1) Eine ganz besondere Art der Turniervorbereitung
Das Turnier in Graz war beendet. Der Sommer ging auch allmählich zu Ende, der September begann nämlich. Der Deutsche Schachbund hatte sich vorübergehend mit mir auf Kuschelkurs begeben und sowohl in die Deutsche Nationalmannschaft berufen (für Graz) als auch im Anschluss ein Einladungsturnier in Krosno/Polen verschafft.
Mein Buch soll auf keinen Fall jetzt auch noch meine politischen Ansichten abdecken. Dennoch muss man ja zwangsläufig ein paar Dinge erörtern, bevor man sich, auch noch im Jahre 1981, speziell im September, nach Polen begibt. Die Zeiten des Kalten Krieges haben nun gerade Berliner in besonderem Maße abbekommen. Wir hatten diesen berühmten „Inselstatus“. Berlin war zwar nicht gerade klein, aber dennoch musste man, zum Beispiel auch bei Radtouren, immer darauf gefasst sein, plötzlich Schilder auftauchen zu sehen, die einen mehr oder weniger eindringlich darauf aufmerksam machten, dass man kurz davor wäre, den westlichen Sektor zu verlassen, oder Ähnliches.
Das hat zwar nicht unbedingt gleich Angst ausgelöst, aber einem auf jeden Fall Respekt eingeflösst. Es war nicht genug damit. Man hatte durch die Medien genügend Gelegenheit, zu sehen und zu hören, was sich auf der anderen Seite ereignete, wenn jemand der Mauer oder dem Stacheldraht zu nahe kam. Er wurde kurzerhand „liquidiert“. In wärmster Erinnerung hat man auch die Begebenheiten, wo man, noch vor dem Transitabkommen 1971, bei jeder Ausfahrt aus Berlin oder Einfahrt nach Berlin die zum Teil mehrstündigen Wartezeiten in Kauf nehmen musste, noch dazu dann den höchst unerfreulichen Kontakt mit den ebenso berühmten wie berüchtigten „Grepos“ aufnehmen musste. Motto: „Satz mit Gänsefleisch?“ „Gänsefleischt mal den Koffrraum uffmachen?“ Ja, wir könnten, wir mussten sogar. Dann kamen noch die Spiegel und haben das Auto von unten abgeleuchtet ob wir, als Schwerverbrecher, vielleicht einen blinden Passagier unterm Auto befestigt hätten und diesen aus seiner wohlverdienten Freiheit im Sozialismus in die schauderhaften Zwänge des Kapitalismus entführen wollten.
Wir wollten zwar sicher, aber wir wollten auch trotzdem noch weiterleben dürfen. Und zwar in unserer scheinbaren, illusorischen, westlichen Freiheit. Ich weiß nicht, wie nahe wir damals an der „Erlösung“ waren, als wir einmal tatsächlich einen Tramper, der noch dazu gerne eingestand, DDR-Bürger zu sein, von einer Raststätte zur nächsten transportiert hatten. Ich glaube, auch für ein solches Verhalten hatte die glänzend ausgearbeitete östliche Rechtsprechung nur ein Verdikt parat: „Rübe ab.“ Zumindest habe ich mir das in meinem kindlichen Gemüt so zurechtgelegt.
Sehr gut hat man auch ein paar andere Detailgeschichten in Erinnerung, die einem den erforderlichen und angebrachten Respekt vor den DDR-Beamten an beliebigen Stellen wieder einflösste. Wenn man nämlich einmal angehalten wurde, dann war einem eine Strafe sicher. Es war ausgeschlossen, dass die Ordnung liebenden (wer hat da überkritisch gesagt oder gedacht?) Gesetzeshüter nichts fanden. Sei es eine Bremsleuchte, eine Kindersicherung, ein falsch angelegter Anschnallgurt, eine (nicht zu überprüfende) Geschwindigkeitsübertretung oder eine Nase, die dem Beamten gerade an dieser Stelle nicht richtig gewachsen schien, also ihm schlicht „nicht passte.“ Und wenn man es genau nimmt, dann war das quasi jede, sofern sie irgendwie nach „Westen“ aussah oder nach „Westen“ roch. Und die Riechorgane waren wirklich in der Zeit, das muss ja mal betont werden, glänzend ausgebildet und geschult. Allerdings, es war wohl eher die eigene Nase, die diesen Menschen nicht passte. Sie haben aber ein Machtmittel in die Hand bekommen und dieses weidlich genutzt.
