Wanja spricht mit seinen Kindern, heute über…
die gelungene Aktion
„Wann würden wir hier eine Aktion als ´gelungen´ bezeichnen?“, fragte Wanja in die sich heute wieder versammelte Runde. Eine verblüffende Frage, so schien es. Die Antwort darauf lag doch auf der Hand? Was gäbe es darüber nachzudenken, am Ende gar zu philosophieren? Es wagte einer der Jungen den schlichten Vorstoß: „Ich spiele einen Pass, ein Mitspieler nimmt den Ball an. Rundherum gelungen, oder?“
„Ja, da ist eine Menge Wahres dran“, stimmte Wanja zu. „Wenn ich die Frage aufwerfe, dann ahnt ihr sicher, dass mehr dahintersteckt? Habt ihr eine weitere Idee?“ Keiner wagte einen weiteren Vorstoß. Sie kannten ihren Vater lange genug. Es stellte sich meist heraus, dass er sich Gedanken gemacht hatte und dass es interessant würde. „Also, heraus mit der Sprache?“ wurde er aufgefordert.
„Nun, mir selbst fiel das Problem schon als Kind auf, als ich ins Stadion ging. Und zwar das folgende: wenn die Zuschauer ihrer Freude über eine gelungene Aktion freien Lauf lassen, dann klatschen sie Beifall. Anders geht das nun mal nicht, es sei denn, dass man bei einem sehr kleinen Spiel mit sehr wenigen Zuschauern ist und man einen Zuruf hören könnte. Aber davon soll hier nicht die Rede sein. Die Zuschauer klatschen also und, so kurios das klingen mag, aber bereits mit neun Jahren fragte ich mich, woher die Spieler wissen sollten, wer oder was damit gemeint war? Nun würde natürlich einfach nur Beifall so oder so nicht schaden und würde als positives Feedback gewertet, hätte die Spieler motiviert und, so schlicht es auch klingen mag, so lautete mein Fazit dennoch: vermutlich würde sich in erster Linie die Heimmannschaft angesprochen, angefeuert fühlen? Hierbei durchaus als Problem anzusehen: wenn man nun tatsächlich, sogar als Heimzuschauer, eine Aktion der Gäste gut findet, wie würde man deutlich machen, dass einem genau diese Aktion gefallen hat?
Um es am einfachen Beispiel zu erläutern: die Heimmannschaft greift an, der Angriff wird gefährlich, der Ball kommt in den Strafraum, es erfolgt ein Torabschluss, sogar ein guter und gefährlicher, aber der Torwart pariert, beispielsweise sogar, für den guten Schuss notwendig, mit einer exzellenten Parade. Nun brandet Beifall auf. Wie wäre dieser aufzufassen?“
„Also hier erlebe ich das täglich, in jedem Spiel und das sogar vielfach. Es ist kein Problem. Die Leute klatschen, weil sie den Fußball lieben, weil es ein schönes Spiel ist, weil jeder auf dem Platz seinen Beitrag leistet und weil dies die Aktionen sind, die wir alle sehen wollen. Es macht den Spielern Spaß, weil sie nicht nur am Spielen gehindert werden, wie es wohl auf der Erde war, zugleich von Regeln und Schiedsrichtern geschützt, welche unsportliches Verhalten nicht zulassen, so dass sehr häufig Aktionen insgesamt ´gelingen´, selbst wenn keineswegs eine jede davon in einem Torerfolg aufgeht, was natürlich so auch auf keinen Fall gefragt wäre. Also: wenn es Beifall gibt, dann drückt dieser die Anerkennung für die Leistung aller Spieler aus, ob nun des Gegners oder der eigenen Mannschaft. Es hat den Leuten gefallen, darum klatschen sie. So einfach ist das. Was willst du da für ein Problem draus konstruieren?“
Diese kluge Antwort brachte Wanja jedoch keineswegs aus dem Tritt. Er erlebte den Fußball hier selbst so, es war aufgegangen, sein Plan, die Planetengründung trug ihre Früchte und kein Wunder also, dass er eine solche erhielt. Häufig genug hatte er aber deutlich gemacht, dass es ihm darum ginge, dass die Kinder immer wieder mal an diese Wurzeln erinnert werden und zugleich diesen Unterschied zwischen dem irdischen Fußball und dem Fußball hier, welcher auf die Geschichte zurückgeht, erkennen und anerkennen und zu schätzen wissen. Das Schulfach „Heimatkunde“ wurde ergänzt durch das Fach „Die Geschichte des Fußballs auf der Erde“. Beide waren eng miteinander verzahnt.
