- Yamb
Mein Studium in Freiburg bestand daraus, meinen Leidenschaften nachzugehen. Und meine Leidenschaften sind ja für den aufmerksamen Leser bereits hier und da ansatzweise durchgeschienen: Spielen, Spielen, Spielen. Nicht nur, dass es Tag und Nacht gespielt wurde, und das ist absolut keine Übertreibung. Ein paar Stunden täglich wurden widerwillig dem Schlaf geopfert. Ansonsten wurde „gerollt“. Und die Cafés und Kneipen in Freiburg haben nicht durchgehend geöffnet, also wurde das Spielgeschehen nächtens in die privaten Räume verlagert. Dabei haben C. und ich anfangs in einem gemeinsamen Haus, sozusagen einer Studentenbude, gewohnt, in der Lehener Strasse 29 (immer diese 29, irgendwie verfolgt sie mich; ich werde diesem Teil meines Aberglaubens noch ein extra Kapitel widmen).
Das Haus war durch und durch von Studenten bewohnt. Für die Dusche musste man nicht nur durch den zumindest winterlich ungeheizten Hausflur, man musste auch noch eine Duschmarke zur Erwärmung des Wassers opfern. Die Duschmarke war selbstverständlich kostenpflichtig. C. hat die Ausmaße seinen Zimmers gerne mit „9 Kubikmetern“ umschriebe. 3*3*1 oder so, 1 war die Höhe. Mein eigenes Domizil im Stockwerk darunter war richtig exklusiv: Bestimmt 12 Quadratmeter und wenn man sich ausreichend Öl besorgt hatte, konnte man sie sogar heizen. Die dafür erforderliche Technik habe ich mir allerdings nie wirklich angeeignet. Wozu auch? Immerhin wohnte ich ja jetzt im Süden. Es wurde selten im Zimmer unter 6 Grad. Und das auch noch Plus!
Übrigens gab es im oberen Stockwerk sogar etwas so exklusives wie einen Kühlschrank! Und bei entsprechender rechtzeitiger Anmeldung bekam man sogar ein Fach zugeteilt! Naja, ich habe doch nicht lange genug dort gewohnt, um eines zu bekommen. Aber doch: wenn einer verreist war, konnte ich vorübergehend sein Fach nutzen. Und damit noch nicht genug des Luxus: Es gab sogar einen Festnetzanschluß im Haus! Sicher, er war selten frei und wenn musste man akribisch die vertelefonierten Einheiten aufzeichnen und am Monatsende die Summe begleichen, außerdem musste man sich mit bis zu 10 Mithörern abfinden, denn auch dieses Gerät stand im Hausflur. Sie merken schon: rundherum eine wunderschöne Zeit.
Es wurde also nicht nur Tag und Nacht gespielt, die dadurch wirklich spärliche Freizeit habe ich auf zwei Arten genutzt: Die Wahrscheinlichkeiten für alle möglichen Würfelkombinationen auszurechnen oder Auswertungen der bei mir eingereichten Zettel der anderen Verrückten vorzunehmen. Ein richtiges Mathestudium „al gusto“. Denn: Wir hatten quasi einen richtigen Club gegründet. Inoffiziell, aber immerhin. Und ich war die Auswertungszentrale. Man konnte im Yamb Normen erzielen. Dabei gab es Titelnormen wie im Schach. Für jeden Spieler wurde eine Spielstärkezahl errechnet, ein bisschen analog zum Elo-System. Und die Meister bekamen ihre Ehrungen in Form von Titeln. Das alles oblag meinem (mangelhaften) Organisationstalent. Aber dennoch: für die Dauer dieses alltäglichen Wahnsinns habe ich sogar eine gewisse Ordnung geschaffen.
Nun hatte ich also schon mehrere gefüllte Karoblöcke. Mindestens einen, der sämtliche Wahrscheinlichkeiten für mögliche Wurfkombinationen enthielt und mindestens einen, in dem ich die Daten der anderen Teilnehmer führte. Wer hat wie viele Normen? Wer hat welches aktuelle Rating? Wer ist gerade FIDE-Meister oder Internationaler Meister in welcher Disziplin geworden? Und so weiter. Und täglich gab es neue Partien auszuwerten. Kurzum: Für das offizielle Studium an der Uni blieb nun wirklich überhaupt keine Zeit. Richtig und wichtig als Lebensmotto: man muss ich halt Prioritäten setzen.