Man bekam seine „Strafe“. Und praktisch jeder halbwegs gewiefte Transit Reisende hatte seine Reisekasse immer um 100 DM breiter kalkuliert. Bei Hin- und Rückfahrt erklomm die Chance, mindestens einmal „erwischt“ zu werden, satte 35%, der Wert ist aber nur geschätzt. Widerspruch, so sehr er sich bei mir gegen jegliche Form von Obrigkeit regte, wurde bei mir auch durch Unterwürfigkeit für die Dauer der DDR-Durchfahrten ersetzt. Ich habe brav meinen Anteil am schwächelnden Bruttosozialprodukt der DDR geleistet.
Dass ich als 59er Jahrgang auch einen gehörigen Teil Gedankengut der 68er Generation mitbekommen habe, möchte ich keineswegs verleugnen. Ich wurde auch glühender Rudi Dutschke Verehrer, obwohl ich seine politischen Äußerungen im zarten Alter von 9 Jahren zugegebenermaßen nicht verstehen konnte. Dennoch habe auch ich mit einigem Stolz für viele Jahre die Nonkonformistenuniform getragen (Jeans und lange Haare) und bin auch fleißig auf Demos gegangen: „Solidarisieren – Mitmarschieren.“ Das war natürlich dann schon Anfang bis Mitte der 70er Jahre. Das man dann für eine Weile auch die DDR in gewisser Weise „verherrlichte“, sich zumindest mit der praktischen Umsetzung des Sozialismus beschäftigen musste, brachte die Zeit einfach mit sich. Der Gedanke war natürlich der: Die Umsetzung kann nur durch die Verbreitung und Verinnerlichung des Gedankenguts gelingen. Aufzwingen einer Staatsform kann nicht der richtige Weg sein. Der Sozialismus oder der Kommunismus kann nur im Kopf geboren werden. An „Gehirnwäsche“ habe ich aber sicher nicht gedacht. Nur überzeugen, das käme in Frage. Aber wenn die Menschen es denn nicht verstehen…
Meine Auswanderungsgedanken waren also nur sehr temporär. Und als Idealist war ich auch nicht unbedingt geeignet. Aber was weiß man schon als Heranwachsender? Man sucht ein Weltbild und sich selber.
Nun gut, also im September 1981 war in Polen etwas entstanden. Das ganze nannte sich „Solidarnosz“ und hatte auch zumindest einen namentlich bekannten Urheber, der Mann hieß Lech Walesa (durch meinen Aufenthalt in Polen habe ich mich zumindest insoweit mit der Sprache vertraut gemacht, dass ich weiß, dass Walesa sowohl mit eine gestrichenen l, gesprochen als Mischung aus „hu“ und „wu“, als auch mit einem e mit Konsonant geschrieben wird, welches dann wie der französische Nasallaut gesprochen wird. Meine Tastatur gibt die beiden Sonderzeichen nicht her, aber er spricht sich in etwa so: Wahuernsa.
Solidarnosz trug aber etwas Entschiedenes von Widerstand in sich, welches sofort den großen Bruder, also den russischen, auf den Plan rief. Mein Wissen über diesen übermächtigen Bruder hatte ich fast ausschließlich den James Bond Filmen entnommen, jedenfalls erschien dagegen der normale Kontakt mit DDR-Grepos oder Vopos (Grenzpolizisten und Volkspolizisten) eher wie Kindergeburtstag.
Im September 1981 jedenfalls machten die Russen Ernst. Solidarnosz war mit einfachen Mitteln nicht zur Ruhe zu bringen. Also wurden zunächst mal Panzer an den Grenzen stationiert. Der Einmarsch wurde angedroht. Dazu wurde ein weiteres Damoklesschwert gezogen: Embargo. Dieses Embargo konnte für viele verzichtbare Gebrauchsgegenstände gelten. Es galt aber auch für Lebensmittel. Auf gut Deutsch: Es gab kaum etwas zu essen.
Unter diesen zweifelhaften Umständen hatte ich also eine Einladung zu einem Meisterturnier in Polen erhalten. Ein kurzer, innerer Kampf, in der Hasenherz und Schachleidenschaft miteinander rangen, ergaben einen eindeutigen Sieger: Die Schachleidenschaft.
Meine Mutter packte mir einen riesigen Vorrat an Lebensmitteln ein, die 100 DM, die mir der Schachbund zur Verfügung gestellt hatte als Tagegeld, war für polnische Verhältnisse bereits ein kleines Vermögen, dazu noch ein paar eigene Hunderter. Ich war in Polen ein reicher Mann. Nur gab es nichts zu kaufen.
