Seit frühester Kindheit hatte ich eine sehr positive Einstellung zu Dänemark und deren Einwohnern. Laut Legende, die sich mir als Kind gleich tief eingeprägt hat, hieß es, dass man in Dänemark an einer Bushaltestelle eine Tasche vergessen könnte, samt Portemonnais und Geldinhalt, und wenn man sich, Stunden später, daran erinnern sollte, so könnte man wieder zu der Haltestelle zurückgehen und würde die Tasche dort unangetastet wieder finden. Und auch das Lied von Otto „Dänen lügen nicht“ hatte nach meiner Vorstellung seine Bewandtnis. Eher zum Schmunzeln hingegen das viel ältere Lied: „Das Leben meint es gut mit Dänen und mit denen, denen Dänen nahe stehen“, wobei man ausgerechnet hier in der Aussprache mal etwas schlampig sein darf und die „Dänen“ ruhig überall, gagbedingt, mit „e“ sprechen darf.
Weitere positive Assoziationen konnte ich auf den vielen Reisen nach Dänemark entwickeln. Unsere Trauminsel in meiner Kindheit hieß Tunö. Mein Onkel Heinz-Bernd hatte sie auf einem Segeltörn (ohne Jörn) 1966 „entdeckt“, dort ein paar Tage im Hafen zugebracht und sie uns anschließend wärmstens empfohlen. Das Postboot transportierte Nicht-Segler ab Hov hinüber. Nebenbei konnte man den Lebensmitteltransport mit ebenjenem Boot bezeugen: Milch, Ymer, Butter, auch Zeitungen. Deshalb musste das Boot auch immer um 6 Uhr los. Richtig klein, richtig charmant, richtig romantisch eben.
Bauer Ole Larsen kam mit dem Traktor und hat einen samt Gepäck zu einem wilden Campingplatz nach Wahl transportiert, und das ganze für nur eine Flasche Schnaps! Wir haben dann dort gecampt, oft für Wochen, das ganze direkt am Strand, versteht sich, also den berühmten Steinwurf entfernt, gerade so hinter den vor Wind schützenden Dünen, die allerdings an der Ostsee eher klein sind.
So blieb Dänemark also immer ein für mich beliebtes und begehrtes Reiseziel. Bei aller Mühe, dies beizubehalten, kam doch die folgende Geschichte in die Quere.
Es war im Spätsommer 1980. Ich hatte eine Einladung zu einem Schachturnier nach Kopenhagen erhalten. Allerdings musste ich für die Unterbringung selber sorgen. Nun gut, eine langjährige Tunöbekanntschaft mit einer Familie, die in mehreren Jahren hintereinander neben uns gecampt hatte, wohnte in Kopenhagen. Der Kontakt war nie abgerissen. Die Ibsens waren bereit, mich bei ihnen einzuquartieren für die Dauer des Turniers. Die beiden wirklich hübschen Töchter hatte ich – angesichts meiner festen Freundin – zwar zu ignorieren, dennoch befand ich mich in einer gewissen Vorfreude. Dazu hatte ich 200 DM(plus), die doch im Prinzip für 10 Tage Aufenthalt zur Verköstigung ausreichen sollten für einen bescheidenen Schachspieler. Das Bahnticket war auch gelöst und bezahlt.
Meine damalige Freundin Angie begleitete mich zum Bahnhof Zoo. Wir waren gerade da sehr verliebt und es stand ein tränenreicher Abschied bevor. Sie begleitete mich noch in mein Abteil und dort konnten wir uns einfach nicht trennen. Der Bahnbeamte rief bereits das oft gehörte „Türen schließen“. Ich hielt Angie einfach fest. Ich konnte sie nicht gehen lassen und sie fügte sich auch dem Schicksal. Die Tränchen waren auch im Nu getrocknet. Jetzt stand ein anderes Abenteuer bevor. Es war quasi ein total spontaner Entschluss. Sie bleibt einfach im Zug, wir fahren zusammen. Wie wir das mit dem Ticket, wie wir das mit der Rückfahrt, wie sie ohne Sachen und so weiter, darüber machten wir uns als Verliebte einfach erst mal keine Gedanken. Es wird schon irgendwie gehen, Hauptsache, wir sind zusammen.