Yamb ist übrigens eine Kniffel ähnliche Spielvariante. Man würfelt mit 5 Würfeln. Es gibt eine Aufwärtsspalte und eine Abwärtsspalte, in die man immer nur an der entsprechenden Stelle eintragen durfte. Dazu gab es eine freie Spalte und eine Ansage Spalte. In die freie Spalte konnte man überall und wann man wollte eintragen, in die Ansage Spalte musste man nach dem ersten Wurf ansagen, dass man dort und an dieser Stelle einträgt. Die Spielkunst bestand natürlich darin, sich rechtzeitig für das Streichen bei Aufwärts- und Abwärtsspalte zu entscheiden, damit man über die „schweren“ Würfe hinwegkam. Dazu musste man natürlich stets die Wahrscheinlichkeiten gut abwägen, ob man jetzt lieber mit diesem Anwurf auf Strasse oder auf Full House geht etc. Es war im Prinzip ein recht anspruchsvolles Spiel und wäre auch so schon sehr interessant, auch als Geldspiel, sofern es eine höhere Verbreitung erfahren hätte. Vor allem haben wir noch die wesentlich anspruchsvollere Variante, die „Dreizettler“ eingeführt, wo man das Spiel getrost als „Strategiespiel“ bezeichnen konnte. Man hatte drei Zettel gleichzeitig, in der man seine Würfe platzieren durfte/musste. Man hatte immer eine Möglichkeit dadurch. Die Kunst: Die beste der Möglichkeiten finden.
Mein absolut treuer Begleiter war übrigens mein Kopf, nein, nein, nur ein Scherz, es war mein Taschenrechner. Und der war wirklich mein Stolz in der Zeit. Es gab kaum andere Rechner, noch nicht 1983. Großrechner ja, aber wer hatte schon überhaupt einen PC? Und was hat der geleistet? Mein HP 41 CV Taschenrechner, also ein Hewlett Packard, war der erste wirklich frei programmierbare Taschenrechner. Und ich habe das weidlich genutzt. Man musste zwar auch da vorsichtig sein mit der Speichereinteilung, aber es gab hinten 4 Steckplätze für Speichererweiterung. Und ich habe mir den Platz eben ökonomisch eingerichtet. Die wichtigen Funktionen waren auf frei definierbare Tasten gelegt und so weiter. Es war für seine Zeit ein wirklich fortschrittliches Gerät. Und noch dazu: Ich hatte mich damit wirklich vertraut gemacht.
- Black Jack
Auch die schönste Zeit geht irgendwann vorbei. Aber es kommt ja auch immer wieder etwas Neues. So auch bei mir. Über das dann erlernte Backgammon ist ja an anderer Stelle berichtet. Aber ich bekam plötzlich von einem Freund und Mannschaftskameraden ein Buch über Black Jack zugesandt.
Bevor ich mich aber an das Studium dieses Spieles begeben konnte, mussten privat noch ein paar Dinge geklärt werden: Herr Elbin, mein Vermieter in der Lehener Strasse, hatte alle seine Mieter auf dem Kieker. So auch eingeschlossen C. und mich (die Miete für meine Suite betrug übrigens 120 DM pro Monat; ein mehr als angemessener, fast günstiger Preis, bei so viel Luxus, wie ich finde?!). Aber Herr Elbin war wohl von seiner eigenen Großherzigkeit überrascht und plante eine Mieterhöhung auf 140 DM. Es kam zum Streit, denn der stattliche Herr war zu keinerlei Entgegenkommen bereit. Er bedrohte mich fast in meinem Zimmer. Ich ergriff die Flucht.
Eine kleine Überraschung bei meiner Heimkehr: Mein Zimmer war komplett ausgeräumt. Sämtliche Sachen standen vor der Tür im Hausflur. Ein Steckschloss in der Tür versagte mir den Zutritt zu meinem Zimmer! Aber einen Tag lang konnte ich mal die Vorzüge der deutschen Bürokratie bezeugen: Ich begab mich umgehend zum Gericht, was auch am späten Freitag Nachmittag noch für besondere Fälle geöffnet hatte. Ich bekam direkt eine Einstweilige Verfügung ausgefertigt, die mir die Berechtigung zum Betreten meines Zimmers bescheinigte. Der dann umgehend herbeigerufene Schlüsseldienst beseitigte das Steckschloss. Ich konnte mein Zimmer wieder betreten und dort auch übernachten, nachdem die Sachen wieder notdürftig eingeräumt waren. Und Herr Elbin wurde später zu einer satten Geldstrafe sowie einem gewissen Anteil Schadenersatz an mich verdonnert.
