Kapitel muss umgestellt werden; Vorbericht, Spielbericht hintereinander, Gedanken/Beobachtungen während des Spazierganges und während der Sportschau!
Was wäre wenn … ein Mensch einfach so ein Bundesliga Spiel schauen würde?
Zu meiner Person: so ungern man es sich vielleicht selbst eingesteht, aber man kann mich kaum anders als einen „Durchschnittsbürger“ bezeichnen, Mitte 40, verheiratet, zwei Kinder, normaler nine-to-five Bürojob, ordentliches Einkommen, gewisse Aufstiegsperspektiven im Job – da steht ein höher dotierter Posten offen, für welchen ich in den Kreis der Kandidaten gelangt bin und es sieht wirklich gut aus, wie ich von einem Kollegen erfahren habe –, ich wohne ein kleines Stück außerhalb der Stadt, in dem Einfamilienhaus, mit welchem ich mir und meiner Familie vor einigen Jahren einen Traum erfüllte, zahle aber selbstverständlich noch die nächsten 22 Jahren die Raten.
In meiner Kindheit habe ich selbst im Verein Fußball gespielt, kam sogar in die Auswahlmannschaft in der B-Jugend, was jedoch dann einmalig blieb. Nach der A-Jugend war Schluss für mich, das Studium in einer anderen Stadt, der Zeitaufwand zu hoch und die Perspektiven so, dass man vielleicht in der zweiten Männermannschaft gut untergekommen wäre, in einem immerhin regional doch gar nicht mal so schlechten Verein. Der Ausblick? Vielleicht eines Tages in die Erste dort? Nein, es kam nicht in Frage, allein schon durch den Ortswechsel.
Sport betreibe ich immer noch, fahre täglich Fahrrad, gehe joggen oder schwimmen – wenn, Letzteres mit den Kindern –, aber weder vereinsmäßig noch wettkampfmäßig, dafür fehlt einfach die Zeit. Allerdings habe ich mal bei einem Mini-Triathlon teilgenommen. Das hat riesig Spaß gemacht und wenn, dann würde ich mich auf so etwas konzentrieren.
Einen Lieblingsverein habe ich zwar auch irgendwie, von klein auf, aber so recht als Anhänger kann man mich nicht bezeichnen. Einen ganz direkten Bezug habe ich einfach nicht aufrecht erhalten, weder zu dem Verein noch zum Fußball. Sportschau schon, wenn es mal passt, später das aktuelle Sportstudio, ok, aber es ist alles andere als ein Pflichtprogramm. Über den Sportteil der Tageszeitung bin ich natürlich immer so weit am Ball, dass ich die Tabelle halbwegs kenne – die Bayern, wie immer, und soll das spannend sein oder wie? –, die wichtigsten Transfers, die Trainerentlassungen – und das ist wirklich heftig in den letzten Jahren, wie schnell man nervös wird in den Vorstandsetagen und wie schnell der Heilsbringer zum Versager wird, aber, angeblich ist das so in dem „großen Geschäft Bundesliga“. Wobei dieser Ausdruck mich im Prinzip schon ein wenig stört. War das alles nicht mal als „die schönste Nebensache der Welt“ bezeichnet worden? Nein, das so „hoch Professionelle“ daran ist es, was einem den Spaß verdirbt – und ich spreche nicht mal ganz für mich alleine.
Im Stadion war ich ewig nicht mehr. Wenn ich meine Eltern besuche, ok, dann gehe ich mal mit meinem Vater zu meinem Heimatverein – gar nicht mal schlecht, wie die zur Zeit spielen und möglich sogar, dass sie den Aufstieg in die dritte Liga eines Tages packen –, und wir erinnern uns an die „guten alten Zeiten“. Mein alter Trainer ist auch im Stadion, versteht sich, aber er schüttelt eher den Kopf darüber, wie sich alles so entwickelt hat.
In ein großes Stadion, zu einem Bundesligaspiel? Nein, kommt eigentlich gar nicht mehr vor. Einmal war ich auf Geschätsreisen in Stuttgart mit einem dort ansässigen Kollegen, der hatte ein paar VIP-Karten. Das war zwar toll, aber die meiste Zeit haben wir oben bei den Köstlichkeiten verbracht. Vom Spiel selbst habe ich nicht viel mitbekommen, aber ein paar alte Haudegen hautnah zu erleben – ich konnte sogar kurz mit Hansi Müller reden – hatte trotzdem etwas.
Ach, einmal noch war ich mit meinem Sohn. Der kickt auch ein bisschen und ich meinte, einmal müsste er auch ein großes Spiel, ein richtiges Bundesligaspiel erleben. Er war aber etwas quängelig den Tag, die Tochter war auch mit, das war etwas anstrengend, weil sie es mehr mit Pferden hat, und so war er nicht richtig zu begeistern. Vielleicht war es auch nur Pech, dass das Spiel 0:0 ausging? Jedenfalls haben wir das nicht wiederholt. Er spielt lieber als dass er schaut, aber ist mir auch recht so.
Nun hatte ich eine Woche „familienfrei“ – die waren zu den Eltern meiner Frau gefahren — und sogar noch zwei Urlaubstage, die ich irgendwann vor April „abbummeln“ musste. Abgesehen von der ohnehin mal fälligen Erholung hatte ich diesen Entschluss gefasst: mit dem Zug zum Auswärtsspiel der „Lieblingsmannschaft“ und ins Stadion. Das musste einfach mal sein und ich war sogar ein wenig aufgeregt. Mit dem Zug war mir lieber, weil immerhin könnte man sich dann auch ein Bierchen genehmigen und außerdem mit Parkplätzen und Anfahrt und so, das war mir ein wenig unheimlich. Abgesehen davon die Entspannung im Zug aber auch ein paar mögliche Begegnungen, die man im eigenen Auto nicht hätte?
Der Zug sollte mich in die Stadt bringen, regional war für Anschlüsse gesorgt, dass hatte ich mir rausgesucht, war aber auch selbstverständlich. Schließlich gab es immer ein paar Fangruppen, die ebenfalls mit dem Zug anreisten, selbst wenn nicht von meinem Wohnort aus.
So ging es also eigentlich recht frohen Mutes los, am frühen Samstagvormittag. Von mir aus waren es gut 400 km, aber der ICC ist ja recht schnell unterwegs und ab Mannheim, wo ich umsteigen musste, hatte ich sogar einen reservierten Sitzplatz. Bis dorthin ging alles glatt und reibungslos, ich traf nur beim Gang zur Toilette zwei Fans meiner Mannschaft im ersten Zug, welche an den umgehängten Schals zu erkennen waren. Es kam kein Gespräch zustande, ich schnappte nur kurz beim Vorbeigehen auf, dass sie sich bald mit anderen Fans treffen würden.
Am Umsteigebahnhof ging ebenfalls alles glatt, wobei man hier schon mehr Fans vorfand, die teils doch recht geräuschvoll auf sich aufmerksam machten. Es war aber so weit alles friedlich und freundlich, kein Problem weiter.
Ich schlängelte mich durch zu meinem reservierten Sitzplatz. Alles gut, es konnte losgehen. Obwohl es ein ICC war – und, wie ich allmählich erfuhr, gab es einen weiteren, reservierten Sonderzug, der kostengünstiger war –, waren dennoch vor mir ein Tisch mit Fans und auch ein weiterer links gegenüber, mit jeweils vier Fans. Diese schlossen sich bald zusammen und man hatte den Eindruck, sie kannten sich, zumindest vom Sehen. In weiter hinten liegenden Abteilen, so konnte man bald recht gut hören, waren zahlreiche weitere Menschen mit dieser Anhängerschaft.