Meine Mutter und Freundin Angie brachten mich zum Busbahnhof. und so sehr ich meine Mutter selbstverständlich liebte: Den tränenreichen Abschied habe ich von Angie genommen. Ich brach auf in eine neue, mir unbekannte Welt. Würde ich jemals wieder heimkehren (so oder so ähnlich müssen unsere Gedanken wohl ausgesehen haben). Auf jeden Fall war es ein Abenteuer.
Man musste ja zu der Zeit gerade bei Einreise vollkommen andere Papiere besorgen als nur ein Durchreisevisum. Ich musste sogar extra einen Reisepass beantragen, um das (soll ich es „begehrte“ nennen?) Einreisevisum zu erhalten. Noch dazu ausgerechnet nach Polen. In diesem Herbst.
Der Bus brachte mich zum Flughafen Schönefeld, von dessen Existenz ich nur gehört hatte. Ein lächerlicher Kleinflieger sollte mich von Ostberlin nach Warschau transportieren. Aber zum Umkehren war es zu spät. Ich bestieg todesmutig das Flugzeug. Allerdings fühlte ich mich darinnen plötzlich ein bisschen ähnlich, wie man sich wohl in Abrahams Schoß angeblich fühlt. Mir konnte nichts mehr Angst machen. Außerdem, so schwer es dem Kapitän auch fallen möge, das Flugzeug wieder heil herunter zu bringen, immerhin war er ja auch mit eingestiegen. Dass man unterwegs in einige Luftlöcher fiel und sich eher wie in einer Pappschachtel auf dem Ozean, das aber bei Sturm fühlte, hatte Abraham anscheinend vorhergesehen. Wir landeten heil und unversehrt in Warschau.
Wie es nun weiter ging, war mir natürlich immer noch schleierhaft. Kein Wort Polnisch und ich war einfach nur im Ostblock. Dass das bisher noch nicht mein bevorzugtes Reiseziel war, habe ich ja oben, wenn auch nur durch die Blume, angedeutet. Aber dann beim ersten Mal gleich ganz alleine und in das „bedrohte“ Polen? Nun gut, der Veranstalter hatte aber für mich vorgesorgt. Es sei denn, dass dort immer irgendwelche Personen auf gestrandete westliche Passagiere warteten und diese einfach in ihre Autos luden. Es war jedenfalls ein Auto mitsamt Fahrer für mich am Flughafen.
Nun gut, die ganze Fahrt über musste ich nun rätseln, ob es sich um eine (wenig) spektakuläre Entführung handelte, oder ob ich tatsächlich zu einem Schachturnier nach Krosno transportiert wurde. Der Fahrer zumindest war, zumindest aus meiner Sicht und wie man es ja aus den James Bond Filmen kennt, einsprachig. Eine Kommunikation wollte er nicht oder er konnte nicht. Ich habe aber Abrahams Schoß nicht mehr verlassen.
Hier noch ein kleiner Exkurs über meine Träume: Ich träume wahnsinnig gerne, Frage natürlich: Wer tut das nicht? Aber eine Sorge, die die meisten Menschen haben, kann ich nicht teilen: Die Sorge vor Albträumen. Meine Strategie bezüglich Albträumen sieht so aus: Ich träume, höchst intensiv. Das Geschehen entwickelt sich aber zum Albtraum. Es wäre höchst Zeit, Angst zu bekommen. Mein Unterbewusstes aber beginnt dann seinen eigenen, inneren Kampf: Weiter träumen, weil träumen so schön ist, oder lieber doch aufwachen, weil die Szenerie zu unheimlich wird. Meist siegt die Seite, die das Träumen einfach zu schön findet. Der Notfallplan sieht aber dann doch vor: Aufwachen. Also kann ein Albtraum schon mal ernsthaft von den Gedanken begleitet sein: „Soll ich etwa jetzt schon aufwachen, grad, wos so spannend ist?“ Also diese Aufwach-Option hatte ich ja noch für den Notfall parat…
Die Fahrt selber war in etwa so: Ein Luxusauto, wie ich annehmen musste, welchem man allerdings unter Garantie in Deutschland die Zulassung verweigert hätte, hatte mich über meist absolut unwegsames Gelände in ca. 2 Stunden Fahrzeit bei hereinbrechender Dunkelheit wirklich nach Krosno transportiert.
Ich wurde in der ersten Adresse in Krosno einquartiert. Mit ein bisschen Wohlwollen konnte man es qualitativ zwischen Zeltplatz und Jugendherberge einordnen. Und es gab auch jeden Tag etwas zu essen, allerdings sollte man morgens möglichst vor 6:30 im Frühstücksraum sein. Abends war es ein bisschen schlechter. Aber immerhin: Vom Rest der Bevölkerung wurden wir garantiert beneidet. Außerdem war ich ja nun sozusagen „gewappnet“. Allerdings musste ich mit der Verbreitung meiner persönlich im Hotelzimmer angelegten „Vorratskammer“ vorsichtig sein. Da waren so exklusive Sachen wie Vollkronbrot und Dauerwurst vertreten.