Wenn ich mich recht entsinne, so konnten wir das Ticket im Zug nachlösen. Wie ich einem wenige Stunden später stattfindenden Dialog, welcher sich mir tief eingeprägt hat, entnehmen kann, hatte ich nach dem Bezahlen des Tickets noch immer 200 DM. Man gelangte dann auf die berühmte Vogelfluglinie von Warnemünde, DDR, nach Gedser, wo der Zug auf das Schiff auffuhr und insgesamt nach Dänemark transportiert wurde. Man hatte also sogar noch eine 40-minütige Überfahrt, was mir als bekennender „Seemann“ immer eine besondere Freude bereitete. Das Schiff lief in Gedser ein, man stieg wieder in den Zug und dieser fuhr aus dem Hafen aus.
Dann kamen nur noch kurz die Grenzkontrollen. Nun gebe ich gerne zu, dass wir nicht nur durch dieses leicht chaotische Gebaren vor und während der Abfahrt durchaus das Prädikat „Hippies“ verdient hatten. Ich hatte die damals schon nicht mehr ganz so üblichen langen Haare, eine Umhängetasche, von Angie angefertigt, mit dem Aufdruck „Woddstock … 3 days of peace and music“, welche natürlich noch in den schillerndsten Farben angemalt war. Dazu das über die Hose hängende Holzfällerhemd, gelegentlich noch den Hippie Schlapphut oder auch mal lackierte Fingernägel, pro Hand einen, wahlweise und alternierend rot oder schwarz dazu. Angie war selbstverständlich gepflegt und bildhübsch, machte aber auch aus ihrer Gesinnung keinen Hehl. Zum Beispiel gehörten zur Ausstattung damals das berühmte Palästinensertuch und/oder auch die hennaroten Haare.
Es kamen also, wie üblich, ein paar Grenzbeamte in unser Abteil. Diese dänischen Grenzbeamten allerdings trugen nicht dazu bei, meine (positiven) Vorurteile zu bestätigen. Sie waren ausgesprochen unfreundlich und ruppig, noch dazu waren sie wohl ärgerlich, dass sie sich überhaupt mit Menschen beschäftigen mussten, die nicht ihre Sprache sprachen. Dazu hatten sie wohl sehr frühzeitig ihr Urteil über uns gesprochen: Drogendealer. Alle Bemühungen, diese Erkenntnis zu widerlegen, schlugen fehl.
Der Zugaufenthalt zog sich in die Länge. Andere Mitreisende wurden allmählich ungeduldig. Die Beamten waren völlig unnachgiebig. Ich erinnere mich noch an die Worte: „Was? 200 DM für 10 Tage für zwei Personen? Wissen Sie, was ein Tag in Kopenhagen kostet? 50 DM, pro Person.“ Ich erklärte, dass ich Teilnehmer bei einem Schachturnier wäre, dass ich eine feste Unterbringung hätte und dass meine Freundin wohl nach ein oder zwei Tagen wieder abreisen würde. Uns wurde schlichtweg nicht geglaubt. Ich hielt es zunächst für einen (schlechten) Scherz, als uns die Beamten tatsächlich baten, den Zug zu verlassen. Und der Begriff „baten“ ist hier ziemlich verfehlt. Wir wurden regelrecht hinausgezerrt. Ich verwies noch darauf, dass ich eine Telefonnummer hätte von den Leuten, wo ich bleiben würde, aber auch dieses Ansinnen wurde einfach nicht beachtet. Sie verwiesen darauf, dass ich ja vom Schiff aus telefonieren könnte. Sie hätten hier kein Telefon.
Man muss noch an das Jahr und die politische Lage in Deutschland erinnern, um das Ausmaß der „Katastrophe“ so richtig einschätzen zu können: die DDR war kein Reiseland und auch kein Urlaubsziel. Man bekam für solche Anlässe lediglich ein Visum ausgehändigt, welches zur einmaligen Durchreise in einem angemessenen Zeitraum berechtigte. Ein Aufenthalt war gar nicht vorgesehen. Mir war es vorher einmal passiert, dass ich mich bei der Durchreise mit dem PKW verfahren hatte und auf der Autobahn (die nicht einmal Transitstrecke war!) „umkehren“ musste. Das war alles strengstens verboten. Dabei wurde ich zum Glück nicht erwischt, aber bei Ausfahrt aus dem „gelobten Land“ (beim Transit mit meinem Vater zusammen war es regelmäßig so, dass er in grenzenlosem Sarkasmus die „DDR“ auf den letzten Metern innerhalb über den Klee lobte, um dann, nach überfahren des Grenzstreifens sofort umzuschwenken und „Sch…DDR“ auszurufen) musste ich doch schon eine Menge sehr unangenehmer Fragen beantworten. Man hatte das Gefühl, man bräuchte schon viel Glück, um wieder in die BRD zurück zu gelangen. Ein anderes Mal war uns ein Visum verloren gegangen. Bei der Ausreise fiel das den Beamten selbstverständlich auf. Sie verdonnerten uns zu „einer romantischen Nacht auf dem Parkplatz im Kontrollbereich“, ca. 6 Stunden zu viert in einem miefigen PKW). Die Begründung wohl, über die uns nichts als Spekulation blieb: sie wollten sicher gehen, dass niemand anderes das Visum zur Ausreise nutzen könnte.