Selbst wenn ich den zu kurzen Nachtschlaf gerne bei der zweieinhalbstündigen Zugfahrt ausgedehnt hätte, so war dies aber a) gar nicht möglich, wegen der Geräusche, aber b) ich auch gar nicht mal so böse darüber, dass keiner der mich umgebenden Fans sich darum mühte, sein Organ dezent auf Zimmerlautstärke zu halten. Nein, es wurde laut und weithin vernehmlich gesprochen – was ich aber dann allmählich mehr und mehr zu schätzen wusste. Ob man nun nicht weghören konnte oder nicht weghören wollte spielte keine Rolle: man bekam mit, was so gesprochen wurde.
Es darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass das berühmte „Vorglühen“ keineswegs eine rein verbale Erfindung ist. Selbst wenn die meisten noch nicht gefrühstückt hatten und dafür vorgesorgt hatten, indem alles mögliche Essbare dabei war, so waren es doch die Flüssigkeiten, die im Vordergrund standen – und zwar mit mehr oder weniger Prozenten ausgestattet. Bier war keine Frage, das war immer darunter, aber es gab auch härtere Sachen, wobei hier schon ein wenig „Kultur“ zu beobachten war. Es waren nämlich auch zwei Mädels darunter – später kamen aus den hinteren Abteilen sogar noch ein paar hinzu, männliche und weibliche, im Wechsel, und merke: je feuchter, je fröhlicher – und diese hatten ein paar Piccolos dabei, wovon sie den sich allmählich merklich annähernden männlichen Kollegen duchaus bereitwillig etwas abgaben.
Zum Thema Kultur noch: es gab einen ausgewiesenen Whiskey-Kenner, der mit dieser Fähgikeit bei den Mädels am besten punkten konnte. Denn auch sie waren diesem Getränk gegenüber nicht abgeneigt und hatten sogar einen ausgewählten – jedoch vorsätzlich umgefüllten und so nicht erkennbar – guten Tropfen dabei, dessen Herkunft der Kenner erraten sollte. Was auch immer dabei herauskam, der Mann bestach durch profundes Wissen, selbst wenn er die Marke nicht exakt erraten konnte. Wie sich zeigte hatten aber andere Mitfahrer ebenfalls ein paar kleine „Überrschungen“ in flüssiger Form parat: gute Tropfen, gut umgefüllt, und gerne in der Runde ausgeschenkt.
Die Laune wurde immer besser, selbst wenn dies nicht ganz zum Vorteil der Lautstärke und somit der noch immer reichlich vorhendenen anderen Mitfahrer wurde. Man könnte fast sagen: die Gruppe, hier und da verstärkt aus anderen Waggons, hatte sich zur Aufgabe gemacht, den gesamten Zug gut zu unterhalten. Man konnte nicht weghören und eigene Gspräche führen war quasi unmöglich gemacht.
Dennoch hatten die Leute nicht nur den Whiskey-Kenner zu bieten. Auch sonst war das intellektuelle Niveau keineswegs so niedrig, wie man es vielleicht erwarten würde? Die Mädels würde man nicht auf den ersten Blick als „ausgemachte Schönheiten“ bezeichnen können, aber wenn man mit geschlossenen Augen lauschte, dann war da schon so eine Art Flirtmuster zu erkennen, die Stimmen angenehm-sympathisch. Abgesehen davon, dass Elton zwar per T-Shirt Aufdruck kundtat, dass man sich ihn nicht schön trinken müsse, gab es ja noch immer dieses „Stilmittel“, von welchem reichlich Gebrauch gemacht wurde. Zusammengefasst: für die Jungens waren diese Mädels spätestens um 10:45 „bildschön“.
Es kam sogar zum Rufnummernaustausch und selbst hierbei konnte man ein gewisses Geschick erkennen. Es wurde ein beliebiger Vorwand gewählt, der sich aus den Gesprächen ergab. „Ach, das mit den Piercings und Tattoos würde mich auch interessieren, wie könnte ich da an was rankommen?“ und umgekehrt stand logischerweise das gemeinsam erkannte Interesse an ausgewählten irischen Whiskey-Sorten im Vordergrung. Der Austauch hatte demnach eine „rein geschäftliche“ Basis – ist doch aber nicht doof?
Übrigens hatte der Whiskey-Kenner durchaus das Zeug zu mehr, wie sich allmählich herauskristallisierte. Und dieses Zeug sich sogar nutzbar gemacht. Denn: irgendwie schien es Beziehungen nach weiter oben zu geben. Wie auch immer das organisiert ist, aber es gibt ja wohl Fansprecher und solche, die mit dem Vorstand des Vereins in Bezug stehen? Jedenfalls war er einer davon und meist so eine Art Wortführer, aber keineswegs, wie man nach längerem ungewollten Lauschen sicher sein konnte, einer der unangenehmen Art, beinahe in die Richtung „durchaus empathisch“ gehend. Sicher, laut schon, angeheitert, to say the least, aber mit Humor und Verstand ausgestattet und die kernigen Sprüche hatten auf jeden Fall einen gewissen Unterhaltungswert.
Man erfuhr weiterhin, dass einer mit Piercings Karriere machen wollte, ein anderer über die Vereinshomepage Tattoos anbot, mit welchen man die enge bis hin zu „ewiger Liebe und Treue“ gehende Beziehung zum Verein unverwüstlich, überall und dauerhaft sichtbar machen könnte. Auch hier eine Art Geschäftsidee, mit der Zustimmung der Vereinsverwntwortlichen, wobei noch ein letztes „Ok“ ausstand. Gar nicht mal so blöd.
Ansonsten erfuhr man aber auch eine ganze Menge. Nicht nur wurden einem gewisse Spielernamen ins Gedächtnis gerufen, ein paar besonderes gelungene Auswärtsfahrten mit den dazugehörigen Siegen, ein paar andere Erfolge aus grauer, aber doch unvergessener Vorzeit, die wenigen Europapokal Auftritte mit dem tragischen Ausscheiden, aber auch der einen Fahrt nach Kristiansand in Norwegen, von welcher jedoch nur ein einziger der Anwesenden berichten konnte, weil er dabei war, und sich damals, mit ihm, die Fangemeinde auf handgezählte 128 Mann belief.
Aber man erfuhr auch, warum die Deutsche Bahn den Anhängern keine Sonderzüge mehr anbieten wollte. Nur, weil sie angeblich einen zerlegt hätten?! Nur hörte sich dies aus deren Perspektive ganz anders als in den „breaking news“ von der Affäre damals an. Denn: sie wurden eingepfercht, weil irgendwo jemand eine Fahne gezündet haben soll und wurden dann stundenlang festgehalten. Da müssten sich diese Idioten nicht wundern, wenn man irgendwann die Körperkräfte zum Aggressionsabbau einsetzt und ein paar Türen aufbiegt? Dass man so nebenbei bei diesen alten, eh schrottreifen und deshalb ihnen angebotenen Zügen die Polster aufschlitzte, hätten sie allein ihrer Gemeinheit zu verdanken und hätte zudem nicht den geringsten Schaden angerichtet. Schrott bleibt Schrott oder so ähnlich. Von “Aggressionen“ war übrigens nichts zu spüren bei der Erzählung. Es wurde feixend erzählt, in gewisser Weise als Ruhmestat eines jeden, der dabei war.
Die nebenbei angebotenen Witze waren übrigens fast durchgehend wohl ersonnen und ordentlich vorgetragen, da konnte man nicht meckern. „Lieber ne Stumme im Bett als ne Taube aufm Dach“? Wer könnte da widersprechen? Es erschien einem bald so, als ob sie dieses Unterhaltungsprogramm nicht zum ersten Mal abspulten? Man darf doch auch ein wenig Werbung für die Fankultur machen? Und tatsächlich konnte man eine gewisse Kultur, selbst bei böswilligen Absichten, nicht verleugnen.