Die Dusche war auch ein Erlebnis: Schon beim ersten Einstieg fiel einem der gefüllte Wassereimer auf, über den man beinahe stolperte. Allerdings dauerte es nicht lange, bis man sich auch seine Funktion erklären konnte: Während des Duschens versiegte nicht nur die Warmwasserversorgung, was man vielleicht noch hätte verkraften können. Nein, es war die komplette Wasserzufuhr plötzlich und abrupt beendet. Bei gerade eingeseiftem Kopf und Körper war nun ein einziger Eimer, gefüllt mit noch dazu kaltem Wasser nicht gerade perfekt geeignet, aber immerhin war überhaupt etwas da. So wurde das Duschen auch zu einem tagtäglich „besonderen Erlebnis.“ Läuft das Wasser überhaupt? Wird es warm? Und wenn zumindest eine der beiden Antworten mit ja ausfallen sollte, stellte sich die nächst: wie lange hält der Zustand an?
Ansonsten befanden wir uns ja im Süden Polens und September ist auch noch nicht direkt ein Wintermonat. Es gab etliche sehr sonnige und warme Tage. Dass ich so vermögend war, bekam ich nur dadurch zu spüren, dass ich hier und da schon mal einen unsittlichen Antrag einer jungen Dame erhielt, die ich selbstverständlich allesamt abschlägig beschied. Schließlich hatte mich ja Angie noch zum Busbahnhof gebracht.
Versichern kann ich aber zumindest, dass über Geld bei den „Anträgen“ (noch) nicht gesprochen wurde. Mag sein, dass ich es wirklich ausschließlich der rein westlichen Ausstrahlung zu verdanken hatte.
2) Der Turnierverlauf
Nun denn, Zeit, ein Kindheitstrauma aufzuarbeiten. Ich mache es mir schon mal auf der Couch bequem, holen Sie sich bitte die obligatorische Tasse Tee, ein wenig Gebäck dazu kann auch nicht schaden. Wenn Sie dann wieder da wären, können Sie vielleicht für eine halbe Stunde in die Rolle eines Psychiaters schlüpfen? Dazu sind eigentlich keine besonderen Fähigkeiten erforderlich (vielleicht erkennen Sie daran, wie oft ich tatsächlich bei einem war). Es ist eigentlich nur eines erforderlich: Ruhig dasitzen und so tun, als ob man zuhört. Die „Patienten“ heilen sich dann selber.
Dabei ist Zuhören nicht wirklich verboten. Es birgt nur einerseits die Gefahr, dass man etwas versteht und davon selber Depressionen bekommt, andererseits ist es auch absolut nicht erforderlich. Wenn der „Patient“ nämlich irgendwann mal auf die dumme Idee kommen sollte, Sie, als Psychiater, zu fragen, was er hätte tun sollen oder zukünftig in so einer Situation tun solle, dann entgegnen Sie einfach: „Was hätten Sie denn gerne getan?“ Die alternative Antwort lautet: „Was würden Sie denn gerne tun?“ (habe ich mit diesem Rundumschlag gleich mal einen gesamten Berufsstand in die Pfanne gehauen? Kurt Tucholsky schrieb ja mal eine Geschichte, die hieß: Was darf die Satire? Ich entschuldige mich gleich mal, auch noch zusätzlich bei Ex-Kanzler Kohl und bei aktueller Kanzlerin Angela Merkel für die vielen, miesen Kalauer die tagtäglich über sie verfasst wurden und werden {Herr Kohl, sagen Sie mal „Brunsbüttel“ oder „Baddelboot“; Frau Merkel, Frau Merkel, hat Ihnen der Imageberater schon ein Image verschafft?}; selbstverständlich ist die Psychologie eine hochanständige, dafür tief schürfende, von mir mehr als {gering} geschätzte Wissenschaft; ich gebe zugleich zu: Ich kann es nicht lassen).
Wichtig ist übrigens noch ein Punkt: Ruhe ausstrahlen. Und da bin ich überrascht, wie hoch Ihre Eignung zum Psychiater bereits ausfällt. Ich bin mehr als zufrieden (Otto hatte ja auch einen genialen Plan, wie man einen Hasen fangen könnte: Man setzt sich ins Gras und ahmt das Geräusch einer wachsenden Mohrrübe nach. Überzeugend, nicht? Ich habe allerdings seine Erfolgszahlen nicht gehört…). Also, wie war dieser Crashkurs zum Psychoanalytiker?