„Auf der Erde war es nun mal so, dass das einzige Spielziel, von den Medien so vorgegeben und bedauerlicherweise von niemandem im Anschluss mehr in Frage gestellt geschweige denn unterwandert — indem zu Beispiel alternative Ziele ausgerufen wurden, von Einzelkämpfern außer mir selbst –, das Gewinnen war. Wie ein Sieg zustande kam? Laut Berichterstattung, und somit von den dies Äußernden zur Realität gemacht, fragte keiner mehr danach, wie ein Sieg zustande gekommen wäre. Die Zeitspanne, in welcher die Nachfragen angeblich erloschen wären, wurde immer weiter verkürzt. Zunächst hieß es vielleicht, in einem Jahr fragt keiner mehr, später hieß es, in ein paar Wochen, dann hieß es, in einigen Tagen fragt keiner mehr danach und ganz am Ende hieß es, schon morgen fragt keiner mehr danach. Der Einzige, der eine Frage zugelassen hätte, waren die Medien selbst – und sie taten es einfach nicht. Sieg war Sieg, fertig. So wurde es zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Morgen fragt keiner mehr, ich bin derjenige, welcher Fragen stellt, ich stelle sie nicht, also stimmt es, dass morgen keiner mehr fragt. Selbst wenn ich dies heute nicht zum ersten Mal erzähle: Wiederholungen der Aussagen tragen dazu bei, dass sich das Wissen und Verständnis setzt. Eines Tages geht es in Fleisch und Blut über. Die Zusammenhänge werden logischer, ein jedes Puzzleteilchen hat seine Nachbarn gefunden, es ergibt sich aus Einzelteilen ein vollständiges Bild.“
Die Pausen waren nicht nur, damit sich solche teils banalen oder sich wiederholenden Erkenntnisse setzen sollten, es waren nicht immer nur Denkpausen. Es waren gelegentlich auch Trinkpausen. Denn nach solch langen Wortschwallen musste man sich die dabei austrocknende Zunge gelegentlich befeuchten. Es gab aber auch keinen Widerspruch, man wartete geduldig auf eine Fortsetzung.
„Der Sieg war das einzig ausgerufene und anerkannte Ziel. Eine gute Leistung im Spiel, eine einzige Fehlentscheidung, ein Innenpfostenschuss hier und der Ball nicht drin, ein abgefälschter Schuss an den Innenpfostenschuss dort und der Ball trudelt rein, welcher mit dem 1:0 den Sieger bestimmte? Alles keine Kriterien. Es gab kein Mitgefühl für den Verlierer, keine Anerkennung für diesen, kein Dank an ihn für ein gutes, faires unterhaltsames, spannendes Spiel, nur ein ´ihr wart schlecht, ihr habt verloren, egal auf welche Art´. Die Folgen sind einfach: auch die Zuschauer hatten jegliches Interesse daran verloren, einem Sieger zu applaudieren, wenn es nicht die eigene Mannschaft war. Psychologische Kriegsführung wurde auch von den Rängen aus betrieben. Fairplay war das dem Spiel weitest entfernte Phänomen. Ein Elfmeter für den Gegner? Egal, wie berechtigt er war: ein Pfeifkonzert begleitete den Schützen. Es entfiel, mal einfach eben so, weil etwas gut war, Beifall zu klatschen. Vor allem nicht dem Gegner. Das kam gar nicht in Frage. Insofern stellte sich sehr wohl die Frage, welche Aktion da gerade beklatscht wurde.“
Hier durfte man tatsächlich kurz mal nachdenken. Man konnte sich aber doch hineindenken in einen beliebigen Zuschauer: er hatte sich für diesen Verein entschieden, das war sein Verein. Sein Interesse war von den Medien manipuliert und vorgegeben in dem Sinne, dass nur ein Sieg zählt. Also war seine Interessenlage höchst einseitig und sein Blick bereits vorab verklärt. Ebenso hatten die vielen Fehlentscheidungen, welche es definitiv auch gegen seine Mannschaft gegeben hatte dazu beigetragen, dass er nicht objektiv sein konnte. Mal so und mal so falsch: das gleicht sich gefühlsmäßig nicht aus. Er fühlt sich benachteiligt. Also pfeift er, was das Zeug hält, gegen den Gegner und verteilt, wenn überhaupt je Beifall, lediglich welchen an seine Mannschaft. Und möchte dies im Grunde gerne deutlich machen.