Das Reiseziel war irgendwann erreicht, damit aber noch lange nicht das Stadion. Als wir nun alle ausstiegen sah man am Bahnsteig erst, wie viele weitere Fans in den anderen Waggons waren. Es gab ein gewisses Gedränge Richtung Ausgang, wobei ich mich bevorzugt fern hielt, jedoch konnte man gut erkennen, dass einige ihre Verträglichkeitsgrenze bereits weitest gehend ausgeschöpft hatten. „Oberkante Unterkiefer“ so etwa. Das war nun alles andere alss erfreulich. Nicht nur, dass man sich um die Gesundheit sorgen konnte, man fragte sich, wie das wohl weiter gehen würde bis zum Stadion? Man konnte in etwa so weit extrapolieren, dass man sicher sein konnte, dass ein gutes Viertel das Ergebnis erst am Montag früh erfuhr. Der Sonntag müsste der „Regeneration“ vorbehalten sein?! Die Frage kam, aber nur am Rande, selbst gestellt auf: ist am Ende vielleicht der Fußball das „Randgeschehen“, welches der Fan irgendwie „in Kauf nimmt“ um sich in Gruppen unter Seinesgleichen aufhalten zu können und dafür lediglich eine „Bühne“ gefragt ist, für welche denn nun mal notgedrungen ein Fußball Stadion ausgewählt ist? Nun ja..
Auf dem Bahnhof selbst wurden von den Fans reichlich Plastiktüten herumgeschleppt, welche durch verräterisches Klappern und Klirren auf die Inhalte Rückschlüsse zuließen: meist geleerte Bierdosen oder –flaschen. Natürlich wollte man das Pfandgut nicht herschenken. Aber wenn sich mal zufällig eine volle eingeschlichen hätte : mit begrenzeter Haltbarkeitsdauer, was die Fülle angeht. Man kann irgendwie verstehen, wenn so etwas bei der Restbevölkerung gewisse Schatten auf das Renommée wirft.
Weiterhin verwunderte es in dem Zusammenhang dann deutlich weniger, dass man weiter vorne zum Ausgang hin bereits auf die ersten Polizei Eskorten traf. Nein, die sollten schon lieber begleitet ins Stadion gelangen, das war gut nachvollziehbar. Wobei ja noch immer der öffentliche Nahverkehr vorhanden war, auf welchen ich mich zu stützen gedachte.
Ich versuchte also, mich so gut es ging fern zu halten, denn rein äußerlich war ich nicht als Anhänger oder überhaupt Stadiongänger zu erkennen – und hatte auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Ich wollte dennoch den von diesem Zug – offensichtlich derjenige, welcher zeitlich perfekt geeignet war – ausgelösten Ansturm abwarten und schlich mich davon in ein kleines Lokal am Rande, um einen Kaffee zu mir zu nehmen. Dennoch konnte man von da aus das weitere Geschehen – ob vorsätzlich, willentlich oder keines von beidem – beobachten.
Verwunderlich war es nicht, dass es mit der Polizei zu gewissen Konfrontationen kam. Es wurde lauter, hektischer und sogar ein wenig aggressiver. Logischerweise war ich nicht der einzige Nicht-Fan, der sich am Bahnhof befand. Man wurde das Gefühl aber nicht los, dass alle unter diesem Eindruck standen. Persönliche Gespräche fanden gar nicht mehr statt, man wollte möglichst unauffällig bleiben und man wartete mehr oder weniger nur darauf, dass sich das Ganze hier auflöste – um dann allgemein durchatmen zu können und sich wieder seinen vorherigen Tätigkeiten widmen zu können. Es war, um es vielleicht so deutlicher zu machen, eine recht eigentümliche Atmosphöre.
Durch die Begegnung im Zug war mir dennoch auch die andere Seite viel verständlicher geworden. Was mir klar wurde: Fußball mag noch immer als „Proletensport“ gelten, was aber nicht heißt, dass man zuerst Prolet werden muss, um sich einer Fangruppe anschließen zu dürfen.
Mich sollte die U-Bahn zum Stadion bringen und da sich die Fans aus meinem Zug allmählich – demnach wohl polizelich angeleitet – so weit verdünnisiert hatten, ging das recht ordentlich und bequem. Wenn weitere Fans in der U-Bahn, dann lediglich der Heimelf, welche vom „Vorglühen“ nicht betroffen waren. Man war ja zu Hause und musste nicht weit reisen, wo man denn auf andere Überbrückungsgedanken käme.
Am Stadion selbst gab es nun diese mir gar nicht erinnerlichen (war das früher schon so oder wie war es?) Einlasskontrollen, mit Leibesvisitation. Glücklicherweise hatte ich nichts dabei, was einkassiert wurde, aber so ein tolles Gefühl ist es auch nicht gerade, wenn man hier als ganz normaler Durchschnittsbürger ins Stadion will und mehr oder weniger unter Verdacht steht, irgendwas anstellen zu wollen? Man mag es verstehen und hinnehmen, nur lädt es nicht gerade zur Wiederholung des gesamten Vorganges ein.
Ich hatte ganz normale Karten, Sitzplatz, Unterring, Kurve, aber nicht unter Fans eben, weder jenen noch solchen. Man konnte dennoch gut beobachten, wie sich die Fans der beiden Mannschaften schon vor Anpfiff mit Gesängen „heiß machten“. Die Inhalte waren nicht nur freundlich. Man war sozusagen in Kampfeslaune. Wobei eine gewisse Aggressivität darin schon spürbar war. Selbst wenn also umgeben von reichlich „ganz normalen Zuschauern“, so war es trotzdem alles andere als eine Wohlfühloase. Die ausgerollten Spruchbänder verhießen ebenfalls, dass diese beiden Anhängerschaften wohl eine längere Vorgeschichte haben und sich nicht eben freundlich gesonnen sind.
Bei Anpfiff veränderte sich dieses Bild recht abrupt. Irgendwie schien es doch insgesamt ein wenig um Fußball zu gehen? Das hatte ich in den letzten Stunden auch selbst beinahe schon vergessen. Wobei mir bei den Mannschaftsaufstellungen, die verlesen wurden, aber auch auf der Videoleinwand eingeblendet waren, auffiel, dass ich kaum einen Spieler mehr wirklich kannte. Weder von dieser, noch von jener Mannschaft. Sicher, schon, die Namen hatte man alle gehört oder gelesen, keine Frage. Aber ein ordentliches Profil? Dass man wüsste, wie der Mann spielt, wo er herkommt, wie lange schon in dem Verein, welcher Abstammung er ist, wie alt, wie viele Tore, ein Spitzname vielleicht? Eher so: doch, den kenne ich. Der war doch aber letzte Saison noch in Hoffenheim? Ich wartete auf das mir einzig wirklich vertraute Urgestein, mit welchem man vielleicht am Rande noch eine Art Identifikation aufbauen könnte, auch, weil er ein bisschen mehr als andere für Vereinstreue und Fairplay stand (ein Zusammenhang? Doch, vorstellbar?), tat dies aber vergebens. Wie ich auf Nachfrage erfuhr, hatte er sich unter der Woche im Training verletzt. Da hatte ich mich dann aber nur mittelmäßig blamiert – denn der Befragte konnte ja nicht ahnen, dass der Gästeverein „meiner“ war…
Ich las dennoch aufmerksam die Namen — hören war schwer, denn bei der Heimaufstellung ging es meist unter in einer Art von Jubel oder Gemeinschaftsschrei, bei den Gästen von ersten Pfiffen begleitet –, von beiden Mannschaften, und fragte mich bei jedem Namen, welcher Nation der Spieler sein könnte. Bei den beiden Japanern war es recht eindeutig, ein weiterer müsste Franzose gewesen sein, einer hätte US-Amerikaner oder Australier sein können – ich hörte später: ein Phillippino –, dann waren ziemlich sicher mindestens zwei, eher drei Afrikaner darunter – man sah ja die Teams auch einlaufen und konnte insofern „mitdenken“ –, und bei den spanisch klingenden Namen konnte man natürlich sowohl Spanien als auch Südamerika annehmen.
