Wanja spricht mit seinen Kindern, heute über…
Abseits
Als sich die Runde wieder mal versammelt hatte, nach dem Essen, und die Kinder das Verdauungsstündchen vor der nächsten Fußballrunde, draußen im Park, wo es ein paar riesige Spielwiesen gab, mit richtigen Toren und immer ausreichend viele Spieler aus der Nachbarschaft einfanden um, ganz freundschaftlich, ein oder zwei Spielchen auszutragen, eröffnete Wanja unvermittelt das Gespräch: „Warum gibt es eigentlich die Abseitsregel, raum wurde sie mal eingeführt?“
„Hmm, ja, schwierig, warum eigentlich? Ich meine, es funktioniert so weit gut hier, aber wer sich das ausgedacht hat und warum? Nein, erzähl du, Papa.“
„Kurioserweise gab es die Abseitsregel bereits seit der ersten Regelniederschrift im Jahre 1863. Vermutlich hatte sich in den paar Jahren zuvor, in welchen allgemein ohne festgeschriebene Regeln gespielt wurde, herausgestellt, dass einzelne Spieler, die vielleicht sogar allein wegen Müdigkeit nicht mehr den Rückwärtsgang einlegten und einfach vorne, vorm gegnerischen Tor, stehen blieben und, nach einem weiten Befreiungsschlag urplötzlich allein vorm Torwart standen und ein Tor erzielten. Unsinnig erschien es sofort, dass für einen solchen Spieler gar ein einzelner, nicht erschöpfter, Abwehrspieler, abgestellt werden sollte, um diesen vorne wartenden Spieler zu bewachen? Insofern schrieb man dies direkt ins Regelwerk: er muss so weit zurück, dass beim Pass, welchen er zum Torerfolg verwerten möchte, mindestens zwei Spieler zwischen ihm und der Grundlinie zu sein haben. Also: er kann seine Erschöpfung sehr wohl weiterhin ausleben, nur kann er die dadurch gewonnene Freiheit auf dem Feld nicht spontan in einen Torerfolg ummünzen. Dazu muss er schon seine Beine untern Arm nehmen und zunächst auf Höhe des letzten Verteidigers zurücklaufen. Meist ist der Torwart der zweite Spieler, aber wenn er es nicht ist, gab es früher doch häufig Missverständnisse in der Anwendung der Regel, da viele dies nicht wussten, weil es so sollten vorkam. Änderte aber so oder so nichts daran, dass es sinnvoll war und über die Jahrzehnte so erhalten blieb. Sämtliche Änderungen waren unbedeutender Natur und der Versuch, das Spiel ohne Abseits zu spielen – in Tests immer wieder als sinnlos anerkannt, so nicht spielbar – scheiterte gänzlich. Es war so von Anfang an und hatte seinen Sinn.“
„Gut, das leuchtet ein. Welcher Art waren denn die Probleme beim Abseits auf Erden? Warum sitzen wir heute hier zusammen und sprechen darüber?“
„Gute Frage. Denn: hier gibt es keine Probleme. Auf Erden waren – und ist es wohl immer noch, müssten wir bei einem kleinen Abstecher mal überprüfen? – die Abseitsentscheidungen fast mit den Elfmeterentscheidungen gleich zu setzen. Warum, glaubt ihr?“
„Das ist einfach. Wenn man hier den Pass im richtigen Moment spielt und der angespielte Spieler somit mächtigen Freiraum vor sich findet, ergibt sich oft – zur Freude der Zuschauer – eine große Torchance und, fraglos, oftmals ein Treffer. So wäre es bei Elfmetern auf Erden gewesen, so könnte es bei Vermeidung des Abseits gewesen sein. Große Torchancen oder letztendlich Tore waren aber, wie du sagst, nicht gar so willkommen. Warum war das noch mal so?“ Hier konnte einer der Brüder, in dem Fall der ältere, aushelfen: „Es waren nicht direkt die Tore selbst, es war eher die gewaltige Sorge, dass ein Treffer irregulär hätte gewesen sein können und somit ein unberechtigter Sieger aus einem Spiel hervorging, da ein einzelnes Tor oftmals für die Spielentscheidung sorgte, und in dem Falle der Schiedsrichter fälschlich für diese Spielentscheidung gesorgt hätte und somit in den Fokus oder gar die Sünderrolle schlüpfen musste. Dies wollte und musste er unter allen Umständen vermeiden.“
Wanja war mal wieder stolz, hatte aber dennoch zu ergänzen : „Alles richtig. Es bleibt nur das kleine psychologische Problem aufzuklären, warum ein, wie sich herausstellen konnte, fälschlich gegebenes Abseits, womit ein Tor vermieden wurde, obwohl eines hätte fallen können/sollen/müssen nicht für die gleiche Aufmerksamkeit sorgte. Wer kann dies erläutern?“
Die Kinder waren so weit gut konditioniert, dass ihnen die Argumente, bei richtiger und sinnvoller Fragestellung, doch zumeist einfielen und die eine oder andere Wiederholung der gesamten Sachlage auf Erden konnte nicht schaden. Es setzten sich so die Überlegungen fest, selbst wenn man hier und da rekapitulieren musste und die Puzzleteile logisch zusammensetzen, wozu oft eben die wohl dosierte Fragestellung beitrug.