Die Aufarbeitung meiner persönlichen Vergangenheit fängt an im Jahre 1959. Meine Mutter meinte schon, ich wäre eine „schwere“ Geburt gewesen. Die Hebamme hätte das bestätigt: Ich wog satte 5 kg. Leider konnte ich mein verhältnismäßiges Übergewicht nicht halten. Ein reines Gerücht übrigens, dass dieses von Gehirnmasse und Samensträngen verursacht war. Wesentlich später las ich nämlich im Buch der Rekorde, dass der Mensch mit dem schwersten Gehirn jemals debil war.
Da aber anerkanntermaßen schon die Zeit im Mutterleib mitverantwortlich für die spätere Entwicklung des Menschen ist, möchte ich jetzt nicht noch weiter ausholen, zumal ja auch die Veranlagung der Eltern noch eine Rolle spielt und ich noch von diesen ein Psychogramm anlegen müsste, will ich, auch zu Ihrem Wohl, mal eben mindestens 14 Jahre überspringen.
Meine ganze Schachkarriere war begleitet von diesen absurden, unfassbaren Fehlgriffen, die mich ständig und wiederholt gewonnene Partien verderben ließen. Dazu gibt es zwei offensichtliche Anmerkungen zu machen:
1. Fast jeder (Schach-)Spieler ist überzeugt davon, diese Form des „Pechs“ zu haben und
2. Wen interessiert das?
Jetzt muss ich aber doch noch etwas weiter ausholen, zum Verständnis der Bedeutung dieses Turniers. Als Jugendlicher und aufstrebender Schachspieler hat man ein paar Gelegenheiten, seine Ausnahmestellung, so denn vorhanden, unter Beweis zu stellen. Es gibt natürlich im Jugendbereich die Meisterschaften, für Einzelspieler und Mannschaften. Der Deutsche Schachbund hat seine Fördermittel, die allerdings erstens nur einen begrenzten Umfang haben aber zweitens auch ganz gezielt eingesetzt werden, um die Jugend zu fördern. Dazu wurden damals auch bereits Jugendkader eingerichtet. Und man konnte natürlich aufsteigen, Vom C bis zum A-Kader. Meine Erfolge waren zwar nicht so schlecht, aber auch nicht ganz ausreichend, um die Fördermittel für mich zu vergeuden. Ich bekam eine Einladung zur Internationalen Deutschen Jugendmeisterschaft 1977/78 (Jahreswechsel) in Donaueschingen und im Jahre 1978 einen Freiplatz zur Deutschen Jugendmeisterschaft. Der 10.Platz war aber eher eine kärgliche Ausbeute.
Danach war die Jugendzeit beendet Es gab aber dann noch den Juniorenbereich, bis 26 Jahre. Aufnahme in diese erlauchte Gesellschaft fanden aber eher die Jugendlichen, die sich schon in der Jugend durchgesetzt hatten. Dazu gehörte ich in diesem Sinne nicht. Als ich dann in der 1.Bundesliga so erfolgreich spielte, konnte der Schachbund mich aber nicht mehr übersehen. Dadurch habe ich doch meine Eignung zur Förderung herausgestellt. Allerdings mussten jetzt Erfolge her. Und mein Ergebnis von 3.5/7 aus Graz war nicht in diesem Sinne überragend. Es war gerade so durchschnittlich.
Die Einladung nach Krosno hatte ich aber bereits vor Graz erhalten. Jetzt waren IM-Normen gefragt (IM = Internationaler Meister; die Vorstufe zum Großmeister). Dabei waren die Regeln damals recht einfach und verständlich: Man musste die IM-Qualifikation in 24 Partien bestätigen. Normale Einladungsturniere bestanden aus 12 Teilnehmern. Also eine Norm in einem solchen Turnier, noch eine Norm in einem solchen Turnier, dann brauchte man dennoch eine dritte, damit die 24 Partien voll waren (2*11 = 22). Aber die dritte Norm konnte auch aus einem Open Turnier stammen. Für eine solche konnte man dann selbstverantwortlich sorgen. In Krosno wurde sozusagen jetzt eine Norm von mir „erwartet“.