Ok, endlich war es so weit: der Ball rollte. Das erste Pfeifkonzert nach etwa drei Minuten. Hartes Einsteigen eines Gästespielers – ich wagte nicht, sie als „meine Mannschaft“ zu bezeichnen und so richtig war sie es ja eh nicht –, welcher ohne Gelb davon kam. Es hört sich recht gewaltig an, so ein Pfeifkonzert, aber wenn man sich umschaut, dann findet man direkt nur wenige, die sich selbst beteiligen. Dennoch: irgendwas schien ja Menschen zu verärgern, dachte ich so bei mir. Kommen die deshalb hierher? Oder hoffen sie immer auf ein faires Spiel und ein paar schöne Tore, wie früher mal, stellen aber nach wenigen Minuten fest, dass „früher nich mehr is und heute heute is“?
Obwohl mein Platz nicht ideal war, konnte ich doch gut sehen, wie die Mannschaften sich um die Mittellinie herum bewegten. Beide rückten also hoch heraus hinten, womit die 20 Feldspieler auf einen Bereich von 40 Metern zusammen gedrängt waren. Sobald jemand jedoch diesen Rahmen verließ und ein langer Ball auf ihn gespielt wurde, ging die Fahne hoch. Ob Abseits oder nicht: ist das der moderne Fußball, musste man sich fragen? Es ist alles nur noch Taktik. Die dürfen gar nicht mehr spielen, also sollte man das vielleicht aus dem Namen entfernen? „Lass uns ein bischen Fußball spielen gehen.“ „Du meinst sicher: Fußball arbeiten gehen?“
Falls man es positiv ausdrücken wollte: beide hielten die taktischen Vorgaben in dem Sinne perfekt ein, dass es zu keinen Torchancen kam. Die Abseitssituationen hatten regelmäßig ebenfalls die Pfiffe zur Folge. Aus meiner Position hätte ich bestenfalls sagen können: „Es war eng.“ Die Pfiffe der Fans deuteten an: vielleicht war es gar keines?
Ich erkannte allmählich: es ging nur über die Standards. Eine Kunst war es, irgendwie in Strfraumnähe zu gelangen, mit individueller Klasse, ein Foul zu provozieren oder, per beliebigem sinnlosen Abschluss oder Flankenball eine Ecke zu erzwingen. Es gelang selten, aber wenn, hatte man das Gefühl, dass es eventuell mal zu einer Torsituation kommen könnte. Ein Freistoß aus 40 Metern von der Außenposition war dabei bereits ziemlich „höchstes zu erwartendes Drama.“ Immerhin rückten nun einige Spieler auf und stellten sich viele Rote – das waren „meine“ – am Strafraum auf, um in den langen Ball hinein zu laufen. Der Ball tauchte dann wirklich in Tornähe auf, und das zwei Mal in den ersten 25 Minuten! Wobei: beim ersten Versuch ging dennoch die Fahne hoch wegen Abseits – konnte man überhaupt nicht erkennen, aber möglich natürlich, dass einer der durchstartenden den Oberkörper vorne hatte – und beim anderen Versuch, als alle sich zum Ball hechteten, war es angeblich ein Stürmerfoul.
Nach 28 Minuten der erste gefährliche Abschluss. Allerdings drüben und von Weiß. Schwer zu erkennen, aber am erhöhten und veränderten Geräuschpegel auszumachen: das war sehr, sehr knapp. Ob Keeper mit den Fäusten dran oder Pfosten war nur zu erahnen. Aber: es war kein Tor. Auch die erste richtig gefährliche Flanke kam drüben in den Strafraum. Wobei man auch dies vornehmlich der Geräuschkulisse entnehmen konnte, was den Grad der ausgelösten Gefahr anging. Was auch immer gewesen sein mag: die Anspannung entlud sich bald in Pfiffen. Irgendwas soll demnach wieder irregulär gewesen sein? Allerdings war die Chance ohnehin schon vorüber.
Überhaupt fiel mir auf, dass bei den immer wieder mal vorkommenden Abseitsentscheidungen sich jedes Mal ein Pfeifkonzert entlud. Mal kam es aus dieser Ecke, mal aus jener. Ich konnte mich da natürlich überhaupt nicht einmischen, was die Richtigkeit der Entscheidung anging, dennoch musste ich zumindest darüber sinnnieren: erstens konnte ich mir kaum vorstellen, dass die Leute pfeifen, wenn es erkennbar Abseits wäre. Man würde in etwa so sagen und empfinden: „Schade, der war schön frei, aber es war nun mal abseits. Vielleicht hätte der Pass einen Moment früher kommen müssen.“ Also würde man eher eine Art „Ooouuuhhh“ zu hören bekommen, für dieses „schade, knapp, aber richtig.“. Die Pfiffe lassen, trotz des vielleicht einseitigen Blickwinkels, zumindest darauf schließen, dass es nicht zwingend jeder so gesehen hat, dass es also „eng“ war. Sehr eng sogar. Und mit ein bisschen guten Willen vielleicht kein Abseits? Gab es da nicht mal so eine Klausel in den Regeln, im Zweifel für…?
Das Sinnieren wollte gar nicht aufhören. Zugegeben, die Atmosphäre war irgendwie angespannt, sicher, und um mich herum brodelte es sogar spürbar ein wenig, auch bei den wesentlich gesitterteren Zuschauern. Deren Anhängerschaft war klar: das Heimteam. Aber dass ihnen auch irgendwas gegen den Strich ging war spürbar. Man hörte aus der Nähe oftmals empörte Zwischenrufe. Wann immer eine jener kritsischen Entscheidungen fiel sah man aufgebrachte Gesichter. Ich entsann mich, wie man früher oftmals eine tolle Szene zu sehen bekam, den Abschluss, die Parade, und allseitiges Klatschen, egal ob für die oder für jene, das hatte gefallen, das war guter Fußball. Auch die vorfreudig erregten Gesichter kamen mir in den Sinn, die man um sich herum sah, dass da etwas Tolles geboten wird und dass man das einzigartige Glück hatte, hier dabei zu sein. Mir fiel auch auf, dass man kaum Jugendliche vorfand. Sollten die etwa alle in der Fankurve stehen? Was war denn mit dem Nachwuchs? Ging es ihnen etwa allen so wie meinem Sohn? Klatschen? Gab es einmal, als ein Abwehrspieler von Weiß mit einem absolut fairen Tackling den Ball und NUR den Ball spielte. Rettung in höchster Not, gekonnt, fair. Das hatte was mit Fußball zu tun. Selbst wenn nur eine Defensivaktion.
Der Halbzeitpfiff wurde eher von Unmutsäußerungen begleitet. 0:0. Der übliche Pausenstand? Unzufriedenheit überall. Es waren nicht unbedingt Pfiffe, es war eher so ein Gemurmel, jeder hatte etwas zu diskutieren und nun die Gelegenheit dazu. Wenige Torchancen, absolut ausgeglichen, ein paar kritische Entscheidungen, mal so rum, mal so rum. Also nicht irgendwie einseitig ungerecht oder so. Was mich hätte begeistern können war allerdings auch nicht vertreten – und ich würde doch annehmen, dass noch mehr Zuschauer da waren, die nicht nur reinen „Ergebnisfußball“ sehen wollten? –, so dass doch schon mal die kritische an mich selbst gerichtete Frage auftauchte: „Warum hast du das eigentlich gemacht?“ Den Gang zum überbesetzten Bierstand sparte ich mir auch. Es war kühl geworden, weil die Sonne hinter Wolken verschwunden war an einem bisher eigentlich erfreulich angenehmen Frühlingstag.