Der Jüngste also : „Ja, weiß ich. Ein nicht anerkanntes Tor sorgte NICHT für einen Eintrag auf der Ergebnistafel.“ Der Zweitälteste fügte hinzu: „Der Spielstand blieb unverändert. Auf die Beibehaltung des Status Quo ist intuitiv viel leichter zu entscheiden als auf dessen Veränderung.“
Erneut waren dies die richtigen Punkte. Einer fehlte aber noch, den nun keiner mehr herausfand. Wanja: „Es kam hinzu, dass ein fälschlich gegebenes Abseits nicht die Wertigkeit eines ganzen Tores hatte, so wie auch ein nicht verhängter Elfmeter noch immer die Eventualität des Vergebens der Tormöglichkeit beinhaltet. Wenn sich ein Verlierer also — in der rein auf Ergebnisse fixierten Welt, was man sich ruhig immer wieder vor Augen halten darf – auf einen nicht gegebenen Strafstoß berufen wollte, ein fälschlich gegebenes Abseits, dann wurde er eher belächelt. Zum Teil auch deshalb, weil die Verwertung der Chance keineswegs garantiert war. Umgekehrt…“ Diesmal übernahm der Älteste: „… wenn ein Tor ein Spiel entschieden hatte, welches irregulär war, war es ein ganzes Tor und nicht nur die Eventualität eines Tores.“
„Richtig“, meinte Wanja, und er sah, dass seine Mission auf Erfolgskurs steuerte. „Ein sehr berühmter und häufig zitierter Satz auf Erden, welcher viele Anhänger fand und immer wieder in solchen Momenten Anwendung fand, dabei mehr und mehr Mitgefühl oder Anteilnahme auslöschte, lautete so: ´Das Leben findet nicht im Konjunktiv statt.´ Und jeder, der es zitierte, galt als sehr verständiger Mensch. Der eine träumte von einem Sieg, der andere hat ihn erzielt. Nachfrage nach den Mitteln? Entfiel. Bedauern für den tragischen Verlierer? Entfiel. ´Träum du mal schön weiter, wir haben den Pokal.´ Konsequenz natürlich: man berief sich gar nicht mehr auf Fehlentscheidungen dieser Bauart. Wer es tat, hatte zwar recht, wurde aber belächelt, dass er nach billigen Ausreden suchte.“
„Ja, es war gar nicht schön auf der Erde. Oder vielleicht doch? Aber nicht beim Fußball. Nein, da lobe ich mir Putoia und wie wir hier spielen.“
„Es gab die gleichen Probleme beim Abseits wie beim Elfmeter. Ihr wisst noch, was ich euch über die Weltmeisterschaft in den USA 1994 sagte?“
„Ja, so in etwa. Es ging darum, dass die USA ein paar Regeln ändern wollte, damit mehr Tore fallen, oder?“
„Genau so war es. Mehr Tore è mehr Spektakel, mehr Unterhaltung, mehr Spannung, mehr Action, mehr Spaß. Was interessieren einen die wenigen Fans der gerade betroffenen, ein Tor kassierenden Mannschaft und deren Schicksal, wenn der Rest der Zuschauer sich freuen kann? Und mit ´dem Rest´ sind keineswegs die ebenfalls weit in der Unterzahl befindlichen Fans der anderen Mannschaft. Die ganze Welt hätte Spaß. Nur ein paar trügen für einen kurzen Moment Trauer. Wobei diese Trauer vielleicht nur sehr temporär wäre, da auch ihre Mannschaft jederzeit ein Tor erzielen könnte, angesichts der allgemein erhöhten Torquote. Also nicht etwa so: ´oh je, ein Gegentor. Nun haben wir verloren.´ Sondern ein ´Auf geht’s, Jungs, es ist noch lange nichts verloren´.“
Ja, die Kinder erinnerten sich. Nur war es schwer, ein Problem zu erkennen, welches in ihrer Welt nicht existierte. Sie mussten sich sozusagen eines Problems erinnern, welches gar keines war – für ihr Verständnis. Jedoch konnten sie sich immer besser hineindenken und hineinfühlen in die irdischen Zustände. Tore waren irgendwie unerwünscht.
