Wie heißt es doch so schön? Wahre Propheten warten die Ereignisse ab. Genau so tun es unsere heiß und innig geliebten Berichterstatter in praktisch jedem Spiel. Nicht nur, was den Ausgang des Spieles betrifft, sondern auch den Ausgang einer einzelnen Aktion. Wahrheitsgehalt? Objektivität? Urteilsvermögen? Alles Unsinn, nicht gefragt. Sofern eine Aktion zu einem Tor führte, werden reihenweise Fehler erkannt, die unvermeidlich dazu führen. Sofern eine Aktion jedoch misslingt, wird die Fehlerkette einfach umgekehrt: Den Angreifern fiel nichts ein, sie haben den Zeitpunkt des Abspiels verpasst, zu ungenau geflankt, sich nicht richtig bewegt, waren zu eigensinnig oder haben die Außenpositionen nicht besetzt. Jede beliebige Floskel ist gerade gut genug, zu erklären, dass eine Aktion entweder unvermeidlich zu einem Tor führen musste, oder, ebenso unvermeidlich, nichts werden konnte.
Wenn 19 Flanken in den Strafraum flattern, die allesamt von der meist zahlenmäßig klar überlegenen Hintermannschaft, die in Körpergröße und Robustheit ebenfalls Vorteile hat, dazu noch (siehe den Teil über die Regeln) von den Regeln her bevorteilt wird und der dazu jede Richtung, in die der Ball fliegt, recht ist, außer der, ins eigene Tor, geklärt wird, dann waren sie allesamt „schlecht geschlagen“, „unpräzise“ oder überhaupt „das falsche Mittel gegen diese Hintermannschaft“. Wenn aber die 20. Flanke dann hereinsegelt und tatsächlich mal einen Angreifer findet, der den Ball sogar Richtung Tor bugsieren kann und den Torhüter letztendlich überwindet, dann ist sofort und ohne Luft zu holen, geschweige denn Spannung und Dramatik zu vermitteln, der „kollektive Tiefschlaf“ dafür als verantwortlich ausgemacht.
Am beliebtesten ist es aber, einen deutlichen Spielstand abzuwarten – dafür genügt heute ein 2:0 – und sich dann als Prophet zu betätigen, der dazu noch Hohn und Spott für den Verlierer einbezieht: „Da muss man schon sehr mutig sein – oder verrückt –, wenn man auf die noch einen einzigen Cent setzen würde. Ich jedenfalls nicht.“ Der angesägte Ast ist dabei übrigens der eigene (wackelige) Sitzplatz. Denn: nicht genug damit, dass es lächerlich ist, bei einem 2:0 in der 70. Minute einen Sieger zu prophezeien, nein, man möchte auch den letzten verbliebenen Zuschauer am liebsten los werden, in dem man ihm das letzte bisschen Spannung raubt, indem man einen Sieger ausruft, weiterhin offenbart man völlige Ahnungslosigkeit, was den heutigen Wettmarkt und überhaupt das Wetten und Denken in Wahrscheinlichkeiten angeht.
So sehr dies hier auch im Folgeabschnitt über das Wetten vorgreift, an dieser Stelle passt es zu gut um es auszulassen: Das Eintreten von kleinen Wahrscheinlichkeiten geschieht je seltener, umso kleiner die Chance ist. Auf das Eintreten einer Chance von 1/100 benötigte man im Schnitt 100 Versuche, damit es einmal geschieht, bei einer Chance von 1:10.000 eben etwa 10.000 Versuche. So wenig man vielleicht über die exakten Werte wissen mag, so sehr spürt man doch, dass etwas jetzt doch eigentlich gar nicht mehr passieren kann – bis es dann plötzlich doch (einmal) geschieht.
Nur gibt es zu diesem sehr unwahrscheinlichen Eintreten einen Gegeneffekt: Falls es nämlich doch einmal geschieht, sorgt es für ganz besonderes Aufsehen. Für den Reporter ein gefundenes Fressen, denn er hätte gerade die Story anzubieten, er wäre dabei, er wäre live auf Sendung, Genau so etwas stellt die Verlockung dar, diese Berufslaufbahn überhaupt einzuschlagen. Es wäre eine Sensation und man hätte die Chance, diese für den Zuschauer, Zuhörer einzufangen. Wenn man ihn nun bereits schon vorher durch unangemessenes Orakeln verloren hat und es dann doch geschieht, die sensationelle Wende – man erinnere sich an das Spiel Türkei – Tschechien bei der EM 2008, als die Türken ein 0:2 zur 70. Minute noch in ein 3:2 verwandelten und dieses Spiel im Nachhinein direkt unter die Top 10 Begegnungen bei großen Turnieren jemals gewählt wurde –, dann hätte man ein wirklich klassisches Eigentor erzielt: „Hey, hier gibt es die Sensation zu sehen und keiner hört mir mehr zu. Was soll das?“ Ja, lieber Freund, du hast genau mit der vorschnellen Beerdigung einer Mannschaft dafür gesorgt, dass dir nun niemand mehr zuhört. Geschieht dir recht.