„Als Kind habe ich es mir zum Scherz gemacht, indem ich, als sehr kurzzeitiger ´Hertha-_Fan´ auftrat, etwa vom Alter von acht bis zum Alter von zwölf Jahren, und meinen Beifall stets begleitete von den Worten ´der Schuss ist gemeint, nicht die Parade´, sofern sich Hertha in der Angriffsposition befand und mit ´die Parade ist gemeint, nicht der Schuss´, wenn Hertha die einen Angriff erfolgreich abwehrende Mannschaft war. Es war damals für mich nicht zu erahnen, dass ich vermutlich der Einzige im Stadion war, der sich überhaupt mit solchen Gedanken beschäftigte, insofern bereits damals sich schon etwas anbahnte in die Richtung, welche ich später eingeschlagen habe und welche hier auf Putoia ihre Erfüllung fand.“
„Aber eigentlich, liebe Kinder, war dies nur eine Einleitung, um euch für das Thema zu sensibilisieren. Es ist durchaus nicht trivial, was eine gelungene Aktion ist und ebenso nicht, was ein Beifall für eine solche bedeutet, selbst wenn es sich hier auf Putoia, wie richtig von euch erkannt, um eine Selbstverständlichkeit handelt und es kein Problem damit gibt: Beifall ist Beifall, es hat den Zuschauern gefallen. Egal, welcher Teil der Aktion da im Vordergrund stand. Nur gab es halt auch mal andere Zeiten. Aber, wie gesagt, es war nur als Einführung gedacht. Das wahre Problem, welches ich heute ansprechen wollte, ist jenes: wie sieht eine gelungene Aktion in den Augen eines Sportkommentatoren aus, welche er, mit seinem Einfallsreichtum und seiner Wortgewandtheit an das ihm gebannt lauschende Publikum vermittelt?“
„So, wie du es hier ausdrückst, kann es sich nur um Sarkasmus handeln: es gab weder gebannt lauschende Zuschauer noch Einfallsreichtum noch Wortgewandtheit, geschweige denn, eine gelungene Aktion. Ich habe dich durchschaut, möchte aber deinen Redefluss nicht bremsen. Sprich weiter.“
„Ja, richtig und danke. Es gab sie aber auch nicht schon immer nicht. Es entwickelte sich in eine Richtung, und zwar mehr und mehr in die genannte. Es gab immer weniger gelungene Aktionen, welche uns als Zuschauer genannt wurden, welche der gerade akut handelnde Sprecher als eine solche erkannt hatte und ihr somit den Zuspruch gab. Beispiele gibt es unendlich viele, sie wurden täglich mehr. Insofern müsste ich es allgemein halten und eine beliebige, aber sich in dieser oder jener Art ständig wiederholende Szene beschreiben, welche das Potenzial dafür hätte – und welche laut Sprecher das Potenzial nicht abgerufen hat, die handelnden Personen, also die Spieler, einbeziehend.“
„Ok, nimm eine derartige beliebige Szene und beschreibe sie so, wie es ein Kommentator getan hätte.“
„Ok. Also sagen wir, der Ball rollt. Er ist im Spiel. Es ist keine der so zahlreichen und oftmals anhaltenden Spielunterbrechungen. Nun spielt Spieler A zu Spieler B. Nehmen wir dazu an, dass beide Spieler aus der Mannschaft kommen, welche 0:1 zurückliegt. Falls der Sprecher durch Zufall mal sein Augenmerk auf Spielgeschehen hätte — was ziemlich selten der Fall war, denn falls man sich seinen Worten anvertraut hätte, war es ein ziemlich ereignisarmes Spiel, insofern keinerlei Notwendigkeit, bestand auf einzelne Szenen einzugehen –, dann hätte er diesen Pass kommentiert mit den Worten ´kein Raumgewinn´ oder ´sie kommen nicht in die gefährliche Zone´. Was würdet ihr dazu sagen?“