„Die USA wollten mehr Tore, mehr Spektakel. Aber ich nehme an, sie stießen mit ihrem Ansinnen auf taube Ohren? Keiner wollte die Bereicherung erkennen, die von einer erhöhten Anzahl von Toren ausgelöst würde? Starrsinn in den Regeln, mit der Begründung ´war doch schon immer so, nur nichts ändern´?“
„Richtig. Die USA galten ohnehin als innovativ. Ebenso hieß es, irgendwie ihnen nachteilig angerechnet, dass sie sich nur für die Show interessieren würden und aus allem eine Show machen wollten. Dass dies äußerst wirkungsvoll war – denn egal, ob Hollywood oder Baseball, Basektball oder Eishockey, sogar Catchen, Golf, eine Schachveranstaltung. Ihnen gelang es, spielend die Zuschauer ins Boot zu holen. Und sie verstanden: wenn es der Zuschauer sehen will, dann sind Finanzierung und Fortbestand garantiert. Also gilt es, den Zuschauer zu begeistern. Tradition hatte keinerlei Bedeutung. Wozu auch? Macht die Tore größer, schafft das Abseits ab, spielt zehn gegen zehn oder vergrößert den Mauerabstand. Egal, irgendwas muss passieren, damit das Runde den Weg häufiger ins Eckige findet als bisher. Dann gewinnen wir die Zuschauer, es macht allen Spaß und Fußball wir auch in den USA die größte Sportart.“
„Und es wurde nichts geändert?“ „Na, so gut wie nichts. Obwohl es ihnen gelang, die vom Grundgedanken her eigentlich perfekte Regelauslegung einzuführen, die da lautete ´im Zweifel für den Angreifer´. Man bekam später darüber kaum schlüssige Informationen, inwieweit dies in das Regelwerk Einzug hielt, obwohl es im Anschluss sehr häufig bei kritischen Situationen so ausgesprochen wurde, insofern können wir es auch als reine Empfehlung auffassen. Nur wäre dies kein Problem, denn die Idee war und ist richtig und sollte lediglich dafür sorgen, dass bei den vielen extrem engen Situationen der Linienrichter die Berechtigung erhielt, die Fahne nicht spontan und aus Angst vor einem Fehler hochzureißen, sondern sie unten zu lassen – und später dafür nicht belangt zu werden. Eine feine Änderung im Sinne einer Idee, denn, bei Umsetzung dieser Idee hätte es schon ausreichend mehr Tore gegeben, zur Freude der Regelmacher und eigentlich der Welt, denn selbst dem Fußball Abgewandte hätten im Nu Freude an dem Spektakel gefunden..“
„Aber“, so wandte der Jüngste ein, „warum erzählst du ausgerechnet das so ausführlich? Das ist doch genau so, wie es hier bei uns ist?“
Da war Wanja zwar entwaffnet, aber auch erfreut und besann sich selbst, was ihn eigentlich veranlasst hatte, hierherzukommen, zwecks Planetengründung. Für einen Moment war er in seine alte Welt abgedriftet und fast in den früheren Fanatismus verfallen. Doch, diese seine Vergangenheit konnte er nicht verleugnen. Es war eine zu lange Zeit, in welcher er sich doch fast täglich ärgern musste. Es war ja nicht einmal nur darüber, dass keine Tore fielen sondern es waren die unsinnigen Begründungen, welche man nach jedem weiteren Spieltag der ihm so ans Herz gewachsenen Fußball Bundesliga, mit welcher er aufgewachsen und groß geworden war und deren Verfall er so deutlich erkennen konnte, ohne, dass er das Gehör für seine Sicht der Dinge fand. Kurios war jedoch auch, wie er sich erinnerte, und nun ein weiteres Mal den Kindern vortrug:
„Wisst ihr, wenn man Jemanden einfach so mit dem Gedanken konfrontierte, dass es doch schön und erfreulich wäre, wenn es mehr Tore gäbe und dass es allen mehr Spaß machen würde, garantiert, dann musste ich so gut wie immer mit Widerspruch rechnen. Ich dachte darüber nach und stellte fest: sie widersprechen eigentlich nicht, weil sie das Gegenteil glauben oder denken sondern weil man reflexartig bei einer so schlichten Idee die Gegenseite einnimmt, denn entweder hätte man den Gedanken selbst gehabt haben müssen oder ihn wiederholt und längst und vielfach von irgendwelchen Experten gehört haben müssen – oder aber, die schlichteste aller Erklärungen, der Gedanke war falsch. Sonst hätte man doch…“
„Komisch. Tore sind doch das Salz in der Suppe und dies gitl beispielsweise auch für Handball oder Basketball und auch da habe ich noch nie gehört, dass jemand nach einem Handballergebnis von 28:24 oder einem Basketballergebnis von 126:119 gesagt hätte: ´heute war die Suppe aber mächtig versalzen.´ Es war das Spektakel, was die Menschen sehen wollten. Zu viel? Gab es nicht. So sagst du doch immer, Papa?“
„Genau so. Kurios blieb, dass man fast immer auf Widerspruch stieß, oftmals energischen. Mit den zugleich merkwürdigsten Argumenten wie ´ich finde ein 0:0 manchmal interessanter als ein 3:3´ oder auch jenem, dass es gerade die geringe Anzahl der Treffer ist, die dafür sorgt, dass man sich über einen einzelnen so richtig freuen kann. Ich kann euch auch sagen, wie kurzsichtig und widersprüchlich diese Argumente waren.“
„Dann sag schon?“
„Genau diese Menschen, die das sagten, waren urplötzlich total begeistert, wenn es ein 4:3 gab. Wie sie ungewollt zu erkennen gaben, indem sie beispielsweise erzählten ´Hast du am Samstag das Spiel gesehen? Da war vielleicht was los!` Und schon hatte man sie eigentlich ertappt, ohne das unbedingt gewollt zu haben. Man konnte immer mal wieder, unvorbereitet, fragen, an welches tolle Spiel sie sich selbst gerne erinnern würden? Und fast immer kam dabei heraus, dass es eines mit Torspektakel war.“
„Sag doch mal ein paar Beispiele!“
„Also das erste war das ´Spiel des Jahrhunderts´ zwischen Deutschland und Italien, welches nach Verlängerung mit 4:3 für Italien endete. Der Titel des Spiels sagt alles. Dann gab es das 3:3 zwischen Milan und Liverpool. Halbzeit 3:0 Milan. Dies wurde als ´größtes Comeback der Championsleague Geschichte gefeiert und es wurde eigens ein Film darüber gedreht, weil es so spektakulär war.“
„Papa?“ „Ja?“. „Papa, du musst aber zugeben, dass wir uns auch nicht an jedes Spiel hier erinnern können, obwohl es torreich ist. Man erinnerte sich an derartige Spiele nur, weil sie so selten waren. Hier ist das alltäglich.“
„Du erinnerst dich sicher auch hier an bestimmte Spiele. Wenn sie sehr besonders waren, wenn sie anders als andere, anders als sonst waren und wenn sie irgendwie aus dem Rahmen fielen. Außerdem: worin besteht ein Problem mit der Erinnerung, wenn wir täglich viel Spaß haben?“ Nun waren die Kinder mal wieder zum Schweigen gebracht, denn, wie sie es gewohnt waren, hatte der Vater mit seinem Schlusswort, meist ausgesprochen recht.