Ich selber habe mir aber ohnehin schon immer genügend Druck auferlegt. Ich wollte jede Partie gewinnen. Das ist natürlich ein vollkommen unsinniger Ansatz, aber es gab niemanden, der mich (erfolgreich) belehrt hätte. Das hatte zur Folge, dass ich auch in ausgeglichenen Stellungen stets nach einem Gewinnweg suchte. Wenn ich ihn nicht fand, habe ich also oft genug dann den Verlustweg eingeschlagen (in der Schachspielerszene gibt es dafür den auch sonst aber bekannten Ausdruck: Ich habe „überzogen“). Das war aber nur einer der Gründe, warum ich meine Partien verdarb.
In Krosno kam es also zur Eskalation in dieser Hinsicht: Ich benötigte für die IM-Norm 7 Punkte aus den 11 Partien. Dazu hätte es genügt, drei Partien zu gewinnen und den Rest Remis zu spielen (8*0.5 + 3*1 = 7). Ich wollte aber, wie üblich, von Anfang an jede Partei gewinnen. Das hatte zur Folge, dass ich erstmal anfing zu verlieren. Wenn die Stellung ausgeglichen war, habe ich sie einfach „überzogen“. Ein Remis, nicht mal im entferntesten, erwogen, geschweige denn, es anzubieten, was manch anderer, seinem Ziel verpflichtet, dann einfach tut. So geschah es, dass ich eine Hängepartie gegen Begovac, bei der ich klar im Vorteil war mit Turm gegen Springer im Endspiel, nach und nach ganz verdarb, da es ihm gelungen war, tatsächlich einen Remisweg zu finden.
Da es eine Hängepartie war und wir dafür am Vormittag (sonst waren die Partien am Nachmittag) zum Turniersaal mussten, begab es sich, dass wir auf dem gemeinsamen Heimweg (Begovac und ich) auf einen Ansammlung anderer Turnierteilnehmer trafen. Da sowohl Begovac als auch ich nicht polnisch sprachen, verständigte man sich eben mit Handzeichen. Die anderen Teilnehmer „fragten“ mich also, indem sie den Daumen nach oben oder zur Seite hielten, ob ich die Partie gewonnen hätte oder ob sie doch nur Remis war. Andere Ergebnisse, so die selbstverständliche Meinung, könnten nicht in Frage kommen. Ich antwortete mit dem Daumen nach unten. Ungläubiges Kopfschütteln, es wurde dadurch zum Scherz erklärt, der leider keiner war.
Die schlimmste Partie meines Lebens allerdings ergab sich in einer noch späteren Runde gegen Kostyra. Ich spielte eine tolle Partie und war auf dem Weg, einen blitzsauberen Start-Ziel Sieg einzufahren. Mein Gegner geriet zu allem Überfluss außer in einen unwiderstehlichen Mattangriff inklusive haushohen materiellen Defizits noch in hochgradige Zeitnot. Diese Zeitnot hielt ihn im Wesentlichen davon ab, die absolut hoffnungslose Stellung aufzugeben („Aufgeben? Dafür hatte ich keine Zeit.“). Er machte einfach noch ein paar Züge. Ich stand mir wieder selbst im Wege und anstatt beliebige, allesamt gewonnene Züge auszuführen, wurde ich erstmal nervös. Hätte er ausreichend Zeit auf der Uhr gehabt, wäre es mir sicher nicht passiert. Aber so hatte es etwas von einem „Zeitnotgefecht“, obwohl die Zeitnot absolut einseitig war.
Aus der Fülle der Gewinnwege wählte ich wohl so ziemlich den Einzigen, der mir noch Schwierigkeiten bereiten konnte: Abwicklung in eine (gewonnenes) Endspiel. Immerhin musste ich dafür sowohl den Mattangriff aufgeben als auch einen ganze Figur aus meinem reichlichen Materialübergewicht zurückgeben. So viel Dummheit hat mir wohl noch einen weiteren, unfassbaren, Fehlzug entlockt. nach welchem ich tatsächlich sofort die Partie aufgeben konnte/durfte/musste.
Nun sind ja in der Schachgeschichte schon einige Formen von kuriosen Aufgaben bekannt geworden. Die Figurendusche hatte ich persönlich eingeführt in Badalona. In Krosno habe ich eine neue Variation hoffähig gemacht: Ich rannte direkt mit dem Kopf gegen die Wand. Dass nun zeitgleich andere Turnierteilnehmer im ansonsten absolut ruhigen Turniersaal über ihren Stellungen brüteten, konnte mich nicht davon abhalten. Strafe muss sein, jetzt und hier und vor Ort. Und an dem für das Malheur verantwortlichen Körperteil.