„Ein Pass erreicht den Mitspieler, vielleicht entwickelt sich etwas daraus. Es ist eine Allerweltsszene. Kommentieren oder sein lassen, die Namen der Spieler nennen, vielleicht in die Stimme etwas legen, welches ein kleine, sich anbahnende Spannung signalisiert, demnächst könnte sich was ergeben. Der genannte Kommentar ist ungeeignet und, wenn überhaupt etwas, negativ.“
„Ja, aus dir spricht der geborene Sportreporter. Spielst du nicht mit dem Gedanken? Aber es fehlt dennoch etwas an deiner brillanten Beobachtung und Beschreibung.“
„Nämlich?“
„Es fehlt, dass sich die Erkenntnis des Mangels an Raumgewinn lediglich aus dem Zwischenstand ableitete. Hätte also die führende Mannschaft das exakt gleiche Zuspiel getätigt, dann hätte der Kommentar lauten können ´sie machen nicht den Eindruck, unbedingt aufs zweite Tor aus zu sein´. Das wäre zwar noch immer negativ, aber hätte die Aktion dennoch sozusagen anerkannt, gutgeheißen. Sie halten den Ball, ohne auf ein Tor aus zu sein, so in etwa.“
„Ja, das hört man heraus. Aber wie geht es nun weiter?“
„Ok, ich spinne die Szene mal weiter. Dieser Pass kommt an, der nächste Pass kommt an, sie befinden sich auf dem Flügel. Kein rechter Platz für die Flanke, ein Pass zurück. Nun der Kommentar dazu: ´sie trauen sich nicht ins Eins gegen Eins. So wird das nichts.´ Ein alternativer fortgesetzter Angriff könnte mit ein paar schnellen Pässen durch die Mitte gehen, aber nicht zum Abschluss kommen. Der Kommentar dann: ´sie müssten es über außen probieren, in der Mitte ist alles dicht´. Sollte der Angriff aber über außen weiter gehen und tatsächlich eine Flanke in den Strafraum kommen, diese jedoch – weder verwunderlich noch eine Seltenheit – von einem der größeren und in Überzahl befindlichen, dazu mit gewissen Sonderrechten ausgestatteten Verteidigern oder dem Torwart abgefangen werden, dann bekäme man diesen Kommentar zu hören: ´die Flanken sind zu ungenau´. Sollte der Angriff durch die Mitte weiter gehen, ein Steilpass auf den durchstartenden Stürmer erfolgen, dieser aber entweder den halben Schritt vorne sein, so dass die Fahne hochgeht oder aber er ist nicht den halben Schritt vorne, dafür aber der Verteidiger mit ihm auf Augenhöhe und insofern als erster am Ball, dann ´fehlt die letzte Präzision im Zuspiel´. Egal also, aus welchem Grund der Angriff scheitert: er wird mit negativen Attributen belegt, welche vom Experten am Mikrofon schonungslos aufzudecken sind.“
Hier war tatsächlich die kurze Denkpause angebracht, welche Wanja dennoch nutzte, um den Mund zu befeuchten mit einem Schluck Wasser.
„Falls der Gegner eine dieser gleich verlaufenden Aktionen durchführen würde, der einzige Unterschied lediglich der Spielstand wäre, so würde der Kommentar zwar nicht etwa positiv ausfallen, aber trotzdem etwas anders lauten. In etwa vielleicht so: ´den bekommen sie nicht richtig in den Griff´, dabei den Außenspieler meinend, welcher sich den Raum zum Flanken verschafft hatte, allerdings keinen Abnehmer fand. Oder ´da lassen sie den schon wieder laufen´, wenn der Steilpass erfolgt, welcher aber nicht ankam. Auch sehr beliebt wäre ´da lassen sie ihm zu viel Raum, aber er nutzt ihn nicht´, wenn das Eins gegen Eins abgebrochen wurde.“
„Man schließt daraus: der Kommentar war nicht auf die Aktion zugeschnitten, sondern auf den Spielstand?“
„Gut erkannt. Nun muss man natürlich nicht glauben, was ich sage. Ein jeder Sprecher müsste sich auf die konkrete Aktion berufen und würde dann Stellung nehmen und sich rechtfertigen: ´für die konkrete Szene stimmte der Kommentar. Schau doch hin!´.