„Abgesehen davon, hat man an irgendeiner Stelle das Problem scheinbar doch erkannt, nur ist man dem nicht konsequent nachgegangen. Wenn tatsächlich die Regel mal geändert wurde, dass dort stand ´gleiche Höhe ist ab jetzt kein Abseits mehr´, dann könnte man dies genauso auffassen, wie den Vorschlag der USA: im Zweifel für den Angreifer. Der Gedanke dahinter ist der gleiche: man möchte irgendwie nicht dauernd oder zumindest nicht mehr so oft auf Abseits entscheiden. Das müssten die Verfasser der Regeländerung zugeben. Irgendwo gab es ein Problem, welches man so zu bekämpfen versuchte. Ebenfalls die Änderung auf drei Punkte für einen Sieg muss davon ausgelöst worden sein, dass man irgendwie mehr Tore und mehr Spektakel erhofft, dass es irgendwie zu langweilig ist. Nur, wie gesagt: man ging den guten Ideen nicht konsequent nach. Ab und an hatte einer mal eine, die versandete. Genau wie die ´gleiche Höhe` oder ´im Zweifel für den Angreifer´ nichts also nett gemeinte Formulierungen blieben. Es gab keine gleiche Höhe und es gab niemals eine Auslegung zugunsten der Angreifer. Ganz im Gegenteil. Abseits war eigentlich immer. Ab und an war es eng, ab und an sehr eng. Nur konnte man darüber meist nach dem Abseitspfiff trefflich diskutieren – ändern konnte man an der Entscheidung nichts mehr.“
Die Kinder dachten nach und nahmen immer mehr von dieser Problematik auf. Sie verstanden, könnte man auch sagen.
Wanja hatte sich die Zuhörerschaft gesichert, also fuhr er weiter fort:
„Die Einführung des Videoassistenten sollte Abhilfe schaffen und irgendwie schienen alle ganz besonders stolz auf diese Erfindung zu sein. Gerade bei Abseitsentscheidungen. Kurios jedoch in der Folge, dass man zwar mit wachsendem Stolz vermeldete, dass ein weiterer Treffer, welcher im Spiel bereits anerkannt worden war, nicht regulär war, indem irgendein Spieler um eine Zehenbreite oder mit dem wehenden Trikot oder einer Locke seines Haupthaares dem Tor im Moment des Abspiels näher gewesen sein soll als weniger als ein Gegenspieler – was absolut lächerlich war in der Vielzahl der Fälle, aber das hier noch nicht einmal das Hauptproblem –, dass man jedoch weiterhin die Fälle, in denen die Fahne zu Unrecht hochgerissen war keineswegs, auch nicht durch Nachweis eines Videoassistenten, beheben, rückgängig oder gar korrigieren konnte in dem Sinne ´stellt euch alle nochmal so auf, wie ihr vorhin standet, als die Fahne hoch ging, wir spielen von dieser Situation aus weiter, denn die Fahne ging zu Unrecht hoch´, sondern dies wurde lediglich als ´Pech´ aufgefasst, was im nächsten Moment schon wieder vergessen war. ´Abseits kann der Videoassistent´, so hört man immer wieder“
„Aber was du da sagst ist doch absurd? Sie können doch nicht behaupten, dass sie, wenn sie ein Tor aberkennen, weil es angeblich abseits war, von Gerechtigkeit sprechen, wenn sie zugleich ein anderes aber nicht geben, welches korrekt war aber aberkannt wurde?“ „Genau so absurd war es aber. Wobei man sich anscheinend mit den wenigen Situationen auch hier, wie beim Elfmeter, rausredete, in welchen der Ball die Torlinie bereits überschritten hatte, die Fahne aber dennoch oben war, der Schiedsrichter aber noch nicht gepfiffen hatte – wohl, weil die Zeit nicht reichte – und dann das Tor doch anerkannt wurde, entgegen der energischen Proteste der das Tor kassierenden Mannschaft, welche sich auf die Fahne des Assistenten berufen wollten. Diese wenigen Ausnahmefälle schienen aber auszureichen, das Gewissen der Menschen zu beruhigen, nach dem Motto: ´seht ihr, mal so rum, mal so rum, gleicht sich alles aus´ oder etwas in der Bauart.“
„Gerechtigkeit ist anders“, meldete sich der Mittlere zu Wort. „Gerechtigkeit ist Putoia. Ein Hoch auf den Fußball hier!“, und alle prosteten sich – natürlich mit Wasser – zu.
