Was wäre wenn … man einfach mal zwei Freikarten verschenken würde?
Wir befinden uns in der realen Welt. Es gibt eine Aktion. Es soll ein Versuch werden. In dieser Form wohl noch nicht da gewesen? Man kann der Phantasie also freien Lauf lassen. Mal schaun, ob man was wieder erkennt? Möglicherweise sich selbst? Möglicherweise, wie es in der ach so realen Welt des Fußballs wirklich aussieht?
In der Geschichte gibt es eine Telefonaktion. Man ruft wahllos Menschen an. Immerhin geht es um Fußball und es gibt was zu verschenken? Schon beim fünften Versuch hat man Erfolg: der Mann gibt sich als „entfernt dem Fußball verbunden aus“. Die Sportschau würde er immer schauen und ab und an sogar ins Stadion gehen, lokal, zu seinem nächstgelegenen Heimatverein in Böblingen, und ab und an zum großen und schon von Kindheit an verehrten…
„Sie interessieren sich also für Fußball?“ „Ja, doch, sicher, klar.“ „Dann hätte ich hier zwei Fraikarten für Sie, Fahrkosten, Hotel für eine Nacht – alles mit dabei.“ „Wow, ja, toll, sonst habe ich noch nie was gewonnen.“ „Welches ist denn Ihr Libelingsverein?“ „Na, der VfB Stuttgart natürlich! Schon von klein auf!“ „Super, ja, toller Club, ich habe Freikarten für das Spiel Werder Bremen gegen Eintracht Frankfurt.“ „Äh, ja, aha, achso, ok.“ „Na, freuen Sie sich etwa nicht?“ „Doch, schon, ja, sicher, natürlich. Ähm…“
Nun gut. Die Karten hätte man an den Mann gebracht. Nun stellt man dennoch lediglich zwei kleine Bedingungen. „Wusst ich doch“, sagt der Mann, „ es gibt immer einen Haken an der Sache.“ „Nein, ganz harmlos, wirklich. Sie müssen mir vorher sagen, was Sie sich von dem Spiel erhoffen und später einen kleinen Bericht abliefern, wie es so war. Das ist doch vertretbar?“ „Ja, da haben Sie recht.“
Nun gut, also weiter im Text: „Was würden Sie sich von dem Spiel erhoffen? Für wen sind Sie eigentlich?“ „Ach, also Frankfurt, Werder, na, ist mir ziemlich egal. Ich mein, ist ja noch Anfang der Saison, vielleicht, dass einer der Konkurrent für den VfB wird? Nee, weiß nicht, gar keiner.“ „Ok, na dann können Sie Ihren Wünschen jetzt freien Lauf lassen. Was erhoffen Sie sich von dem Spiel?“ „Ja, also, hmm, hab ich noch gar nicht so überlegt. Kann ich mich zurückmelden?“ „Ok, denken Sie drüber nach. Ich verstehen schon, dass das eine schwierige Frage ist.“
Wer wurde schon je gefragt, was er gern sehen möchte als Zuschauer? Ab und an sagen die Sprecher vielleicht vor dem Spiel „dann hoffen wir heute Abend mal auf ein spannendes Spitzenspiel mit ein paar Toren“, wobei ziemlich bald doppelt eingeschränkt würde auf a) „die Trainer werden das natürlich anders sehen, denn, wie Huub Stevens es schon sagte, die Null muss stehen ist oberste Devise“ und außerdem b) bereits nach fünf Minuten die Erkenntnis gewonnen wird, dass „ein Spitzenspiel selten das hält, was es verspricht“. Wobei hier das Kuriose ist, dass die Sprecher jedes Mal aufs Neue überrascht und enttäuscht zu sein scheinen, demnach das „erwartet tolle Spiel“ so gut wie nie zustande kommt, sie aber aus der Erfahrung nicht zu lernen scheinen und vielleicht die Erkenntnis integrieren könnten, dass der Fußball so ist, wie er ist, wie von ihnen gefordert, nämlich auf das berühmte Halten der Null, auf Fehlervermeidung, auf „den Gegner nicht ins Spiel kommen lassen“, auf „möglichst wenig zulassen und nach Möglichkeit hier und da doch mal in der Offensive…“, wenn sich denn mal die Gelegenheit bietet, nur der Gegner genau das gleiche Ansinnen umgekehrt hat und sich die Mannschaften so, noch am vorteilhaftesten ausgedrückt „neutralisieren“. Und Spitzemannschaften unterscheiden sich von den anderen lediglich dadurch, dass sie sich logischerweise auf höherem Niveau neutralisieren, den besseren Angreifern also bessere Verteidiger gegenüber stehen, womit es einen durchschnittlichen Spiel an Attraktivität keineswegs überlegen zu erwarten wäre.