Da ich mich auf diese Reaktion vorbereiten musste und damals mich langjährig mit der Hoffnung trug, doch eines Tages Gehör zu finden, dachte ich mir ein Szenario aus, mit welchem sich die ach so kompetenten und allwissenden Sprecher auf die Probe gestellt hätte. Das war ein durchaus spannendes Gedankenexperiment.“
„Was hast du dir denn nun ausgedacht, Papa?“ fragte einer der allesamt neugierigen Jungen.“
„Mein Plan war so: es findet ein Bundesligaspieltag statt. Ein paar Kommentatoren werden für diesen Zeitraum von den Geschehnissen ausgeschlossen, sie bekommen keinen Zugang, weder zu Zwischenständen noch zu Spielszenen.“
„Ja, und dann?“
„Nach den Spielen wird blitzschnell zusammengeschnitten. Die Spiele bleiben schon für die meiste Zeit unverändert, also fast 90 Minuten lang.“
„Ah, ich verstehe“, fiel ihm einer der Jungen ins Wort, „man schneidet nur die Tore und den danach erfolgenden Anstoß raus. Eine Art Torstop Spiel, bei welchem man erraten soll, ob der Ball nun drin war oder nicht. Sie sehen die Szene bis zum Abschluss, dann aber nicht, ob das Spiel mit Anstoß oder Abstoß weiter geht. Man sieht fast alles – nur die Tore nicht und die wenigen Sekunden nach der Wiederaufnahme des Spiels.“
„Sehr gut erraten, ja, so dachte ich es mir. Es gibt natürlich winzige Umsetzungsprobleme, wie ihr euch vorstellen könnt. Also beispielsweise ein Schuss wird vom Torhüter abgewehrt, die anschließende Ecke bringt erneut einen Torabschluss. Wie sollte man nun verheimlichen, dass der Schuss davor abgewehrt wurde? Man möge es also bei dem Begriff ´Gedankenexperiment´ belassen, welchem zugleich, falls als richtiges Experiment durchgeführt, die Teilnehmer fehlen würden, da es nämlich von Hause aus keiner der Sprecher wagen würde und sich nicht darauf einlassen würde. Dennoch spann ich den Gedanken immer weiter und fand es faszinierend. Wenn man diese Idee einmal hat, dann wird man sie nicht mehr los und denkt fast in jeder Szene und bei jedem Kommentar, den man hört, daran. Der Gedanke, der sich festsetzt, ist dieser: ´das sagst du nur, weil es 1:0 steht. Würde es 0:1 stehen, kann ich mir vorstellen, was du dann sagen würdest. Wenn du den Spielstand gar nicht wüsstest, würde es nur noch ein Gestammel werden, weil man die die Grundlage, den festen Boden, auf welchem du dich zu wähnen scheinst unter den Füßen wegziehen würdest. Du würdest hilflos wimmernd auf dem Boden liegen und kein Wort mehr herausbringen. Die ganze Schlauheit, mit welcher du uns hier zuballerst hast du nur der Kenntnis des Ergebnisses zu verdanken. Ohne dieses bist du ein hilfloses Nichts und ein Niemand.´“
So lebhaft und beinahe boshaft kannten die Kinder ihren Vater bisher kaum. Da war offensichtlich eine empfindliche Stelle getroffen. „Papa, reiß dich zusammen, halt dich zurück, das hört sich nicht schön an, das ist nicht nett von dir.“
Wanja hatte sich auch einen kurzen Moment später schon wieder gefasst.
„Ok, ihr habt ja recht. Wichtig war nur, dass man den Gedanken nicht mehr los wird und bei jedem Kommentar denkt, dass der Sprecher den eh nur aufgrund des Spielstandes so sagt. Nur wäre dies so oder so noch nicht einmal das allergrößte Ärgernis…“
„…welches da wäre…?“
„… dass die Sprecher es nicht nur je nach Spielstand orientierten und ihre Sätze sich im ständigen Austausch befanden. Ein weiteres wäre natürlich die Lustlosigkeit und die Unfähigkeit, vor so viel Klugheit jemals einen Zuschauer mitzureißen, zu fesseln, mit hineinzuziehen ins Geschehen, selbst einmal überrascht zu sein, aus dem Sessel zu gehen, Unterhaltung, Spannung, Begeisterung auszustrahlen, sich dem auszusetzen, mal etwas nicht gewusst oder vorhergesehen zu haben, nein, das alles war es nicht und diesen Teil besprechen wir eh noch einmal an anderer Stelle.“
„Also, spann uns nicht länger auf die Folter. Was war es, was dich am meisten gestört hat, was war das größte Ärgernis?“
„Ist ja gut. Ich komme ja fast schon zum Punkt. Die Kommentatoren hatten die ganze Zeit gute Ratschläge zur Hand. Diese betrafen, je nach Spielstand, in aller Regel die Mannschaft, welche zurücklag, wobei es bei 0:0 sich im Grunde beide hätten anhören müssen, falls sie denn hätten zuhören können oder gar müssen. So lange es 0:0 stand waren beide betroffen, sobald eine Mannschaft mit 1:0 führte, war nur noch die andere, zurückliegende Mannschaft betroffen. Das hieß aber noch lange nicht, dass die führende Mannschaft in der Folge gut war. Es hieß nur, dass sich ab dem 1:0 nur noch eine Mannschaft im Kreuzfeuer seiner Kritik befand, während es zuvor beide Mannschaften taten. Ab dem 1:1 – falls es denn jemals so weit kam – erfuhr man dann, dass ´beide nicht sattelfest in der Hintermannschaft sind´, was keineswegs in ´positiv´ überging. Wobei man sich als Zuschauer in diesem Moment durchaus fragen durfte, ob denn ausgerechnet ´sattelfest´ das zu sein hätte, was man sich wünschte? Wenn doch bloß endlich beide sattelfest wären und überhaupt nie mehr ein Tor fiele? Nein, klingt nicht verlockend.