„Es kam zu absurden, kuriosen Entscheidungen, aber die Menschen dachten nicht darüber nach. Ein Beispiel muss ich euch noch auf den Weg geben, bevor ihr ausgeht zum Kicken. Es war in einem weniger großen Spiel in der zweiten Bundesliga, als ein Angriff lief, wie es natürlich ständig vorkam. Nun kam es zu einer der so zahlreichen engen Entscheidungen. Angreifer und Abwehrspieler waren natürlich – so wie hier – auch damals schon exzellent und gleichermaßen gut ausgebildet. Das heißt: die Stürmer wussten genau, in welchem Moment sie starten mussten, um a) nicht abseits zu sein und b) dennoch einen ausreichenden Vorsprung vor dem Verteidiger zu haben, welcher seine – teils unfairen, mit Foulspiel verbundenen – Mittel entgegenhielt, um den Angreifer zu stoppen, am Torerfolg zu hindern. Auch der Passgeber wusste: es ging um die eine Zehntelsekunde, da war keine Luft für einen Fehler. Es klappt, wenn jedes kleinste Detail perfekt ist. Im Laufe der Zeit war es klarerweise so, dass quasi jede Aktion dieser Bauart – Steilpass auf einen durchstartenden Spieler – eine äußerst knappe war. Man hätte hier alles herausholen können im Sinne des größeren Spektakels durch mehr Tore. Nur wusste inzwischen längst jeder Stürmer – inklusive Passgeber –, dass er den kleinen Irrtum zu seinen Ungunsten, welcher aus den Fehlentscheidungen hervorging, einkalkulieren musste. Sprich: man hat nicht mal im richtigen Moment abgespielt, sondern eher lieber etwas zu früh, zwecks Vermeidung des Abseitspfiffes. Dies hat zusätzliche Verwertungsprozente gekostet, nur hatte man ja keine Wahl.
Zusammengefasst aber: es gab ständig diese engen Entscheidungen, im Spiel vielleicht zwischen fünf und zehn, von denen so gut wie alle gegen die Stürmer ausgelegt wurde – oftmals zum Erstaunen der Kommentatoren, welche zunächst meinten, nach dem Pfiff ´Abseitsstellung´, dann aber, falls doch eine Wiederholung, häufig erkannten ´ouh, das war aber eng, für mich eher kein Abseits´, dennoch darüber hinweg gingen, so, als wäre nichts gewesen.
In der angesprochenen Szene war es so, dass der Assistent an der Seitenlinie bei einer der so zahlreichen kritischen Situationen die Fahne unten ließ – eine seltene Ausnahme. Der Angriff lief weiter, die Fahne blieb unten. Es erfolgte sogar ein Torabschluss und, so selten dies auch geschah, landete der Ball im Netz. Zwischen der zu beurteilenden Abseitssituation und den Torerfolg lagen mindestens vier Sekunden, vielleicht mehr. Und das ist wirklich eine Menge. Aber auch zwei oder drei hätten ausgereicht für die von mir zu treffende Aussage. Denn: als der Ball im Netz einschlug, hob der Assistent die Fahne doch noch hoch. Die Entscheidung war klar und glich der in praktisch jeder anderen Spielsituation: abseits ist immer, Elfer niemals, Stürmerfoul wiederum immer, kein Tor, so oder so nicht, dabei bleibt es, das ist Gesetz. Es wurde auf Abseits entschieden. Der Kommentator, der für dieses Spiel eingeteilt war, wirkte auch kein bisschen irritiert. ´da sehen wir ja, geht die Fahne doch noch hoch, also abseits, das war ohnehin mein erster Eindruck.´ Sie bestätigten also immer wieder diese Schiedsrichterentscheidungen, weil sie nicht zulassen konnten, dass sie am Ende zehn Mal pro Spiel hätten erkennen müssen: auch hier wurde gegen das Tor entschieden und auch hier war es falsch. Weil dies eine gar nicht mal so heile Welt zum Einsturz gebracht hätte. Aber deshalb hat das Gewissen wohl noch mehr dagegen an gearbeitet, den Missstand zu erkennen.