Übrigens gibt es einen zweiten Nebeneffekt: Sofern man eine Wette auf ein sehr unwahrscheinliches Ereignis platziert, wird man in aller Regel mit einer ausgesprochen fürstlichen Quote belohnt. Wenn man also eine Chance von etwa 1:100 wettet, so kann man am heutigen Wettmarkt auch gut und gerne eine Quote von 100.0 erzielen, die einem bei nur 10 Euro Einsatz einen stattlichen Gewinn von 1000 Euro versprechen würde. Und gerade hier könnte es sich lohnen, das zu tun, genau in dem Moment, wo der Herr Neunmalklug einem weismachen möchte, dass es nun völlig unsinnig wäre, zu wetten, könnte sich die Rechnung lohnen: Kleiner Einsatz, satter Gewinn. Falls der gute Mann wirklich noch nie etwas vom Wettmarkt gehört haben sollte, so wäre es doch dringend erforderlich, um nicht weiteren Unsinn zu verbreiten. Oder ist es, weil es Fußball ist, völlig egal, welchen Inhalts die Aussagen sind? Auch der Wahrheitsgehalt spielt keine Rolle?
Es ist auch nicht so leicht einzusehen, was der Sinn davon sein soll, einem Zuschauer nach dem oben beschriebenen 2:0 in der 70. Minute einreden zu wollen: „Das Ding ist durch.“ Denn: Durch den Vorteil des Zählen Könnens wird er sich kaum gegenüber weiten Teilen der Bevölkerung abheben können: 1+1 = 2 für die einen, Null plus garnix für die anderen, ergibt 2:0. Ja, das schafft man schon. 20 Minuten sind erfahrungsgemäß keine so große Zeitspanne in einem Fußballspiel. Sicher möchte man auch nicht unbedingt das Gegenteil, also ein „hier kann noch alles passieren“ hören. Es steht 2:0, es könnte ziemlich eng werden. Jeder weiß, dass es schwer wird. Mit dem Wahrsagen an dieser Stelle kann der Sprechblase eigentlich nur eines gelingen: Einem den Spaß zu verderben.
Um auch einem anderen Thema vorzugreifen: Ein Engländer würde an dieser Stelle vielleicht den Zuhörer folgendermaßen zu fesseln versuchen, was übrigens nicht nur die eigenen Gefühlslage gut widerspiegelt, sondern vermutlich jedermanns trifft: „If they want to get something out of this game, they need something quickly.“ Das kann auch in der 80. Minute so ausgesprochen werden: „Wenn sie noch etwa holen wollen, dann brauchen sie jetzt bald ein Tor.“ oder so ähnlich. Angemessen, nicht bevormundend, das letzte bisschen Spannung wird zu erhalten versucht, weil es eben so ist, dass es nur noch auf Sparflamme köchelt. Nur: Dieser Mann könnte jedenfalls sofort anspringen auf ein fallendes Tor. Er hatte noch keine Leichenrede gehalten, da sie einfach nur sinnlos wäre. Der Zuhörer war nie eingeschlafen und richtet sich nun in seinem Sessel wieder auf: „Wow, ja, vielleicht ist das das Spiel, vielleicht geschieht es wirklich noch.“
Während unserer nach den 15 Minuten Abgesang auf eine Mannschaft und einem permanenten „so wird das nix“ sowohl etliche Zuschauer bereits verloren hat, die wenigen verbliebenen halb schlafend vorfindet, und selbst den Tonfall auch gar nicht mehr wechseln kann, ja nicht einmal möchte. Denn: Er würde sich selbst widersprechen. „Sie sind mausetot, da kommt gar nix, nicht über die Flügel nicht durch die Mitte, kein 1 gegen 1, kein Abschluss und die wenigen Flanken sind auch noch schlecht, abgesehen davon, dass sich keiner (richtig) bewegt.“ Und auf einmal umschalten auf: „Was für eine Spannung, was für ein tolles Spiel, was für ein Drama“? Nein, das geht nicht. Nach dem 1:2 in der 85. wird weiter beerdigt, das geht gar nicht anders. „Das Tor kommt viel zu spät.“ Er singt den Schlusspfiff herbei, betet und bettelt regelrecht darum, um die längst gefertigte Analyse nicht mehr über den Haufen werfen müssen.