Dennoch war es unmöglich, dieses „Mietverhältnis“ aufrecht zu erhalten. Ich begab mich auf Wohnungssuche. Und wurde bald fündig. Ein wirklich schönes Zimmer, Souterrain, direkt an den Bahngleisen für den Fernverkehr gelegen. Aber mir gefiel es dort und ich mochte es wirklich in der Wiesenstrasse. Die Besucher fragten mich immer, ob mir der Lärm des Fernverkehrs nicht lästig wäre. Aber er war es nicht, Es hatte eher etwas Angenehmes, Beruhigendes für mich. In meiner Erinnerung beinahe mein schönstes Domizil jemals. Preis: 135 DM, aber es war auch wesentlich geräumiger als das vorherige Zimmer, Und geheizt war auch, ich zog zum 1.Februar dort ein.
Und abgesehen vom Fernverkehr hatte ich absolute Ruhe dort. Die Wiesenstrasse lag ein bisschen außerhalb, C. war auch in genügend großer Entfernung, die täglichen Yamboss Partien hatten Pause. Ich nahm mir das Buch von Edward Thorpe über das Black Jack vor. Herr Thorpe hatte eine Gewinnstrategie gefunden. Zumindest hatte er wohl als Erster diese auch aufgeschrieben.
Diese Gewinnstrategie beruhte auf dem Mitzählen der ausgeteilten Karten und dem Warten auf günstige Situationen. Dazu gab es die so genannte „Basic Strategy“. Die Basisstrategie musste zunächst mal ohnehin befolgt werden. Und wenn man das tat, dann hatte man zumindest den Nachteil auf ein Minimum reduziert.
Ich schlug das Buch eher wahllos irgendwo auf. Man könnte es auch nennen „ich las es diagonal“. Dann hatte ich ja nun ein erkennbares fable für Kombinatorik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Paulilein war, wie immer, aufmüpfig. Und anstatt dem Black Jack Papst blindlings zu folgen, begann ich, eine beliebige, mit Zahlen belegte, Kartenkombination rechnerisch zu überprüfen. Und stellte fest: Die Ergebnisse waren nicht deckungsgleich. Das irritierte mich doch ein wenig. Ich überprüfte noch mal meine Berechnung. Aber ich hatte mich nicht geirrt.
Ich war zufällig auf das Problem gestoßen, ob man gegen ein Ass mit 11 doppeln sollte. Herr Thorpe war der Überzeugung, dass es richtig wäre. Mein Ergebnis war, dass man nicht doppeln dürfte. Es erschien mir total widersinnig. Bestenfalls so, dass man den Einsatz versichert und dann doppelt, auch die Versicherung (was sogar hier gestattet wäre), mit der Überlegung: entweder die Bank bekommt eine 10 oder man selber (beide schadet ja auch nicht; Versicherung zahlt bei einer 10 für die Bank alles zurück). Aber auch das war nicht richtig.
Die Lösung, auf die ich erst etwas später stieß: in den USA wurde in den 60er Jahren mit anderen Regeln gespielt. Die Bank legte sich die zweite Karte neben die erste, die zweite aber verdeckt. Nachdem alle Spieler ihre Entscheidung, ob versichern oder nicht, getroffen hatten, schaute der Dealer unter die zweite Karte. Die Spieler sahen die Karte aber nur dann, falls es eine 10 war. Falls nicht, wurde normal weiter gespielt. Nun wusste man zwar nicht, wenn man dran war, was die Bank hatte, aber man wusste, was sie nicht hatte. Sie hatte keine 10. Natürlich war das Verdoppeln unter diesen Umständen mehr als richtig. Für mich gab es aber nur eine Konsequenz: wenn es hier einen Fehler gibt (dessen Ursache ich zu dem Zeitpunkt noch nicht kannte), dann gibt es vielleicht noch mehr. Also einfache Schlussfolgerung: ich rechne mir alles alleine aus.
Ich legte mir ein paar weitere Karoblöcke zu. Mein Taschenrechner war ohnehin niemals „kalt“. Und in dieser Kombination – Wiesenstrasse – urgemütliches Zimmer – Karoblöcke – Taschenrechner – machte ich mich ans Werk. Ich berechnete einfach nach und nach alle möglichen Konstellationen.