(eine Anmerkung sei hier gestattet, die nicht ganz in den Rahmen passt wieder in meinem trauten Heim angekommen beschäftigte mich die Frage, wie viel Prozent der Spiele denn zur Pause 0:0 stehen würden; es kam heraus: in der Bundesliga waren es in den letzten Jahren 27.33%, international hingegen mit 30.87% etwas mehr: so sollte man also meinen, dass es in der Bundesliga doch weiterhin etwas spannender zugeht als anderswo? Die Frage kam natürlich deshabl auf, weil mir die Highlights fehlten, das 0:0 „normal“ erschien und man sich auch sonst die Frage stellen musste, durch welches kleine Wunder eigentlich ein Tor fallen sollte; das Empfinden war jedenfalls nicht so: es liegt eines in der Luft. Das 0:0 war, ganz nebenbei bemerkt, tatsächlich das häufigste Halbzeitergebnis. 45 Minuten lang kein Tor. Soll das Spaß machen?
Die zweite Halbzeit hatte nicht so viele Veränderungen zu bieten. Man darf ruhig darauf aufmerksam machen, dass die Pfiffe auch jede der Freistoßsituationen begleitete, welche vorrangig für die „Torszenen“ gesorgt hatte, natürlich in ihrer Entstehung. Klar: die Fans pfiffen, weil ein Foul noch immer als Unsportlichkeit und Regelverletzung anzusehen wäre? Dennoch geschach ja das Foulspiel. Versprach sich der das Foul verübende einen Vorteil davon? Vermutlich ja, aber falls tatsächlich ja: warum wäre es eigentlich so, dass man besser abschneidet, wenn man die Regeln verletzt? Irgendwie schien es mir da ein Missverhältnis zu geben. Eine Schieflage im Regelwerk? Warum lohnt es, zu foulen?
Das höchste Ziel war es demnach, seinem Gegenspieler einen derart gelungengen Trick vorzusetzen, dass dieser die sich sonst anbahnende Torsituation nur per Foulspiel unterbinden konnte. So hatte man also „einen Freistoß herausgeholt“. Falls der Trick noch besser gelungen wäre, so dass das Foulspiel den Aufdruck „übel“ bekäme, so war eine Art „Traumziel“ erreicht. Nämlich: der Gegenspieler bekäme den gelben Karton – insgesamt drei Mal in Hälfte 1 , nicht alle für Foulspiel – unter die Nase gerieben. Der profitable Anteil daran: falls einem also inder 72. Minute erneut ein derartiger Durchbruch gelingen sollte, so würde der Gegenspieler zwar nicht auf das Foulspiel verzichten dürfen – aus ergebnistechnischen Erwägungen –, käme danach aber in den Genuss eines früheren Feierabends, welchen er unter der Dusche einläutete: „marching order“ nennt das der Engländer.
Es sei denn, der Schiri würde beim zweiten Vergehen das dann plötzlich medial eingeforderte „Fingerspitzengefühl“ an den Tag legen, weil ein Platzverweis ist denn doch wieder etwas zu hart?! Oder aber wäre der gelb Verwarnte Spieler vielleicht schon ausgewechselt gewesen, da der Trainer die Gefahr erkannt hätte, so dass der neuerlich foulende noch gar nicht verwarnt wäre? Hmmm…
Die sich daraus ergebende Frage lautete jedoch: wie wäre es eigentlich, wenn man statt dieser Standardsituation den durchgebrochenen Stürmer sehen würde und das, was er aus der Szene machen würde, anstatt diesen Standard zu schauen, dessen Ausführung doch jedes Mal zu Lasten des Spielflusses ging? Irgendwie stellte ich mir vor: das würde Spaß machen. Aber auf so was würde offentlichtleich kein Wert gelegt. Was hätte ich „im Konzert der Großen“ auch für eine Stimme? Wobei das „Konzert“ ja bereits angestimmt war, und zwar jenes der Pfiffe. Diese erschlossen sich mir auf diese Art spielend: die Leute empfanden es so wie ich. Das war Mist, vorsichtig formuliert.
Wenn man einen doch arg verbotenen Vergleich anstellen dürfte – so förderte mein weiteres Sinnieren zutage – und ohne, dass ich da als etwa Betroffener einen Beitrag zu leisten hätte, so gab es ungewollt doch die Assoziation der „Kastration“. Es muss ein ähnliches Gefühl sein, so stellte ich mir vor: alles, was je Spaß machen könnte wird gewaltsam unterbunden. Ein Spieler frei? Gibt es hier nicht. Abseits oder nicht? Wen juckt es? Fahne „sicherheitshalber“ hoch. Denn: einer alleine vorm Torwart, das brauchen wir hier nicht. Oder: ein Spieler, der durchkommt und auf den Torwart zu läuft und davor nicht gefoult wird? Auch nicht vertreten. Der wird vorher und schlimmstenfalls so gefoult, dass man Gelb bekommt. Wenn du Tore sehen willst, kannste aufn Bolzplatz gehen, hier wird ernster Fußball gespielt, da gibt es so was nicht. Oder so ähnlich.
Auch sonst erkannte man zwar, dass die Spieler enorme Ballfertigkeiten hatte, wenn es mal eine Gelegenheit gab, ihn unbedrängt zu spielen. Jedoch war dies nur in der eigenen Hälfte möglich und da dürfte man es getrost als „ineffektiv“ im Sinne einer Torerzielung ansehen. Sobald es über die Mittellinie ging, gab es auf die Socken. Mir fiel der passende Ausdruck auch dafür bald ein: „Fußball Verhinderung“ müsste der Ernst (nud nicht das Spiel) heißen. Es geht nur darum. Gegner vom eigenen Tor fern halten als oberste Maxime.
Die Wahl der Mittel? Im Grunde egal, Hauptsache der Gegner kann nicht spielen und kommt nicht zu eigenen Torchancen. Ob wir eins machen? Steht in den Sternen, vielleicht per Zufall oder weil sich der Gegner zu sehr locken ließ.
Huub Stevens unser Held. „Die Null muss stehen.“
Herberger kennt keiner mehr. WM-System? Hierß nicht etwa so, weil es 1954 den Titel einbrachte, sondern weil es sich wie ein W und ein M aufmalte. Hinten zwei Verteidiger – und das war es im Prinzip, was „Abwehr“ anging. Die Grundfesten des „W“. Danach kamen schon die drei Läufer. Die Spitzen des „W“. Mittelläufer, linker Läufer, rechter Läufer. Rauf und runter, sicher, aber die Offensive kam sicher nicht zu kurz, wenn man viel läuft.
Dann das „M“ aufbauen: linker Halbstürmer, rechter Halbstürmer, Mittelstürmer. Grundfesten des „M“. Und dann noch die beiden Außenstürmer, das „M“ schließt sich. Ja, das war noch Fußball. Ziel des Spiels? Davon hat Stevens auch mal gehört, bei einer ungehemmten Plauderei : Tore. Am besten, mehr als der Gegner, aber wenn das mal nicht klappt, nach Abpfiff offen und gerade und abgekämpft, aber lächelnd in die Augen blicken und dabei die Hände schütteln: „Heute wart ihr die Besseren. Glückwunsch.“
In der zweiten Halbzeit gab es noch mehr Unterbrechungen und ich hörte irgendwie den Sprecherkommentar aus dem Livespiel auf meinem geistigen Ohr: „Das Spiel wird intensiver“. Das hieß übersetzt: noch mehr Fouls als vorher? Ich erklärte mir: jeder wusste, dass das nächste Tor entscheidend sein könnte, also bloß ja keines zulassen. Und wie täte man es besser, als den Gegener mehr und mehr in Zweikämpfe zu verwickeln, gerade, wenn er droht, die Oberhand zu gewinnen?
Das Spiel selbst gab also nicht so viel her, jedenfalls nichts, was man als sehenswert bezeichnen könnte. Der nächste Kommentar, den ich hörte, war dieser: „Das Spiel lebt von der Spannung.“ Das war sogar positiv ausgedrückt. Allerdings hieß es auch: schön war es nicht.
Ich beobachtete die Menschen um mich herum, suchte verzweifelt nach „Lichtblicken“, wobei es eine hübsche Frau schon getan hätte, aber die eine einzige, die ich entdecken konnte, war turtelnd mit ihrem Freund beschäftigt und ich wage die Behauptung: er hatte zwar Riesenglück, aber das Spiel selbst ging ihm ziemlich am Allerwertesten vorbei.