Ich schweife wieder. Tut mir leid.
Die guten Ratschläge nannte ich, die eine hohe Vielfalt aufwiesen. Und, nicht vergessen, wir befinden uns beim Thema ´die gelungene Aktion´, aber das sage ich mehr als Erinnerung an mich selbst. Also: ein guter Ratschlage konnte heißen – und jetzt nehmt euch Papier und Bleistift zur Hand und schreibt mit, wie in der Schule, denn es wird eine lange Liste –,
- ´mehr über außen´
- ´mal das Eins gegen Eins ausprobieren´
- ´da muss es schneller gehen´
- ´da übersieht er den besser postierten…´
- ´das hätte er alleine probieren müssen´
- ´hier wäre das Abspiel die bessere Option gewesen´
- ´zu sehr durch die Mitte´
- ´Flanken sind bei den hoch gewachsenen Innenverteidigern nicht das richtige Mittel, das müssen sie irgendwann mal merken´
- ´sie müssten es mal aus der Distanz probieren´
- ´das war eine Art Verzweiflungsschuss, da müssten sie probieren, näher ans Tor zu kommen´
- ´da bietet sich keiner an´
- ´da ist keiner mitgelaufen´
- ´da müssten die Mitspieler helfen´
- ´überhasteter Abschluss´
- ´da fehlt die letzte Präzision´
- ´die Flanken sind zu ungenau´
- ´sie versuchen es immer wieder mit langen Bällen – ein untaugliches Mittel´
- ´mit den kurzen Pässen, dem klein-klein, kommen sie nicht durch´
- ´da fehlt die zündende Idee´
- ´nur Sicherheitspässe, kein Risiko´
- ´erneuter technischer Fehler´
- ´Fehler im Spielaufbau, das kostet Kraft´
- ´unnötiger Ballverlust´
- ´zu wenig Bewegung im Spiel ohne Ball´
- ´letzten Endes ist es immer wieder die Chancenverwertung. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Spielzeit´
Habt ihr alles?“
„Ja, haben wir. Das ist eine Menge…“
„…aber noch lange nicht alles. Nur möchte ich es damit mal bewenden lassen. Wichtig ist nun, dass sich diese ganzen tuten Ratschläge nach Belieben gegeneinander austauschen ließen, und, wie man bei vielen feststellte, einander direkt wiedersprechen. Also der Tipp, über außen zu spielen und im Anschluss jener, dass es mit Flanken nicht klappen würde bei den hoch gewachsenen Innenverteidigern, aber diese beiden Tipps konnten sehr wohl im gleichen Spiel abgesondert werden. Aber wir sind damit noch lange nicht durch.“
„Du meinst sicher: was passiert nun, wenn sie doch mal einen dieser so klugen Tipps beherzigt hätten? Haben sie das nicht ab und an, auch ohne ihn gehört zu haben? Also ich meine:, sie haben schnell gespielt, sie haben sich alle bewegt, alle Mitspieler sich angeboten, sind mitgelaufen, haben dem Mitspieler geholfen, sie haben das Eins gegen Eins gesucht, gefunden und gewonnen, sie haben eine Flanke geschlagen, welcher nicht die Präzision fehlte, die Flanke fand den Kopf eines Mitspielers, sie sind nicht an der mangelnden Chancenverwertung gescheitert, welche ihnen schon so lange im Wege stand. Der Ball war drin. Alles richtig gemacht, das müsste er doch jetzt sagen?“
„Ja, das müsste man denken. Das würde einem der gesunde Menschenverstand vorschlagen, zumal ich mir kaum vorstellen kann, dass man Freude daran hat, dem Zuschauer alles, aber auch wirklich alles restlos madig zu machen und nun sich einfach mal freuen zu dürfen. Er tut es, er freut sich, er freut sich, dass seine Ratschläge so gut Anklang fanden – selbst wenn sie durch ihre Austauschbarkeit zum Gelaber verkommen sind und jeglichen Gehalt längt verloren haben, aber er lebt ohnehin in einer Illusion – und nun alles aufgegangen ist. Nichts mehr zu mäkeln. So könnte man meinen. Was glaubt ihr nun, was er tat?“
„Was denn, er machte das Abwehrverhalten madig?“