Das mag unglaubwürdig oder beinahe wie ein Scherz klingen. Es ist aber deswegen kein bisschen weniger wahr. Das war mein Beitrag zum Thema „angewandte Mathematik“. Die Karoblöcke füllten sich nach und nach. Offen gestanden hat es mehrere Monate, in etwa sieben, gedauert, bis ich wirklich alles durch hatte.
Bedauerlicherweise ist mir dieses „Werk“ aber nicht erhalten geblieben und bei einem der recht zahlreichen späteren Umzüge verloren gegangen. Heute bedaure ich das selbstverständlich und wenn ich ein Foto in dieses Buch gebracht hätte, dann das mit diesen, prall mit Zahlen gefüllten, Karoblöcken.
Herrn Thorpe nehme ich übrigens ausdrücklich in Schutz: Viele seiner Zahlen sind Simulationen entsprungen, was ein wirklich absolut zuverlässiges Mittel ist, um an solche Zahlen zu gelangen. Ich selbe habe ja später an der Uni auch das Black Jack programmiert und ebenfalls dort alle Zahlen durch Simulation ermittelt. Viele Zusammenhänge sind auch höchst komplex, und dennoch das Ergebnis in Nachkommastellen absolut irrelevant. Darüber hinaus wurde das Buch ja in den 60er Jahren verfasst. Und in dieser Zeit wurde in Amerika mit nur einem Deck á 52 Karten gespielt (zu meiner Zeit in Baden-Baden wurde mit 5 Decks gespielt, später auch oft mit 6; heute mit Mischmaschinen ist die Anzahl der Decks schon wieder gleichgültig). Das hat auch ein paar Chancen verändert. Zusätzlich noch waren viele Regeln schlichtweg anders (im Kapitel „Black Jack Regeln“ kann man diese Regelvariationen nachlesen).
Meine Version der „exakten Berechnung“ wurde immer weiter ausgefeilt. Ich habe dann alle möglichen Kombinationen zusammengerechnet, um den mathematischen Nachteil des Spielers exakt zu bestimmen. Das Besondere daran: Ich hatte die einzelnen Regelvariationen mit eingerechnet, so dass ich eine Antwort bekam, wie wertvoll eine Regel aus Spielersicht war, sofern sie angeboten wurde. Das ergab zum Beispiel für die Regeln im Berliner Spielcasino im Europacenter damals einen Nachteil von 1.3%. Die Regeln waren in gewisser Weise fast maximal ungünstig. In Hamburg dagegen kam man auf nur 0.9% Nachteil.
Wenn ich mich recht entsinne, lag es daran, dass man nach dem Spilt weiter splitten durfte und bei geeigneter Karte auch nachdoppeln durfte. Ganz wichtig das auch beim Split der Asse. Es gibt nichts Frustrierenderes, als zwei Asse zu splitten, eigentlich der bestmögliche Split, man hat ja dann zwei mal 11, +10 ergäbe eine 21 (das zählte nicht, nirgends, als Black Jack), fast das Maximum also. Und dann bekommt ein weiteres Mal die gefühlt beste Karte, ein weiteres Ass, und hat eine 2 oder 12 oder auch 0, weil mehr ist es eh nicht wert, und darf nicht weiter splitten!
Ein Beispiel für das Nachdoppeln: Man hat zwei 8en, die als solche wertlos sind, denn: wer braucht schon 16? Aber die Karten einzeln nicht gar so schlecht sind, wenn man eine 10 dazu bekommt, hat man immerhin 18. Aber wenn man dann eine 2 oder 3 bekommt, könnte man ja theoretisch doppeln. Aber das war zum Beispiel in Berlin nicht der Fall, in Hamburg aber schon.
Die mit Abstand besten Regeln, die ich erlebt habe, gab es in Monte Carlo. Da war, zu allen sonstigen Vergünstigungen, die in etwa wie in Hamburg waren, in Hamburg durfte man allerdings nicht versichern, das „soft double“ beziehungsweise das „double any two cards“ erlaubt. In der Summe ergab das für Monte Carlo den Traumwert von 0.7% Nachteil.
Und das Ganze haben mir mein treuer Freund, der HP 41 CV, meine fast durchgehend treue Freundin, die Mathematik, und mein absolut unzuverlässiger und nicht mal Freund, mein Kopf, ausgerechnet.
Wäre ich heute, wo ich bin, wenn ich nicht damals wirklich so eifrig „studiert“ hätte? Wenn Sie mal eines der freundlichen Zitate von meiner Frau hören wollen: „Wenn ich dich nicht hätte ———- dann hätt ich n Andern.“ Sie verstehen, was ich meine?