Also es war zu diesen Zeiten keine besonders erfreuliche Lage, sich auf „Feindgebiet“ aufzuhalten.
Was stand uns jetzt bevor? Einreise nach Dänemark war ausgeschlossen. Der Zug war weg. Wir standen quasi zwischen zwei Feindgebieten. Meine Freunde bis zu diesem Tag, die Dänen, ließen uns nicht, und die Ostdeutschen hassten uns sowieso, abgesehen davon, dass wir keinerlei Berechtigung hatten, uns dort überhaupt aufzuhalten. Und es war kein Zug mehr zu erwarten, wie wir bald erfuhren. Wir mussten auf die letzte Fähre warten, die noch übersetzte. Eine reine Autofähre.
Nun, es war Spätsommer, eher schon September, so dass allmählich die Dunkelheit einbrach. Die Fähre brachte uns zurück in die DDR. Auf dem Schiff gab es sogar ein Telefon, was in Verbindung mit der Rufnummer der Ibsens in Kopenhagen auch eine Verbindung herstellen konnte. Noch immer glaubte ich an das Gute im Menschen und hoffte auf „Rettung“. Ich fragte sie wohl gar, ob sie möglicherweise über die deutsche Botschaft ein Gesuch…? Nun, Zeugen der sprichwörtlichen dänischen Gastfreundschaft waren wir bereits geworden, und so bedeutend war ich wohl dann doch wieder nicht, als dass sich die Botschaft um mich gekümmert hätte. Zumal es ja auch einen doch nicht unerheblichen Aufwand erfordert hätte, überhaupt Kontakt herzustellen. Drogendealer bleibt eben Drogendealer.
In Warnemünde angekommen schienen die Beamten nicht vorbereitet auf solch einen kuriosen Fall. Zumindest haben sie nicht zu erkennen gegeben, dass sie der Argumentation der dänischen Beamten nicht folgen konnten. Wir mussten uns wohl mit unserem Schicksal, ohne eigenes Zutun (was habe ich bloß verdrängt…?) Verbrecher zu sein, abfinden. Wir ersuchten jetzt also, als „Gäste bei Feinden“ nach einem Durchreisevisum, was an dieser Stelle gar nicht in der Form ausgestellt wurde. Die berühmten „GrePos“ waren sicher der festen Überzeugung, dass wir auf Knien um Gnade und Visum winseln würden. Da mir aber jegliche Form der Unterwerfung absolut wider die Natur geht, so brachte uns diese in der Situation unangemessene Auflehnung außer einer kompletten Leibesvisitation noch die Durchsicht sämtlicher mitgeführter „Unterlagen“ ein. Zu den Unterlagen zählten auch Liebesbriefe, die zur Gaudi der umstehenden Beamten auch noch lauthals „verlesen“ wurden. Man fühlte sich für den Augenblick nackt und ungeschützt, von Gott verlassen, ausgeliefert.
Nachdem alle ihren Spaß hatten, auf unsere Kosten, wurde uns mitgeteilt, dass der nächste Zug nach Berlin um 6 Uhr 45 in der Früh ginge. Soll ich nun noch erwähnen, dass wir allmählich hungrig wurden und dass am beliebten Badestrand von Warnemünde keinerlei Restaurationen zur Verfügung standen? Wir hatten schließlich gerade unser Leben gerettet! Was zählt da noch Hunger oder Durst!
Es war alles geschlossen. Nicht mal ein Glas Wasser gab es. Wir suchten den Traumstrand auf und „mieteten“ für die Nacht einen Strandkorb. Es wurde schon recht kühl, aber es war gerade noch so auszuhalten. Was die Liebe so alles möglich macht! Aber an Schlaf war kaum zu denken. Wenn haben wir höchstens mal für eine halbe Stunde die Augen zubekommen.