Nebenbei stellte ich weitere Überlegungn an: die Fanlager wechselten sich mit den Piffen ab. Mal waren es diese, mal jene – und ab und an mal beide, weil die Szenen insgesmat hässlich waren und einer zwar gefoult hat, der andere sich aber theatralisch und viel zu heftig wälzte und damit wohl hoffte, Gelb erzwingen zu können?
Ich hatte entfernt das Stichwort „Gerechtigkeit“ im Hinterkopf und versuchte, dies mit den Geschehnissen hier ein Einklang zu bringen. Irgendwie schien mir ein Zusammenhang zu bestehen zwischen Aufgebrachtheit und Gerechtigkeitsempfinden. Ersteres dadurch auftretend, dass Letzteres verletzt war. Die Frage wäre demnach: warum fühlen sich eigentlich beide benachteiligt? Was hätte dafür den Anlass geben können? Ist es wirklich nur der durch die Vereinsbrille aufgesetzte verklärte Blick für die Situationen?
Ich spekulierte so vor mich hin: vorhin war es eng auf der Seite wegen Abseits – ohne, dass ich da einwandberechtigt wäre –, etwas später auf der anderen. Mal angenommen, beide Entscheidungen, also diese für Abseits, würden sich im Nachhinein per Standbild in der Videoanalyse als falsch erweisen. Müssten jetzt beide Anhängerparteien ruhig bleiben? Die erste Annahme, auf welche ich kam, lautete: die vereinseigene Brille mag beitragen, dass man es hier als eng und dort als eng und demnach im Zweifel vorteihaft für sich selbst auslegen würde. Dennoch würde man keineswegs und nicht einmal dazu kommen, zu pfeifen, wenn das Spiel im Falle der engen Entscheidung für den Gegner dort das Spiel weiter laufen würde.
Dies brachte die zweite Annahme hervor: wenn er in beiden Fällen laufen lassen würde, gäbe es überhaupt keine Empörung. Man bekäme nicht einmal die Chance, sich zu ereifern. In welchem Moment sollte man denn die Pfiffe anbringen? Es gibt ja nicht „genau den Moment, in dem die Fahne unten bleibt“. Umgekehrt gäbe es nur jenen, wo das Spiel unterbrochen wurde von einem Pfiff – mit jenem die Aufforderung verbunden, an die Fans, es dem Schiri gleich zu tun: „ich habe gepfiffen, jetzt seid ihr dran.“ Die Fanfare, das Erkennungssignal.
Falls nicht unterbrochen wird: der Ball würde weiter rollen. Man wäre angespannt und besorgt, würde vielleicht vor sich hin murmeln, dass der doch abseits gewesen sein könnte, aber man würde es beim Gegner anerkennen und hinnehmen – und hätte keine Gelegenheit zu hörbarer Unmutsäußerung.
Offensichtlich wäre eine Ungleichverteilung natürlich nicht günstig. Also hier laufen lassen und dort abpfeifen, vielleicht sogar wiederholt in der Ausprägung.
Dennoch war die Idee geboren: wenn man im Zweifel für den Angreifer als Anweisung ernst nehmen würde, gäbe es allein deshalb schon mal eine Menge weniger Aufregung und Ungerechtigkeit im gar nicht mal so unerheblichen Volksempfinden.
Meine Gedankenspiele endeten noch immer nicht und ich formulierte für mich so: Ungerechtigkeiten lassen sich auf diese Art nicht miteinander verrechnen. Man könnte niemals von den Fans einer Mannschaft verlangen, dass dann, wenn ihr Spieler frei durch ist, es anerkanntermaßen eng ist, aber der Pfiff des Schirirs ertönt, sie sich nun doch bitte NICHT aufzuregen hätten und ihrem Unmut per eigenen Pfiffen Luft verschaffen mögen, da es vorher auf der anderen Seite ebenfalls eng war und genau so gegen den Stürmer entschieden wurde? Nein, so funktioniert das Gerechtigkeitsprinzip nicht. Sie empfinden es in dem Moment als eng, zugegeben, aber die hochgerissene Fahne als Bösartigkeit, was sie hörbar anzeigen.
Es erinnerte mich nur daran: irgendwie schien es allen doch früher mal Freude gemacht zu haben, wenn ein Tor fiel? Es wird immer wieder so sein, dass die unterbundene Toraktion den Unmut hervorruft. Und wenn es eng ist und die Fahne hoch geht wird man garantiert Pfiffe ernten. Da spielt die spätere Auflösung der Szene keine Rolle. War eng, aber richtig oder war eng, aber falsch: unerheblich. Das Volk hat sein Votum abgegeben: so nicht! Das mögen wir nicht!
Es gab erneut mindestens eine kritische Abseitssituation, auch in Hälfte 2. Auch hier war die Fahne oben. In der 52. Minute – ich saß für diese Aktion günstig – gab es zudem eine äußerst kritische Szene im Strafraum meiner Mannschaft. Nein, da konnte man diese oder jene oder gar keine Brille aufhaben: das war ein Foulspiel. Nicht nur, dass der Stürmer zunächst gehalten wurde, an der Schulter – ganz leicht, unmerklich vielleicht, aber die Tempoverlangsamung sichtbar und woher sonst sollte diese rühren? — , nein, er hatte sich dennoch den Freiraum verschafft, den man zum Abschluss benötigt, aber da kamen die Verteidigerbeine von hinten an, und selbst wenn man mit etwas gutem Willen von „Beine und Ball“ sprechen konnte, die er da traf: das war ein Foul.
Der Pfiff blieb aus. Allerdings nicht der Unmut der Massen. Diesmal wuchs es zum Orkan hin an, welcher durch das Stadion fegte. Selbst als „Begünstigter“ konnte man nicht anders, als dies als Ungerechtigkeit zu erspüren.
Die Atmosphäre war fortan „vergiftet“. Wie entfernt die Verwandtschaft zwischen Schiedsrichtern, Tomtaten und Augen auch sein mag: die Zuschauer kontruierten eine. Nachdem sie ihn vorher nur ans Telefeon gerufen hatten, vermutlich um seine Abkömmlichkeit deutlich zu unterstreichen.
Der Schiri spürte und hörte das sicher. Also wollte er es „wieder gut machen“, weil auch ihm klar wurde, dass (nicht nur) diese Entscheidung nicht die richtige war. Welche Lösung fand er? Als es drüben im Strafraum ebenfalls mal kritisch war – es ging um ein Handspiel bei einer Flanke, als der Abwehrspieler die Arme vom Körper streckte und der Flankenball sich „versehentlich“ dorthin verirrte –, winkte er ganz energisch ebenfalls ab. Nix da. Kein Elfer, hier nicht und dort nicht. Ähnlich wie bei Abseits: jetzt ist aber alles wieder gut? Nein, absolut nicht. Die „Ernte“ war diese: nun waren beide Fanlager gegen ihn aufgebracht.
In der 66. Minute dann die folgende Situation: erneut ein Angriff von Weiß, auf das bei mir stehende Tor „meiner“ Mannschaft. Erneut ein kritischer Zweikampf, der Ball geht aber verloren, der Angreifer geht zu Boden und reklamiert auf „Foulspiel“. Der Schiri pfeift erneut nicht. Alle Weißen waren in der Vorwärtsbewegung, die Heimmannschaft wollte das 1:0 erzwingen, sie hatte sich gewisse Vorteile „erarbeitet“ (früher hätte man sie „erspielt“?). Die Weißen schwärmten blitzschnell mit fünf, sechs Spielern aus, fanden eine ganze Menge Platz vor, spielten es wirklich geschickt aus. Sie waren in Überzahl, noch ein Pass, über außen, eine Finte, Ball zurückgelegt, aus neun Metern aus dem Rückraum über die Linie gedrückt. Das 0:1.