Ein Gutes hatte diese Niederlage aber doch für mich: Sie hat mich von einem offensichtlich unerträglichen Druck befreit. Dem Druck, eine IM-Norm zu erreichen nämlich. Nach dieser Partie hätte ich auch bei Siegen in den letzten fünf Partien nur noch 6.5/11 Punkte erreichen können. Die IM-Norm war außer Reichweite geraten. Was tat ich also von diesem Druck befreit? Ich gewann die letzten fünf Partien einfach. 6.5/11. Ein 4.Platz, ein Geldpreis in Zloty, den ich in das einzig verwertbare im Zentrum von Krosno anlegte: Ich erhielt einen goldenen Ring dafür. Ich habe aber nie versucht, den Gegenwert zu bestimmen oder diesen in Geld zurück zu verwandeln. Dazu erhielt ich übrigens einen riesigen Pokal.
Danke, dass Sie mir für den Augenblick Ihr Ohr geliehen haben. Aber selbst diese Bilder, auch Metaphern genannt, können mich ins philosophieren bringen. Sie haben mir Ihr Ohr geliehen, aber Ihr Gehör geschenkt. Beides ist in diesem Sinne temporär. Etwas leihen ist sowieso temporär. Dieses ist aber ein konkretes Objekt, ein Ohr nämlich. Das Gehör ist virtuell, nicht greifbar. Also konnte Sie mir dieses gar nicht leihen. Das haben Sie mir zum Geschenk gemacht.
Auf der Suche nach den positiven Seiten, nach dem Sinn, begibt man sich natürlich auch hierbei auf die Suche. Und ich habe meine Antworten gefunden. Nicht nur, wie man diese Blackouts selber erklären kann, sondern auch noch über den tieferen Sinn, was den Einfluss solcher Geschehnisse auf das gesamte Leben bedeuten. Zumindest diesen kann ich hier erläutern: Das Schachspiel ist und bleibt eine brotlose Kunst. Weitere Erfolge hätten mir nur die Verführung noch näher gelegt, der Illusion nachzujagen, davon (gut) leben zu können. Also habe ich für Misserfolge gesorgt, damit diese Illusion keine Nahrung bekommt. Folge: Ich habe das Schachspiel beizeiten aufgegeben und nach trächtigeren Einkommensmöglichkeiten, und das nicht mal ganz erfolglos, gesucht.
3) Die Rückfahrt
Nun, die Rückfahrt wäre eigentlich kurz erzählt: Rücktransport nach Warschau per „Luxuskarosse“, rein in den Flieger, ab nach Berlin, Angie in die Arme gefallen, goldenen Ring gezeigt, 4.Platz, ok, Leben geht weiter. Sie wäre, wenn da nicht ein winziges Detail unterwegs passiert wäre…
Die 10 Tage habe ich also im Wesentlichen im Turniersaal oder auf dem Hotelzimmer verbracht. Ein Bier trinken gehen oder so kam nicht unbedingt in Frage. Ich lernte die anderen Turnierteilnehmer auch erst so nach und nach kennen. Ein paar Worte polnisch, Schreibweise und Aussprache, hat mir dann (der spätere Großmeister) Stanislaw Tomaszewski erklärt, mein Zimmernachbar war der Däne Ulrik Rath, der auch mit einem Punkt mehr als ich das Turnier gewann (hätte ich bloß gegen ihn Remis gemacht, in der ersten Runde). Ansonsten hab ich das Buch „Das Boot“ von Lothar-Günter Buchheim als Lektüre mitgehabt, was mich total begeistert hat und was ich einfach verschlungen habe.
Als ich so richtig „angekommen“ war in Polen, war das Turnier leider schon wieder vorbei. Bemerkenswert war noch, dass wir bei spätabendlicher Heimkehr oft endlose Schlangen von Menschen vor irgendwelchen Läden aufgereiht sahen. Auf meine Frage, was diese täten, die Antwort: Sie warteten auf die am nächsten Morgen eintreffenden Lebensmittel wie Brot, Butter, Milch oder Mehl. Man stolperte nicht gar so selten über richtige „Schnapsleichen“, daran gewöhnte man sich auch. Einmal machten wir noch einen Ausflug zu den Karpaten, wo natürlich die Erwähnung Graf Draculas nicht fehlen durfte. Als Dolmetscher hatte sich Wladimir Schinzel erboten, der meiner Erinnerung nach aber eher Englisch als Deutsch sprach.