„Fußball Verhinderung“ müsste das Spiel eigentlich heißen, und diese Verhinderung steht kurz vor der Perfektion. Denn merke: eines der ungeschriebenen, von den Medien installierte und durch gebetsmühlenartiges Wiederholen somit diesem allmählich Gültigkeit verschaffende, lautet: „Tore fallen durch Fehler.“ Was direkt den weiteren Schluss zulässt „wenn wir weiter fleißig trainieren, dann ist es eines Tages so weit: wir machen keine Fehler mehr.“ Der Gegner auch nicht. Endstand: 0:0. Dann nur noch die Beerdigungsfeier.
Der Mann bekommt seine Karten zugeschickt, man wartet auf die Rückmeldung, welcher er sich verpflichtet hat – und diese kommt tatsächlich. Er eröffnet bei seinem Rückruf das Gespräch: „Also vielen Dank für die Karten. Wir fahren morgen los. Ich habe darüber nachgedacht, was ich mir erhoffe. War eigentlich gar nicht so schwierig. Nur weil man eben nie gefragt wird und außerdem befinden wir uns ja nicht in Utopia“ – man merkt, der Mann ist dem Kern der Sache nahe gekommen – „, aber trotzdem kann man sich ja einfach mal so was wünschen, obwohl man es nicht gewohnt ist und vielleicht ein paar Befürchtungen hätte, dass es nicht…“ Man unterbricht kurz: „Nur heraus mit der Sprache, was wünschen Sie sich?“
Der Mann hat sich wirklich glänzend vorbereitet und alles mit einbezogen: „Also ich wünche mir natürlich ein faires Spiel, keine Nickeligkeiten, am besten gar keine Fouls, keine hässlichen Szenen, keine Ellenbogenchecks oder so was, kein Zeitspiel und keine Schauspieleinlagen.“ Ok, das war wirklich ein nachvollziehbares Anliegen. Man nickt oder bestätigt, mit einem fortwährenden „Hm, ja, verstehe, weiter.“ In beliebiger Ab- und Reihenfolge. Ja, er ist kaum zu stoppen. Irgendwie doch gefühlt in Utopia, für einen Moment?
„Dann wünche ich mir, dass die Fans untereinander friedlich sein. Gesänge, Anfeuerung, gehört alles dazu, sorgt für die Stimmung, schafft Atmosphäre. Aber bitte keine Bengalos, keine Fanausschreitungen, keine eingerissenen Zäune, keine übertriebenen Pfeifkonzerte, keine Schlägereien, keine wilden Fangesänge, die so unmenschlich daher kommen, keine Beleidigungen, keine Bananen, die geworfen werden, wegen irgendwelcher Urwaldvergleiche oder solche Sachen. Keine Verunglimpfungen, keine ´Trainer raus´ Rufe, keine wüsten Beschiimpfungen der Vereinsführung, auch auf Plakaten, keine Herabwürdigung des Gegners, keine Hasstiraden und so weiter. Ein friedliches Fest, wo durchaus ein paar wetteifernde Unterstützer dieser oder jener Mannschaft dabei sein dürfen, die sich besonders ausschweifend über Tore ihrer eigenen Mannschaft freuen – aber nicht ausrasten, wenn der Gegner ein Tor erzielt.“
Ui, das war aber eine ganze Menge. Könnte man auch so auf den Punkt bringen: es soll friedlich bleiben und eine angenehmen Atmosphäre sein. Aber gut, weiter.