Zur Freude blieb gar keine Gelegenheit, zumal die Szene des Ballverlustes und des angeblichen Foulspiels die Gemüter erneut erhitzte. Es war sicher keines, das war auch mein Eindruck, aber es war sozusagen „the cherry on the icing on the cake“, und falls man dieses Sprichwort noch umkehren könnte – halt mal, gab es doch schon? „Das Fass lief über.“ Was vorher gebrodelt hatte, explodierte nun. Zu viel Druck auf dem Kessel. Wie auch immer. Es stand 0:1. Selbst wenn die Gästefans sich am Jubeln versuchten. Der Krieg war ja schon vorher erkärt worden. Sie wurden gnadenlos niedergepfiffen. Nein, so macht das keinen Spaß.
Auch innerlich wäre mir nicht nach Freude gewesen, aber so oder so hätte ich in diesem Moment unter keinen Umständen zu erkennen gegeben, für welche Mannschaft ich irgendwann mal die Daumen gehalten hätte. Sicherheitshalber, könnte man sagen.
Die Geschichte des Spiels muss ich noch schnell zu Ende erzählen: Weiß machte enormen Druck in der Folge. Der Ausgleich war fällig, das war keine Frage. Wobei die ganz heißen Torsituationen noch immer nicht entstanden und Rot sogar zwei Mal aus dem Konter heraus gefährlich wurde. Allerdings so etwa ab der 80. Minute kam es gar nicht mehr zu Konterspiel. Der Ball konnte kaum gehalten werden und wenn sich irgendeine Szene ergab, dann wälzten sich Spieler in Rot am Boden oder zeigten einen Krampf an. Nein, das war lächerlich und machte noch weniger Spaß als vorher. Die Pfiffe wurden nicht weniger und richteten sich nun gegen die Gästespieler, was aber gut nachvllziehbar war. Nach einem Fehlschuss ein Abstoß? Das dauerte. Ball zurechtlegen, Stutzen hochkrpempeln, Schuh binden oder was auch immer. Bis der Schiri dem Torwart endlich Gelb zeigte – aber sogar das „brachte Zeit“.
Als dann doch noch einmal Rot eine Menge Platz drüber gehabt hätte und sich ein Flankenlauf angeboten hätte, da stellte ich plötzlich fest, dass in der Mitte gar keiner mehr mitlief? Was sollte das? Ach, ich erkannte: es gab einen jener berühmten „Eckfahnenangriffe“. Man „attackiert“ ganz alleine die Eckfahne, mit Ball am Fuß, und stellt dann jenen auf den Ball. Soll der Gegner mal kommen. Und wenn er kommt und den Ball angelt: ich gehe zu Boden. Da krieg ich den Foulpfiff. Nein, es war einfach nur hässlich. Wie sollten denn solche Spieler zu Vorbildern werden oder gar als Helden verehrt werden? Mir wurde nur klar, dass die Fans das als „Vergeltungsschlag“ ansehen dürften, schließlich hätte das der Gegner letzte Woche im Spiel gegen sie nicht anders gemacht. Also nur recht so, tritt auf den Ball und spiele am besten gar nicht mehr weiter. Zeit von der Uhr, der Sieg ist unser.
Nie und nimmer hätte ich mich auf diese Art über einen Sieg freuen können. Und, ich darf es ruhig so sagen, „glücklicherweise“ gab es eine letzte Aktion im Strafraum auf meiner Seite und selbst wenn hier der Sturz als „theatralisch“ gegolten haben mag: der Schiri zeigte sofort und energisch auf den Punkt. Die Poroteste hielten sich in Grenzen.Der Elfer war drin, 1:1, der Schlusspfiff ertönte kurz darauf. In gewisser Weise denn doch ein versöhnliches Ende? Zumindest im Stadion musste man nicht unbedingt mit weiterer Eskalation rechnen.
Ich machte mich vorsichtig und so unauffällig es ging aus dem Staub. Es dauerte zwar einen Moment, aber ich kam doch ordentlich voran und konnte das Stadion gänzlich unbehelligt verlassen. Es war erneut diese etwas eigenartige Atmosphäre, aber letztendlich war durch den „friedlichen Spielasugang“ zumindest insoweit wieder ein wenig Gerechtigkeit eingekehrt. Allerdings war schon zu hören, dass sich die Fans das noch längst nicht gegenseitig „verziehen“ hatten und nun etwa Harmonie und Freundschaft einkehren würde.
Ich schlug eine Route ein, die so gut es ging jenseits der der Fans war. Also keineswegs Richtung U-Bahn, Bus oder Innenstadt. Ich hatte mich spontan für einen Spaziergang entschlossen, natürlich um Unanehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen, aber auch, um mir ungestört ein paar weitere Gedanken machen zu können, was ja angeblich bei frischer Luft und mit sich selbst allein am besten gehen soll? Diese Geschehnisse mussten verarbeitet werden und verlangten eine Art der „Nachbetrachtung“.
Der Spaziergang dauerte etwa 35 Minuten, bis ich eine etwas abseits gelegene, insofern vor allem von einheimischen besuchte, Pizzeria fand, die so weit einladend aussah, dass ich beschloss, meinen Hunger und Durst dort zu stillen. Wärhend der kühle Wind mit mein Gehirn ordentlich durchpustete, spulten sich die Tagesereignisse noch einmal in meinem Kopf ab, dabei von ein paar Gedanken dazu angereichert.
Als erstes diese Frage bezüglich der Fanidentifikation. Womit identifiziert sich der Fan und warum tut er es? Ich kam noch einmal auf die Mannschaftsaufstellungen zurück. Ein international zusammen gewürfelter Haufen, die höchstens eine Art Zweckgemeinschaft bilden. Jeder ist auf seine eigene Karriere bedacht, der ausgewählte „Berater“ handelt gleich nach dem ersten guten Auftritt seines „Klienten“ einen neuen, höher dotierten Vertrag aus. Und wenn die Forderungen nicht umgehend erfüllt werden, klopft man rasch mal bei ein paar anderen Vereinen an. Je besser die Beziehungen des Beraters (heute oft eine Agentur), umso breiter die Palette der Vereine, die in Betracht kommen. Dabei spielt nicht einmal das Land oder die Liga eine Rolle, in welcher der Spieler unterkommt.
Eine internationale Truppe, von denen sich ab und an mal je zwei Spieler sogar in der gleichen Sprache unterhalten können. Herkunft egal, vorheriger Verein, späterer Verein, alles spielt anscheinend keine Rolle für den Fan. Heute trägt er „unser“ Logo auf der Brust – also ist er Teil von uns?!
Nun sind all diese Spieler sicher unheimlich nette Menschen und phantastische Fußballer, darum ginge es nicht. Die Frage, die mich mehr beschäftigte: warum nimmt der Fan dies so hin und bejubelt diese, singt deren Namen mit, während sie verlesen werden? Das frage ich garantiert nicht als Rassist – wobei man ja gemeinhein sogar den Fans zum Vorwurf macht, der rechten Szene anzugehören, insofern die Frage mehr an diese gerichtet. Aber vor allem wegen Teil 2 der Frage eine brennende: ist den Anhängern denn nicht bewusst, dass diese rekrutierten Spieler nicht die geringste Bindung zu dem Verein haben und eine solche, wenn, für die Dauer der Verpflichtung nur voträuschen und nach dem neuerlichen anstehenden Wechsel die gleichen Treueschwüre abgeben und nach dem ersten Treffer das neue Vereinslogo schon wieder mit Spucke besudeln?
Dabei ginge es nicht allein und nicht unbedingt nur um auswärtige Spieler. Die Frage bliebe ja auch im Lande relevant: wie soll denn ein Spieler einem weismachen, dass er nach dem vierten Vereinswechsel in fünf Jahren nun endlich bei seinem „Lieblingsverein“ gelandet ist, für welchen er schon in der Jugend schwärmte?