„Zwar richtig, aber wenn das schon alles wäre, müsste man sagen. Die Abwehr bekam nämlich ihr Fett nun wesentlich übler weg als es zuvor die Angreifer bekommen hatten. Hier ist direkt von ´Fehlerkette´ die Rede und nicht etwa von einem einzelnen. Die Fehlerkette nennt er auch nur eine solche, damit er bis zur Wiederholung der Szene etwas Zeit gewinnt und bis dahin schlüsselfertig jede einzelne Verteidigeraktion, welche in Frage kommt, in der Luft zerreißt. Dabei ist das Verhunzen der deutschen Sprache nicht einmal das Schlimmste daran, wenn es hieß ´zu halbherzig´, weil man halb herzig nämlich garantiert nicht steigern kann. Eine Hälfte ist eine Hälfte, wenn dann wäre die Steigerung ein viertelherzig oder achtelherzig oder so, aber das spielt kaum eine Rolle. Der ´kollektive Tiefschlaf´, in welchem sich sämtliche Abwehrspieler angeblich befanden dient als Rundumschlag und bringt zwar keinerlei Erkenntnisgewinn für den Zuschauer, zumal ´Tiefschlaf´ so oder so eine Hyperbel wäre, aber die ´Einzelkritik´ hilft einem auch nicht viel weiter, wenn es heißt ´zu weit weg vom Gegenspieler´ oder ´das geht viel zu einfach´, wenn das Dribbling erfolgreich war, bis hin zu ´drei Gegenspieler – und alle schauen nur zu´ oder, falls ein Spieler den Ball erfolgreich am Gegenspieler vorbeibrachte, so hätte dieser Gegenspieler nur ´freundlichen Geleitschutz´ gegeben. Auch das ´den hat gar keiner auf dem Zettel´ oder ´keiner geht richtig hin´ falls nicht ´den greift gar keiner an´ und ´so viel Platz darf man dem nicht lassen, das müssten sie doch wissen?´ und so weiter. Was auch immer das war: es übertraf an Fehlerhaftigkeit und Hilflosigkeit weitaus jenes, was die bis dato so chancenlosen Angreifer auf diesem Gebiet der Fehlleistungen so alles geboten hatten.“
„Jetzt weiß ich, was du meinst: eine gelungene Aktion? Die gab es nicht. Nicht aus der Sicht eines Kommentators. Entweder haben die Angreifer etwas falsch gemacht, oder, falls es zum Torerfolg kam waren es die Abwehrspieler. Die Abwehrspieler haben aber im Falle des Gegentores die schlimmeren Fehler begangen.“
„So ist es. Man könnte nur noch die letzte Frage dazu stellen: warum oder wie kam es dazu? Wenn man das noch überdenkt und dahinterkommt, fühlt man sich besser. Nicht etwa, dass die Kommentare im Anschluss erträglich würden. Aber, allgemein gesprochen, hat jeder Mensch eine Grundlage für sein Handeln und somit auch eine gewisse Berechtigung, es so zu tun. Es zu verstehen ist ab und an eine schwierige Aufgabe, aber wenn man es getan hat, ist man oft den entscheidenden Schritt weiter. Auch in dem Sinne, gegen zu steuern, etwas anders zu machen. Und wenn man es zunächst nur selbst täte, aufgrund des angesammelten Verständnisses für andere Menschen. Warum taten sie es?“
„Ich könnte mir vorstellen, dass – wie du ja schon einmal sagtest – sie aus dem Land des Weltmeisters kommen und man dort sich einbildet, eine etwas höhere Sichtposition einnehmen zu müssen. Also irgendwie das noch besser beurteilen zu können als andere.“
„Ja, da ist durchaus etwas dran. Das ist ein Aspekt, das stimmt. Noch einer?“
„So weit ich verstehe, wimmelte das Land nur so von selbst ernannten Experten. Ein Urteil wie ´das war aber toll gemacht´ wurde mit Laienhaftigkeit gleichgesetzt. Toll finden kann ja jeder. Jeder, der keine Ahnung hat. Der wahre Experte sieht also tiefer und weiter und hat ein besseres und höheres Verständnis.“
„Ja, auch sehr richtig, Nur schließt sich da noch etwas an. Was nämlich?“
„Sie überboten sich in Expertise. Hätte einer angefangen zu loben, hätte der hinter ihm Sitzende gesagt: ´was labert der da? Erkennt er die ganzen Fehler nicht? Jetzt lass mich mal ran!´ Der Nachfolger scharrt mit den Hufen und wartet auf einen ´Fehler´ des Vordermannes. Dieser Fehler wäre ein Lob.“
„All dies sehr richtig. Aber es gibt eines, was konkret auf die Situationen bezogen ist. Wisst ihr das?“
Kollektives Kopfschütteln, alles andere als Tiefschlaf, geschweige denn im Kollektiv.