Wenn, ja, wenn dann doch noch das 2:2 fällt, dann, ja, was bekommt man dann zu hören? Los geht’s mit einem „da haben alle gepennt“. Das ist ganz wichtig und wird direkt nach jedem Gegentor gesagt. Dann kommt eine Fehlerkettenanalyse bei der Wiederholung: „der schaut nur zu, der geht auch nicht richtig zum Mann, den hatten sie nicht auf der Rechnung, dann der katastrophale Stellungsfehler und der Torwart trägt auch eine Mitschuld.“ Danach kommt der Abgesang auf die das Tor kassierende, die bis vor kurzem noch — na, nicht etwa Helden, grad mal die Einäugigen unter den vielen Blinden waren: „Da haben sie viel zu früh abgeschaltet, das Ding schon abgehakt. Ja, so darf man sich eben nicht hängen lassen. Da fehlt die letzte Konsequenz. Da wird der Trainer aber ziemlich sauer auf seine Leute sein.“ Dabei spiegelt genau das die von ihm eingenommene Haltung wieder, bevor das Tor fiel. Er müsste dankbar sein, zerreißt aber in alle Richtungen sowohl Leistungen als auch Dramatik. So, als ob er noch böse darüber wäre, dass es (endlich mal) ein wirklich spannendes Spiel gäbe.
Eine weitere, höchst beliebte Reporteranalyse erfolgt heutzutage immer öfter schon während eines Angriffs, in welchem einem erklärt wird, was alles falsch gemacht wird. „Ja, da muss er schneller abspielen.“ oder „da hat er den besser postierten …übersehen“ oder ein „viel zu viel durch die Mitte“, falls es nicht das schlichte „so wird das nix“ ist. Hintergrund dessen, aber natürlich nicht reflektiert – wenn, wäre es auch kein bisschen besser – ist es, dass man mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass ein beliebiger Angriff kein Tor wird. Der Ballbesitz wechselt etwa 300 Mal pro Spiel (ein Schätzwert). Jedes Mal, wenn eine Partei in Ballbesitz gerät, könnte man von einer Chance sprechen, ein Tor zu erzielen. Sicher gibt es unterschiedliche Positionen, in denen man den Ball hat, und damit auch unterschiedliche Größen von Torchancen. Dennoch stellt der geschätzte Wert von etwa 1/100 – 300 Mal kommt eine der beiden Mannschaften in Ballbesitz (wechselseitig), knapp 3 Tore gibt es pro Spiel – eine gute Näherung dar, auf die sich der Reporter dann intuitiv stützt: Dieser Angriff wird kein Tor. Natürlich hat er ziemlich Recht, denn er wird es ja (fast immer) wirklich nicht. Insofern setzt er sich dem Risiko aus, sich für dieses eine Mal doch vertan zu haben.
Ganz besonders gut beschützt ist er aber durch den folgenden Effekt: Den ganzen Angriff über erklärt er, was sie falsch machen, die Angreifer, wer wann wen übersehen hat, wer nicht schnell genug spielt, wer sich nicht durchsetzen kann, wer zu eigensinnig spielt, wessen Flanken zu unpräzise sind, welcher Stürmer überhaupt nicht zu sehen ist, wer wie viele Fehlpässe gespielt hat und wem die zündenden Ideen oder die Kreativität aus dem Mittelfeld fehlen und dass der finale Pass eh nicht ankommt und dazu die Abschlussschwäche sehr auffällig ist, wenn es doch mal zu einer Chance kommt. Wenn es aber dann doch fällt, das Tor, dann kippt er das ganze sofort, mit der gleichen Inbrunst. Dann haben die Abwehrspieler den schwarzen Peter. Die entsprechenden Floskeln sind weiter oben erwähnt. Gepennt haben sie jedenfalls garantiert alle. Und damit seine Analyse der Fehlerhaftigkeit des Angriffs nicht in Zweifel gezogen. Nun haben eben beide alles falsch gemacht. Ist doch nicht schlimm?
Dass er im Grunde nur ein sehr, sehr billiges Spiel mit ein paar (kleinen) Wahrscheinlichkeiten betreibt und dazu noch jeden und alles nebenbei schlecht macht – was unter anderem sein eigenes, angebotenes Produkt mit in dem Sumpf zieht — scheint dem Herren völlig gleichgültig zu sein. Was würde er nur sagen können, wenn er nicht wüsste, ob ein Angriff ein Tor eingebracht hat und wie es gerade steht? Da würde vermutlich nur noch der Mund offen stehen und kein Sterbenswörtchen über die Lippen gelangen. Dieses Wagnis wäre eindeutig zu hoch. Eine Analyse einer Spielszene oder eines Spiels abzugeben, ohne den Ausgang zu kennen? Nein, das ginge nicht. Dazu müsste man ja etwas von Fußball verstehen…