Irgendwie gibt es so eine Art gängiger These, dass die Fans eher bildungsferneren Schichten entstammen und diese eine Ablenkung vom oftmals frustrierenden Alltag suchen und dort, am Wochenende, im Stadion, ihre Aggressionen abbauen würden. Wie auch immer das geschähe und inwieweit es wünschenswert wäre, sei zunächst einmal dahin gestellt. Der bei mir entstandene Eindruck war ein anderer: ein Stadionbesuch dient zu nichts anderem, als Aggressionen aufzubauen. Man kann einfach nur wütend werden. Und dies betrifft nicht speziell dieses Spiel – welches vielleicht zusätzlich von mir zufällig ungünstig und unglücklich ausgewählt war –, sondern eigentlich jedes Spiel und den Fußball insgesamt. Es geht um so unfassbar viele Kleinigkeiten, bei welchen mal dieser, mal jener einen Grund hat, sich zu ereifern – und bitte gerne wiederholt: in vielen Fällen zurecht –, und die Verrechnung der Irrtümer funktioniert nicht, weil man Unrecht nicht mit Unrecht vergelten kann und das viel mehr ist als nur ein Spruch. Man wird sich aufregen, das ist sicher. Und das Gefühl dabei ist kein erfreuliches.
Errstaunlicherweise war in der Gaststätte ein Fernseher aufgebaut und dieser wurde pünktlich zur Sportschau eingeschaltet, in einem separaten kleinen Raum, also direkt nach meinem Eintreffen. Es fanden sich etwa sieben weitere Gäste ein, denn immerhin hatte der lokale Verein ja ein Heimspiel.
Die Eindrücke waren natürlich noch immer sehr stark bei mir und irgendwie war alles anders diesmal, beim Schauen. Auch bei den anderen Berichten sah ich es plötzlich mit ganz anderen Augen und schaute und lauschte viel mehr auf das Randgeschehen im Stadion, wie dort die Zuschauer und Fans – darf man irgendwie trennen oder auch nicht – reagierten, ob es ähnlich war oder anders als bei „meinem“ Spiel und auch, wie die Schiedsrichterentscheidungen ausfielen.
Es konnte einem nicht verborgen bleiben, dass es in vielen Fällen ähnlich war wie bei „meinem“ Spiel: immer, wenn es eng war, war abseits und immer, wenn es kritisch war im Strafraum gab es irgendeine Erkärung, warum es hier keinen Elfmeter gab – und ab und an hieß es auch: „hier hätte er geben müssen“, so wie auch bei einigen Abseitsentscheidungen es hieß „hier irrte der Mann an der Linie“. Gemeinsam hatten die Entscheidungen dennoch: die Torsituation fand nicht statt. Dass, was man gerne gesehen hätte, gab es nicht. Kaiser und neue Kleider oder die Kastration. Die Fans reagierten auch da, wie man es erwarten durfte: aufgebracht.
Die Spannung bis zu meinem Spiel hin verringerte sich bereits erheblich. Die Spielberichte davor hatten schon ausgereicht, um mir die gesuchten Antworten zu liefern. Das 1:1 wurde hinterher als „gerechtes Ergebnis“ bezeichnet, nur hieß es das bei jedem anderen Spiel auch. Also wäre als Urteil auch in Frage gekommen: der Rasen ist schön grün und wir zählen die Tore.
Dennoch haben die Trainerstimmen ähnlich geklungen. „Gerecht“, das Ergebnis? Das mag sein. Aber das Spiel selbst? Da ist rein gar nichts gerecht.
Zu den strittigen Szenen: das spielte kaum noch eine Rolle, aber bei dem nicht gegebenen Elfer für Weiß hieß es: „hier hätte man sich nicht beschweren können, wenn der Pfiff erfolgt wäre“. Das machte mich auch nicht unbedingt schlauer. Durch den weniger klaren Elfer in der Nachspielzeit wurden diese Szenen einfach miteinander verrechnet, wie man es eben so macht. Hier hätte man, da hätte man, hier hat man, da nicht, alles wieder gut?!
Mir ging dieses eine Wort „Willkür“ durch den Kopf, wodurch Spiele „auf diesem Level und mit dieser Professionalität“ geführt entschieden werden. Ein Pfiff hier erfolgt, eine Aktion dort durchgewunken, ein Elfmeter, hier gegeben, dort verweigert, ein Abseits so rum oder so rum. Es hängt an einem einzigen Pfiff, wie ein Spiel heute ausgeht. Unterschiede sind ansonsten eh keine auszumachen. Christoph Daum war es doch, der einst und damals natürlich belächelt gesagt hatte, dass die Schiedsrichter längst nicht mehr „Spielleiter“ sondern „Spielentscheider“ wären? Was er damals meinte, wurde mir nun erst richtig klar. Warum wurde er belächelt? Ganz einfach: sein FC hatte damals ein Spiel verloren und der kurz vor Schluss regulär erzielte Ausgleichstreffer wurde, man könnte eben sagen „willkürlich“, aberkannt. Nur merke: als nachteilig Betroffener werden dir klarer Verstand und Urteilsvermögen aberkannt.
Im Anschluss wurde übrigens noch von Fankrawallen in der Stadt berichtet. Dies verwunderte mich kein bisschen. Wobei mich schon ein wenig interessiert hätte, welche Rolle dort meine morgendlichen Mitfahrer, für die man auf jeden Fall eine gewisse Sympathie entwickeln konnte, gespielt haben könnten? Mittendrin oder nur dabei? Meine eigene Antwort hatte ich auf alle Fälle dafür gefunden: die Aggressionen, welche sich bei dan Fans – und dies tatsächlich hier übergeordnet, insofern beider Mannschaften – aufgestaut hatten, waren nicht etwa in der gesamten Woche entstanden, sondern in den zwei Stunden im Stadion. Dies vielleicht die erschreckendste Erkenntnis. Wobei mir hier klar wurde: alle empfinden an ihnen verübte Ungerechtigkeiten. Diese fanden auch statt. Nur hätte man als Fan eh keine Stimme: „Das war kein Abseits“ sagt einer. „Ah, du bist Fan der Mannschaft? Dann interessiert mich gar nicht, ob es abseits war oder nicht. Du bist befangen!“ Obwohl er recht hat. Auch diese gefühlte Ohnmacht ist es, welche Aggressionen auslöst. „Obwohl ich recht habe, hört mir keiner zu.“
Mir kam noch ein letzter Gedanke zu dem Spiel, welches ich nun in der Zusammenfassung schauen konnte und welches ich zuvor im Stadion besucht hatte. Christoph Daum hatte natürlich recht, dass die Schiedsrichter Spielentscheider sind. Ein Piff oder kein Pfiff, das macht den ganzen Unterschied. Die Schiedsrichter sind – sofern sie ehrlich sind und einen guten Job machen wollen, wovon auszugehen ist – eher Diplomaten. Der in „meinem“ Spiel hat das Spiel nämlich nicht entschieden, er hat es unentschieden. Fehler ohne Ende, auch ernste Fehler und solche, welche die Fans auf die Palme bringen müssen. Aber am Ende ein Unentschieden. Damit müsste doch jeder leben können? Sagt der Diplomat. Wenn es nur diese ungerechte Dreipunkteregel nicht gäbe, hätte er sogar recht.
Ich erkundigte mich nach einem hier im Randgebiet gelegenen ruhigen Hotel und fand eine nette kleine Pension, auf Empfehlung anderer Gäste, in welcher ich die Nacht verbrachte. Bei der Heimfahrt am späten Sonntagvormittag war zwar noch lange kein Alltag, aber so allmählich konnte ich mich doch von den Ereignissen des Vortages lösen.
Die noch immer bis dahin kreisenden Gedanken förderten nur diese letzten Erkenntnis zutage: als Fan ginge es, da müsste man sich dem bedingungslos higeben und alles drumherum mit ausleben. Aber das werde ich nicht mehr. Insofern: das war das letzte Mal.