„Der Sprecher stützte sich im Grunde auf ein Wahrscheinlichkeitsprinzip. Dieses lautet: unwahrscheinliche Dinge passieren selten, noch unwahrscheinlichere Dinge passieren noch seltener. Ein Tor wird nicht fallen, nicht in diesem Angriff. Da bin ich ziemlich sicher. Er verlässt sich auf die gefühlt gigantisch große Chance, dass es diesmal nicht gelingt. Die Chance ist zu klein, da wird doch nicht? Der Angriff läuft, er kann sich bereits während des Angriffs wagen, zu erklären, was jemand hätte besser machen sollen, müssen oder können. Das Ergebnis – kein Tor – wird ihn schon bestätigen. Er sammelt permanent Expertenpunkte. Jeder Angriff, welcher neuerlich kein Tor ergibt, steigert seine Punktzahl. So baut er in jedem Spiel sein Polster auf. `Wieder kein Tor – schon wieder hatte ich recht, dass er hätte abspielen oder selber schießen müssen, je nachdem, womit der diesmal gescheitert ist´.
Nur wird dieses Prinzip außer Kraft gesetzt, wenn doch ein Angriff mal, ebenfalls nach Gesetzen von Statistik und Wahrscheinlichkeiten, zum Erfolg führt. Es ist bei jedem weiteren Versuch nur eine kleine Chance, aber, wie es bei Murphy und seinem law schon gut ausgedrückt ist, wird auch die kleinste Wahrscheinlichkeit irgendwann eintreten, wenn man es nur lange genug probiert. Ein Spiel ist oftmals zwar nicht lange genug, deshalb endeten ja auch so viele Spiele mit 0:0 oder 1:0, aber ab und an – und letztendlich eben doch nicht so selten und auch ein wenig abhängig von den Spielstärkeverhältnissen auf dem Platz – gelang es halt doch. Nun hätte seine Dauerprognose ´das wird so nichts´ voll daneben gelegen. Maximal eigentlich, denn, so erfuhren wir noch während des Angriffs, würde es so und diesmal wieder nicht klappen und doch passierte es. Anstatt sich nun einzubuddeln oder zumindest alle Expertenpunkte, welche er in mühsamer Kleinarbeit der Miesmacherei angelegt hatte, auf einen Schlag mit Zins und Zinseszins zurückzugeben, dreht er nun den Spieß einfach um. Ein winzig kleiner Kniff der Psychologie, eine Deutung der Arbeit und Funktionsweise unseres Gehirns, und schon hat man es: es war die Abwehr schuld, welche die gesamte Prognose zum Einsturz brachte.
Da dieses Ereignis zugleich spektakulärer ist und eine größere Auswirkung auf die zugeteilten Expertenpunkte hätte, zugleich ihn so sehr aus seinem Einheitsblabla rausgebracht hat, bekommt es die Abwehr nun in zigfacher Ausfertigung ab. Er selbst sammelt weiter Punkte ohne Ende. Denn hier nun war die gesamte Abwehr schuld, jeder Einzelne auf seine Art. So hieß es oftmals und bald bei fast jedem Tor ´ein Tor, was so nie und nimmer fallen darf´.“
Wow, alle waren sprachlos. Aber man konnte es so tatsächlich nachvollziehen.
Die gelungene Aktion? Eine Erfindung der Literatur. Im irdischen Fußball in den Augen eines Reporters? Ein Ding der Unmöglichkeit.