Aber nun, auf der Heimfahrt, war „das Boot“ ausgelesen. Und es war ja ein ziemlicher Wälzer. Ich musste noch eine Weile auf meinen Heimflug warten, also schlenderte ich, eher teilnahmslos, ein wenig durch das Flughafengebäude. Nun, ich gebe zu, dass das Bild mit dem „eigenen Augen nicht trauen“ ein eher schwaches ist. Aber für einen Moment vergesse ich mal diese Schwäche. Ich vertraute wirklich für einen Augenblick nicht so ganz meinem Augenlicht. Oder ich hielt es für eine gewisse Form der Wahrnehmungsschwäche. Man könnte auch so sagen: Das konnte doch nicht wahr sein. Ich sah ein Phantom. Ich sah Gary Kasparow.
Ich näherte mich diesem Phantom. Es war nur Bobby Fischer zu verdanken, dass er nicht mein einziges Idol jemals im Leben war (na gut, ich tue Günter Netzer Unrecht). Ich lief also auf ihn zu und fragte geradeheraus: „Hey, Mister Kasparow, do you remember me?“ Und das Phantom antwortet: „Yes, sure I do.“ Ja, also weder meine Augen noch irgendwelche anderen Sinne hatten mich getäuscht. Es war Gary Kasparow.
Bedauerlicherweise hatte ich weder Autogrammheft noch Fotoapparat noch Filmkamera dabei, hätte Gary auch sicher nicht so besonders gefallen. Ich plauderte so, wie man halt unter „seinesgleichen“ tut, fast wie selbstverständlich. Gary hatte auch fast selbstverständlich ein Reiseschach neben sich aufgebaut. Ich bat ihn, ihm eine Partie zeigen zu dürfen, die ich gerade bei einem Internationalen Turnier in Krosno gespielt hätte. Gary war erstaunlicherweise einverstanden. Aber nur unter einer Bedingung: Ich zeige ihm die Partie blind. Wir bewegen nicht die Figuren, das Geschehen spielt sich im Kopf ab und nur dort.
Nun, mit einem gewissen Stolz kann ich zumindest sagen, dass mir das Blindschach spielen immer besonders gut gelegen hat. Ich brauchte keine Figuren zum Schachspielen. Sicher haben mir die nächtlichen tanzenden Figuren auch zumindest in diesem Moment Hilfe geleistet. Ich konnte ihm die Partie ohne Weiteres und ohne Partieformular aus dem Kopf ansagen.
Diese Partie war aber wirklich von mir in gewisser Weise geschickt gewählt. Denn es war eine höchst komplizierte Partie. Gary hielt es sicher zunächst für ein Standardwerk. Aber solche „Standardpartien“ hatten bei mir eher Seltenheitswert. Also es gelang ihm nicht unbedingt, die Partie in allen Untervarianten, sofort zu durchschauen (das ist natürlich nur meine Einbildung; Gary, du bist garantiert der Größte. Bobby Fischer war es zu seiner Zeit. Du ab dann bis heute. Erstaunlich übrigens, dass ich der aktuellen {Vorsicht mit aktuell; am 16.12.2008) Nummer 1 der Welt, Viswanathan Anand, unter ähnlich bemerkenswerten Umständen, also rein zufälligen, auch zwei Mal begegnet bin; aber davon später etwas mehr).
Als dann noch zwei weitere Herren zu uns stießen, bekam ich den Mund tatsächlich nicht mehr zu: Ich erkannte zunächst einen damaligen Top-Ten Spieler, Alexander Beljawski, aber dann, Augen reiben, da stand der, Gott hab ihn selig, Tiger persönlich. Tigran Petrosjan. Schachweltmeister von 1963-1969, aber eine Legende, ohne jeden Zweifel. Gary arbeitete ja noch daran, eine Legende zu werden. Er war gerade 18. Aber Petrosjan?
Nun gut, mit meiner Welt- und Wortgewandtheit gelang es mir spielend, meine Aufgeregtheit zu überspielen. Ich parlierte fröhlich weiter, unter meinesgleichen (so etwas nennt man auch Gotteslästerung). Petrosjan fragte, woher er, Gary, mich kennte, und ich Scharlatan hab mich jetzt verraten: Natürlich fragte er auch Russisch. Aber ich erkannte an Wortfetzen, was er gefragt haben musste, hehe, doch kein Scharlatan. Gary antwortetet unter anderem: „Studentik Olympiad“ oder so etwas. Und das war offensichtlich, wo wir uns vorher gesehen hatten.
Also, ich durfte „meinen Freund“ zum Abschluss noch fragen, ob er plane, im nächsten Zyklus bereits Weltmeister zu werden, und er antwortete, selbstverständlich mit „Sure, I try.“ Dann ging sein Flieger nach Amsterdam, die drei spielten das berühmte Großmeisterturnier in Tiburg/Holland.
Der Zyklus ging damals immer über drei Jahre. Und wer war der nächste Weltmeister?