherigen Gründen, sondern hier einem separaten Grund.“
Noch immer keine Antwort.
„Also: wenn man selbst eigentlich öffnen müsste, nach vorne spielen, weil es sich rechnet, dann würde man dennoch einen kleinen Kompromiss eingehen, da man dem Gegner eine höhere Chance gewährt, seinerseits ein Tor zu erzielen. Man könnte es so sagen: der erste, der angreift, ist der Dumme. Denn: die gegnerische Mannschaft hat die Restprozente dann für sich. Den Überschuss. Man selbst erzielt zu 40% ein Tor – in all den Spielen, da man überhaupt noch eines fällt –, der Gegner zu 60%. Dies gilt aber für BEIDE Mannschaften. Risiko erhöhen bliebe zwar mathematisch korrekt, nur zugleich schenkte man dem Gegner etwas. Das ist in etwa so wie beim Gefangenen Dilemma. Es müssten sich BEIDE dumm verhalten, aus ihrer Sicht, um GEMEINSAM die beste Chance zu erhalten. In etwa so beim Fußball. Beide müssten sagen: „Zwar müssten wir jetzt attackieren, aber der Gegner müsste es doch ebenfalls, sofern er die Gesetze der Mathematik beherrscht? Also warten wir ab. Beide verhalten sich scheinbar klug, aber dann zusammen doch wieder nicht. Es ist ein Dilemma. Man kommt dort nicht raus. Die Folgen sind in der Statistik abzulesen: die Dreipunkteregel bringt nichts. Aus mehreren absolut schlüssigen Gründen, hier aufgezählt.“
Ja, das hatten die Kinder nun ebenfalls verstanden und obwohl sie es nicht aussprachen, sah man, dass sie doch mal wieder staunten.
„Zum Punkt der Gerechtigkeit ist insgesamt eigentlich schon genug gesagt: die Regel ist nicht gerecht, in keiner Hinsicht, aber es genügte schon, sie aus den anderen genannten Gründen abzuschaffen. Es gibt trotzdem noch den Zusatzaspekt, dass beispielweise beide Mannschaften sich bei einem 1:1 der beabsichtigten Wirkung der Regeländerung unterordneten und tatsächlich beide offensiv spielten. Das kam natürlich noch immer vor, nur war es eben nicht häufiger als früher, geschweige denn die Regel. Ab und an spielte man einfach so Fußball und vor allem dem Ziel des Spiels, Tore zu erzielen – abgesehen von jenem, die Zuschauer zu unterhalten, was auf diesem Wege am besten ging –, nachzugehen. Beide wollten also den Siegtreffer. Die perfekte Umsetzung der Regel. Beiden gelingt es, ein Tor zu erzielen, weil sie es nun mal darauf anlegten und der Regel vertrauten. Man trifft sich bei 2:2. Man hat alles richtig gemacht, sich an die Regel gehalten, aber dennoch wird man nun mit einem halben Punkt Abzug bestraft. Denn eigentlich müssten beide ja anderthalb Punkte bekommen. Oder halt einen, wenn der Sieger zwei bekäme, wie früher.“
„Ja, das ist ein bisschen ungerecht, das stimmt.“
„Und noch dieser Gedanken, welchem einen die Beobachtung ein wenig aufdrängte: man stelle sich zwei Mannschaften vor, welche beide gegen den Abstieg spielen. Nun bekämpfen sie sich in Hin- und Rückspiel auf Augenhöhe. Beide verausgaben sich, aber beide Spiele enden Unentschieden. Jeder hat ZWEI Punkte auf dem Konto, aus den beiden Duellen.
Zwei andere Mannschaften in ähnlicher Lage befinden vorab: ´ihr gewinnt euer Heimspiel wir gewinnen unseres. Abgemacht?´ ´Abgemacht!`. Beide haben nun DREI Punkte auf dem Konto – und eine Menge Kraft gespart. Ist sicher hier und da mal vorgekommen und ist nur dem Unsinn der Regel zu verdanken. So, jetzt aber raus mit euch, spielen!“
Das mussten sich die Jungens nicht zwei Mal sagen lassen….