Wenn ihr meine Auffassung der Szene wissen wollt: der Assistent hatte die Fahne unten gelassen und im nächsten Moment bereits ein schlechtes Gewissen. Dieses natürlich, weil man beim Heben der Fahne nie ein größeres Problem, auch nicht in der Folge, hatte, während man beim Runterhalten der Fahne dann ein Problem hätte, wenn es ein Tor ergäbe und man nachweislich schuld daran wäre. Die Fahne heben war der Weg des geringsten Widerstandes, für welchen sich logischerweise jeder Assistent weitaus bevorzugt entschied. Hier hatte er den Moment verpasst und natürlich längst nicht mehr die Berechtigung, nun doch noch die Fahne zu heben. Das Spiel lief also weiter. Der Assistent hoffte nun inständig, dass es kein Tor gäbe, weil dann ja so oder so alles gut wäre. Als der Ball im Netz landete schwankte er nun zwischen dieser oder jener Möglichkeit, welche beide nicht so vielversprechend waren: weiterhin nichts tun und möglicherweise an einem irregulären Treffer schuld zu sein, oder, sämtliche Regeln missachtend, aber jetzt trotzdem noch die Fahne hochzureißen und zu hoffen, dass niemand was merkt. Er entschied sich für Letzteres. Die Folgen? Nullkommanichts. Keiner hat was gemerkt. Warum nur? Weil der Kaiser zwar nackt war, aber Alle um einen herum die Kleider zu bewundern schienen. So war man gezwungen, es auch zu tun.“
„Das ist schockierend, erneut. Aber wir müssen jetzt wirklich los, Papa, wir haben genug Gänsehaut, lass uns endlich gehen.“
„Nein, wartet, noch einen Augenblick, während ihr eure Schuhe anzieht. Ich hatte ein einziges Mal die Gelegenheit, mit einem richtigen Schiedsrichter ein Gespräch zu führen und wählte ´Abseits´ zum Thema. Ich fragte ihn, was er glaubte, zu wie viel Prozent die allgemein anerkannten Abseitsfehlentscheidungen – und ich bat ihn, diese Wortwahl genau zu beachten, es ginge nur um die Fehlentscheidungen bei Abseitssituationen, und zwar um jene, bei denen sich alle Beteiligten einig waren, dass es sich um welche handelte und nicht etwa jene mit einzubeziehen, welche ich persönlich hinzufügen würde und welche aus reiner Bösartigkeit so gepfiffen werden und als ´äußerst knapp aber wohl richtig´ beurteilt werden – zu Ungunsten der Stürmer ausfielen, auch, weil ich fürchtete, dass er nur eine Antwort geben könnte und von der Problematik vermutlich nichts wusste. Was, glaubt ihr, hat er gesagt?“
„Vermutlich 50%, alles ausgeglichen, mal so, mal so falsch, oder?“
„Gut gedacht, ja. Genau dies war die Antwort, welche ich ebenfalls antizipierte. Es gab kein Problem mit dem Abseits aber wenn, dann keines, welches den Angreifern zum Nachteil gereichte? Das musste man doch annehmen? Aber, zu meinem Erstaunen, antwortete er ´ich denke, dass etwa 80% zu Ungunsten der Stürmer ausfielen´. Da war ich einen Moment sprachlos. Dann meinte ich, gerade wieder halbwegs gefasst, ´obwohl ich denke, dass es über 90% sind welche zu Ungunsten der Angreifer ausfallen, würde mich interessieren, warum Sie dies hinnehmen würden, warum die Stürmer also, auch aus Ihrer Sicht, ständig benachteiligt werden? Darauf erhielt ich die kurioseste aller Antworten, auf welche man tatsächlich nicht kommen kann: ´wir Schiedsrichter, wenn wir denn als Assistenten fungieren, mit der Hauptaufgabe über abseits oder nicht zu befinden, wir sehen nicht abseits, wir hören abseits. Und der Schall ist langsamer als das Licht.“