„Dann natürlich Spielfluss, wenige Unterbrechungen, keine Fehlentscheidungen, Zweikämpfe dürfen nicht fehlen, nein, das meine ich nicht, nur im Rahmen der Regeln, angelegter Arm und so, rassige Duelle, auch in der Luft, gehören dazu, aber kein rücksichtsloses Einsteigen, keine blutenden Platzwunden am Kopf, weil beide so unbedingt zum Ball wollen, dass sie sogar die eigene Gesundheit außer Acht lassen.“
Man kann ihm spielend folgen. „Ist die Wunschpallette nun gefüllt, war das alles?“ „Nein, dazu komme ich doch erst noch. Ich wünsche mir ein paar gelungen Kombinationen, ein paar Zungenschnalzer, mal ein Dribbling, bei welchem der Gegenspieler nicht foult, nachdem er ausgespielt ist, einen Hackentrick, einen Fallrückzieher vielleicht, eine Glanzparade, einen Lattenschuss und so, wo man schon aufspringen möchte und dann doch nur ah und oh rufen kann, aber sich schon auf die nächste gute Aktion freut, bei welcher es dann hoffentlich noch um die dreizehn Zentimeter genauer passt?“ „Ok, nun sind Sie aber durch? Das waren die Wünsche? Waren ja gar nicht mal so wenige. Ich sehe, Sie haben das Spiel verstanden.“
„Nein, was ich mir am meisten wünsche habe ich doch noch gar nicht gesagt.“ „Ja, was denn noch? Das wäre?“ „Ein spannendes Spiel mit ein paar Toren, möglichse gleich verteilt, aber wenn nicht, dann wäre das auch nicht so schlimm.“ „Sie meinen so zwei, drei Tore, ein 1:1 oder so was?“ „Nein, ich meinte viele Tore, immer spannend, mal einer vorne, später der andere, kann ruhig ein 5:3 rauskommen am Ende, das würde mir Spaß machen.“
Obwohl man selbst noch nicht einmal wagte, in Gedanken so weit zu gehen: das hat er aber wirklich gut vorbereitet und zusammen gefasst. Und wieso eigentlich nicht 5:3? Würde man in dem Fall allein deshalb das Einschalten bei der Sportschau am Abend verweigern? Oder es vielleicht sogar etwas lieber tun? Ein paar tolle Tore mehr heute Abend?
Das Wochenende kommt, die Spiele finden statt, der Montag bricht heran. Man wartet auf den Nachbericht, auf welchen man sich nach dieser Vorbereitung doch sicher freuen darf und auf welchen Verlass ist?
Der Mann kommt sogar persönlich vorbei. „Und, nun mal los, wie war das Spiel?“ „Ja, am Ende ein 1:1.“ „Aha, und wie hat es Ihnen sonst so gefallen?“ „Tja, nun ja, also die vielen Tore gab es ja schon mal nicht. Ansonsten war das Wetter besch…scheiden…“, hier nutzt man die Chance, zu unterbrechen „also typisches Fritz-Walter-Wetter? Das macht doch nichts?“ Für einen Moment sieht man, als der Name „Fritz Walter“ fällt, wie ein kurzes Leuchten in seine Augen tritt, das muss irgendwas mit der Wehmut zu tun haben, wie das Spiel doch früher mal war und dass es tatsächlich mal so was wie Fairplay gab und solche Dinge, aber er fährt dann doch ziemlich unbeirrt fort. „Dann waren die Fans keineswegs friedlich, da flogen Bierbecher, die Schmähgesänge kamen, klar, Frankfurt lag hinten und sie hätten einmal einen Elfer kriegen müssen, aber trotzdem war das nicht schön so.“
„Sie waren doch mit Ihrer Frau dort?“ „Nein, nein, ich habe meinen Sohn mitgenommen.“ „Ach, gut, und wie fand er es?“ „Das Hotel fand er ok, die Bratwurst meinte er hatte er sich besser vorgestellt, und ansonsten spielt er eher Basketball.“ „Zum Spiel nix weiter?“ „Na, hmm, nee, ach, jetzt weiß ich wieder. Der war total begeistert.“ „Ach was, ihm hat es gefallen? Ihnen doch sicher auch insgesamt?“ „Nein, der hat ein Mädchen entdeckt und als die was zu trinken geholt hat, da fiel ihm genau in dem Moment zufällig ein, dass er auch Durst hatte. Dann kam er ne Weile nicht wieder.“
Zurück zum Spielgeschehen: „Also es gab viele Unterbrechungen und viele Fouls, ständig irgendwelche Diskussionen, der Schrir war auch nicht ganz Herr der Lage. Da hätte er vielleicht früher mal Gelb zeigen müssen? Jedenfalls ging das auf die Zuschauer über, die auch die ganze Zeit gepfiffen haben. Werder hat dann auf Zeit gespielt, aber die Eintracht doch noch den Ausgleich geschafft.“
„Na, das ginge doch dann noch?“ „Nee, ach was, einmal und nie wieder. Man kann sich doch meist nur ärgern oder sich emotional einfach ausklinken. Drei Mal ging die Fahne hoch und ich sag´s Ihnen: die Tribünenkarten waren klasse und man konnte es gut sehen. Es war drei Mal ganz eng, mindestens einmal garantiert nicht Abseits, und alle drei Male ein fast sicheres Tor, weil die wirklich frei durch gewesen wären. Die Fahne ging hoch – sogar in der Sportschau haben sie nachher gezeigt, dass er zwei Mal daneben lag. Also man fühlte sich so: erst passiert lange nichts – und wenn es mal spannend wird, wird abgepfiffen. Ob zurecht oder nicht ist einem ziemlich egal. Hauptsache, es würde mal was passieren.“
Mehr oder weniger doch ein ganz normales Bundesligaspiel? Aber doch so gut wie nichts von dem vertreten, was man sich gewünscht hätte? Wobei dieses „man“ vielleicht genau den Knackpunkt offen legt. Wer soll dieser „man“ eigentlich sein? Irgendwie ein fiktiver „neutraler Zuschauer“? Was soll den so etwas bloß sein? Hatten wir noch nie – brauchen wir hier nicht!