Allmählich dämmerte es wieder und wir liefen die Strandpromenade hinauf. Und wir konnten es selber kaum glauben: ein Lokal öffnete um 6 Uhr! Wir bekamen eine Tasse Kaffee, ein Mineralswasser und dazu … einen Broiler. Ja, nicht nur, dass sie diesen kuriosen Namen hatten: noch kurioser doch, dass man um 6 Uhr morgens ein halbes Hähnchen essen konnte? Wir zahlten in Westwährung – wie auch sonst? –, was uns natürlich nicht nur seitens der Bedienung ein paar sehr große Augen, dafür aber auch „guten Service“ einbrachten.
Wir brachen auf Richtung Bahnhof und erwischten, zwar übernächtigt aber wenigstens nicht verhungert oder verdurstet, den Zug. An die folgende kleine Episode kann ich mich auch noch recht gut erinnern: wir hatten ja schließlich gar kein Zugticket. Als der Schaffner aber kam und unsere Westwährung als „Ticketkompensation“ sah, war er sehr schnell besänftigt und ließ sich – recht kostengünstig – „schmieren“. 20 DM für zwei Personen von Warnemünde nach Berlin? Dafür aber trotzdem kein Ticket, nur zwei zugedrückte Augen.
Allmählich überkam uns dann doch die Müdigkeit. Wir fanden – um die Uhrzeit vielleicht nicht all zu verwunderlich – spielend ein leeres Abteil. Wir sind auch tatsächlich alsbald eingeschlafen. Nun träumten wir sicher sanft und selig von der Einfahrt in den Bahnhof Zoo. Ich schreckte bei einem Bahnstopp kurz mal hoch, blickte aus dem Fenster und sah die Aufschrift „Ostbahnhof“. Nicht, dass ich es noch nie gehört hätte und auch nicht, dass ich es nicht für Berlin hielte. Dennoch warteten wir vom Halbschlaf benebelt auf eine bessere Ausstiegsgelegenheit.
Der Zug nahm also wieder Fahrt auf und hielt auch — schon knappe zwei Stunden später wieder. Diesmal in Dresden. „Berlin? Da waren wir doch schon.“ erhielten wir als Auskunft, die Zugschaffner waren aber inzwischen ausgetauscht, was unser Reisebudget um weitere 20 Westmark schmälerte.
Nun gut, wir schauten uns neugierig auf dem Bahnhof Dresden um. Wir fanden auch bald schon eine Zugauskunftstafel, welche uns die Abfahrt des nächsten Zuges nach Berlin verriet. Die dreißig Minuten haben wir nichts außer ausgesprochen neugierige Blicke geerntet. Hippies in Dresden?
Der Zug fuhr pünktlich, auch der diesmal vertretene Zugschaffner hielt für 20 Westmark Augen und Ohren geschlossen. Diesmal waren wir bei der Rückfahrt auch aufmerksamer. Als die Bahnstation „Friedrichstrasse“ ausgerufen wurde, packten wir sofort unsere wirklich wenigen Sachen und sprangen raus. Wir waren in Berlin!
Nun war auch das noch nicht unser finales Ziel. Wir befanden uns im Ostsektor. Und das alles ohne Visum. Kein Aufenthalts-, kein Durchreise-. Immerhin aber gab es am Bahnhof Friedrichstrasse eine Übergangsstelle. Und man konnte die Westbeamten bereits mit bloßem Auge sehen. Das machte uns Mut. Und tatsächlich wurde uns im Nachhinein ein Aufenthaltsvisum ausgehändigt, was aber die Umtauschgebühr von 25 DM pro Nase — diese aber exakt 1:1 – mit einschloss. Nun hatten wir also 50 Ostmark in der Tasche, und eine Aufenthaltsgenehmigung. Immerhin war ich noch geistesgegenwärtig genug, um mich zu erinnern, dass der eine oder andere Schachfreund, auch teilweise freiwillig, den Bahnhof Friedrichstrasse aufsuchte, um sich vor Ort die DDR Schachzeitung, die man im Westen sonst nicht erhalten konnte, zu holen. Also besorgte ich mir diese auch noch. Auch sonst bemühten wir uns nach Kräften, die 50 Ostmark halbwegs sinnvoll „anzulegen“. Aber die Müdigkeit siegte dann doch. Wir verließen bald den Ostsektor und nahmen die U-Bahn Richtung Heimat.
Wir trafen bei Angie zu Hause (sie wohnte noch bei ihren Eltern) so ca. um 12 Uhr mittags ein und haben dann wirklich ein paar Stunden — zu reinen Erholungszwecken, versteht sich – in ihrem Bett verbracht. Und die Dankbarkeit kann ich erst heute empfinden, dafür, dass ich Ihnen eine so heitere Geschichte erzählen kann. Und dafür, dass ich es jetzt endlich mal „loswerden“ konnte…