Die durchaus begabten Kinder – auch einige schon mit den Grundgesetzen der Physik vertraut – staunten nun ebenfalls nicht schlecht und hielten auf der Schwelle inne: „Was ist das denn für ein Quatsch? Aber sie meinen wohl: der Assistent schaut ständig nur auf die Angreifer, wo diese sich befinden im Verhältnis zu den Abwehrspielern, und wenn der Pass gespielt wird, hören sie dieses Geräusch. Bis das Geräusch ans Ohr dringt vergeht eine kurze Zeitspanne – Moment, ich rechne kurz…“, ok, der Älteste hatte das Wort, „… es könnten vielleicht 40 Meter sein, der Abstand zwischen Passgeber und Assistent, das macht, bei 330 Metern in einer Sekunde, also eine Zeitspanne von 1.2 Zehntelsekunden aus. In dieser Zeitspanne könnte sich der Stürmer etwa, bei einer guten Grundgeschwindigkeit von 11 Sekunden auf 100 Meter um einen guten Meter fortbewegt haben. Da möglicherweise der Stürmer und der Abwehrspieler sich gegenläufig bewegen – der Abwehrspieler läuft vom Tor weg, der Angreifer auf das Tor zu – könnte es sich um einen akkumulierten Irrtum von zwei Metern handeln.“
„Also für mich könntest du heute schon Abi machen, in Mathe und Physik, die Berechnung ist richtig, aber wie schaut es mit dem Realitätssinn aus?“
„Das ist absoluter Blödsinn. Der Assistent würde, so ist zu vermuten, so wie jeder andere Zuschauer auch, das Spielgeschehen beobachten, auch, weil er es mitbekommen muss, wer überhaupt den Ball spielt. Ein erhörtes Geräusch wäre doch unsinnig und könnte ganz anders ausgelöst sein, beispielsweise von einem Torschuss des Gegners. Also sich darauf zu berufen würde garantiert zu nichts führen und ganz sicher die Entscheidungen nicht verbessern. Abgesehen davon, dass ein auf von mir kalkulierter Fehler von zwei Metern weitaus jenen Bereich überschreiten würde, wo man von ´enger Situation´ sprechen müsste. Das heißt: falls es so wäre, wie der Mann behauptet hat, dann wäre die Fahne noch viel häufiger oben und würden auch klare Nicht-Abseitssituationen permanent falsch beurteilt werden, von jedem, der es nicht mit dem Assistenten hält sondern der, aus ursprünglicher, jedoch arg getrübter, Freude an dem Spiel das Geschehen beobachten würde. Falls sie jedoch, wie es scheint, aus Rechtfertigungsgründen für die vielen Fehler bei Abseits — wie von dem Mann ja eingestanden – so etwas tatsächlich lehrten bei der Ausbildung der Schiedsrichter, dann wundert mich gar nichts mehr, wie es auf Erden zuging: sie schauten aufs Spiel, so wie jeder andere auch, und immer, wenn es eng war, nehmen sie die Fahne noch. Nicht nur immer, wenn gegen Tor, befinden sie sich auf der sicheren Seite, sondern auch, auf gezielte Nachfrage, befinden sie sich physikalisch auf der sicheren Seite, von der Schiedsrichterkommission darauf gebracht: Licht schneller als Schall. Fahne hoch, die Physik ist schuld, nicht etwa du.“
Auch für die Kommentatoren blieb die vorgegaukelte Welt heil. Einmal ging die Fahne hoch, die Zeitlupe zeigte auf „zurecht“, dann kommentiert man mit „gutes Auge, der Mann, Kompliment“. Beim nächsten Mal ging die Fahne hoch, zu Unrecht, wie die Zeitlupe zeigte. Der Kommentar dann: „Ja, war äußerst eng, schwer zu sehen, kein Vorwurf an den Mann an der Linie.“ So war für alles gesorgt.
Dies war das perfekte Fazit. Abseits ist praktisch immer, wenn es knapp ist. Und knapp ist es ebenfalls immer. Recht hatte auch jeder. Hauptsache kein Tor. Es sei denn, man befände sich in Putoia.