Nun findet das ganze Geschehen in Utopia statt. Komischerweise ist die Aktion zwar geplant, aber am Morgen, als sie starten soll, laufen die Leitungen bereits heiß – und zwar in die andere Richtung. Weil irgendwas durchgesickert ist, eine undichte Stelle, ein Maulwurf? Nein, so was gibt es doch nicht in Utopia!
Jedenfalls der erstbeste Anrufer: „Ich habe gehört, dass Sie Freikarten vergeben? Ist da was dran?“ „Ähm, ja, stimmt, wie kommen Sie darauf?“ „Ach, nicht so wichtig. Kann man denn welche bekommen?“ „Ja, ich hätte da noch welche für das Drittligaspiel, Osnabrück – Werder Bremen II, was sagen Sie dazu?“ „Her damit. Fahrtkosten übernehme ich, Übernachtung brauche ich nicht, ich wohne nur 340 Kilometer entfernt von Osnabrück, ist kein Problem.“ „Na gut, das passt, Da haben Sie aber Glück. Sie kennen die Bedingungen?“ „Was denn für Bedingungen? Sind die nicht gratis?“ „Doch, schon. Sie müssen nur vorher sagen, was Sie sich wünschen von so einem Spiel und hinterher berichten, inwieweit sich das erfüllte oder nicht. Einverstanden?“
Klar, der Mann ist einverstanden, freut sich über das Geschenk, geht mit dem Kumpel, weil er noch jung und kinderlos ist, sagt aber rasch noch vorher, wie er sich so ein Spiel vorstellt. Nur ist kaum ein Unterschied zu dem ersten Beispiel festzustellen. Einzig, dass er dazu immer nur sagt: „Na, so, wie in jedem Spiel halt. Der Ball rollt, die Fans sind friedlich, es gibt schöne Aktionen zu sehen und ein paar tolle Tore. Was denken Sie denn?“ Von Foulspiel und hässlichen Szenen ist gar nicht erst die Rede, Man fragt kurz nach, weil er das nicht erwähnt. Er sagt nur: „Was meinen Sie denn für hässliche Szenen?“ „Blutende Köpfe nach Kopfballduellen, Ellenbogenchecks, Zeit schinden, pfeifende Zuschauer, die die Schauspielerer durchschauen, dass ein Spieler nur am Boden liegen bleibt, um den gefährlichen Konter im Überzahlspiel zu unterbinden, aber kein bisschen verletzt war, wie die nächste Szene zeigt und so weiter. All das, was angeblich den Fußball ausmacht?“ Die Antwort lautet komischerweise nur so: „Hä?“
Der Nachbericht fällt ähnlich undramatisch aus. „Wie war das Spiel? Haben sich Ihre Wünsche und Hoffnungen erfüllt?“ „Was für eine Frage? Ein irres Spiel ich sags Ihnen. 3:2 am Ende, aber da hätten beide noch viel mehr Tore machen können. Die Stimmung gut, die Spieler gaben sich nach dem Spiel fair die Hand, keine Ausraster, keine Pfiffe. Fans blieben absolut friedlich, allerdings, zugegeben: die Heimmannschaft hat ja auch gewonnen. Wobei: ein bisschen traurig bin ich auch, denn haben Sie von dem Spiel in Duisburg gehört? Und dem in Wehen? Da muss ja was los gewesen sein! Beide Spiele mit acht Toren! Aber egal, gehe ich nächste Woche wieder. Passt schon.“