1) Dortmund
Wie jeden Sommer in diesen Jahren war auch 1980: Das Wintersemester habe ich mit guten Vorsätzen und im Wesentlichen an der Uni, als braver Student verbracht. Ein wenig wollte ich wohl meines Vaters gern zitiertem Spruch Vorschub leisten, welcher da lautet: „Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“ Denn: im Sommersemester gab es haufenweise andere Verführungen. Der brave Student mutierte zum Möchte-gern-Schachprofi. Das Semester geht ja für gewöhnlich von Februar bis Juli. Aber spätestens ab Mai wurden die Verlockungen zu groß. Wenn es noch eines Beweises bedarf, wie ernst ich mein Studium genommen habe, kann ich Ihnen folgende kleine Begebenheit schildern:
Mein damaliger liebster Professor, selber gar Schachspieler, auch Mentor und bis heute beinahe Freund – ja, ich schildere ihm regelmäßig meine mathematischen Neuentdeckungen –, war also Herr Letzner. Ich traf ihn tatsächlich eines Tages so im Vorübergehen an der Uni. Als ich ihm ein paar Tage später wieder begegnete und auf das vorherige Treffen ansprach, so etwa: „Herr Letzner, wir haben uns doch vorgestern auch hier getroffen, am III. Mathematischen Institut.“, entgegnete dieser: „Ach, suchen Sie einen Zeugen, dass Sie hier waren?“
Ich hatte mich also für das Internationale Turnier in Dortmund angemeldet. Für die Meistergruppe. Es war auch gerade zu der Zeit, als die eingleisige Bundesliga gegründet worden war. Früher gab es eine Nord, Süd und so weiter. Die eingleisige war durchaus eine Riesenherausforderung. Da wollte ich unbedingt spielen. Grandios! Man spielt gegen die besten Mannschaften und Spieler Deutschlands. Pro Wochenende zwei Partien, die so genannten Doppelrunden. Da musste ich einfach dabei sein.
Es gab einen kleinen Wehrmutstropfen: Mein Heimatverein, Lasker-Steglitz, hatte sich nicht für die 1.Bundesliga qualifiziert. Dort hätte ich 2.BL spielen müssen. Also wollte ich in Dortmund, eher in Westdeutschland, schauen, ob es irgendwo einen interessierten Verein gab. Ich hatte mit meinen Mannschaftskameraden schon gesprochen. Sie waren, trotz ihres sicher geheuchelten Bedauerns, in so weit einverstanden, dass sie meine weitere Karriere nicht behindern wollten. Sie zeigten Verständnis. Abgesehen davon, dass es durchaus einen weiteren bedenkenswerten Aspekt gab: Man konnte mit Bezahlung rechnen, je nach Qualität. Und mein Verein hätte sicher nicht „mitbieten“ können mit irgendwelchen Großvereinen.
Ich war in (West-)Deutschland ein weitest gehend unbeschriebenes Blatt, trotz gewisser Qualitätsnachweise in der Jugend (einmal 4.Platz, einmal 8.Platz bei der Deutschen Jugendmeisterschaft). Ich bekam dennoch ein Angebot von einem der größten Vereine in Deutschland, einem der Titelkandidaten, der SG Köln-Porz. Der (in Schachkreisen) berühmte Mäzen, Herr Hilgert, hatte doch schon ein paar positive Dinge über mich gehört. Er bot mir einen Platz an, allerdings keinen Stammplatz. Ich hätte meine Einsätze bekommen, aber eben keine Garantie.
Das Treffen kam zustande als ich bei der Deutschen Meisterschaft war (leider nur als Zuschauer; ich hatte die Qualifikation in Form der Berliner Meisterschaft auch in diesem Jahr wieder um einen halben Punkt verpasst). Dort lernte ich Norbert Franke, den Mannschaftsleiter und das „Mädchen für Alles“ der SG Bochum 31 kennen. Und Norbert hat sich gleich so rührend um mich bemüht, auch den Stammplatz garantiert, finanziell waren wir uns schnell einig (davon später mehr), ich war einverstanden. Ab diesem Sommer war ich also Mitglied und Bundesligaspieler bei Bochum.
Wenn man meine überragende Bedeutung für die Weltgeschichte richtig einordnen möchte, muss man wissen, dass es der Verfasser der Schachspalte im Tagesspiegel, Rudolf Teschner, immerhin die folgende (eher Fehl-)Meldung wert war. Der Wortlaut in etwa: „Der talentierte Berliner Spieler Dirk Paulsen wird sein Studium in Bochum fortsetzen. Er schließt sich dem dortigen Verein, der SG Bochum 31 an und wird dort ab der nächsten Saison in der 1. Bundesliga spielen.“ Schach spielen: ja. Studieren: Nein. Oder gilt das Schach- auch als Studium?
Ich wundere mich, dass dieser Artikel nicht in der „Chronologie der Weltgeschichte“, welche ich viel später von meinem Vater zu Weihnachten geschenkt bekam (da steht immer nur drin: 1969 – der erste Mann auf dem Mond oder solche uninteressanten, unbedeutenden Ereignisse), zu finden war. Na ja, wenigstens hab ich den Artikel für die nächsten 20 Jahre aufbewahrt.
Ich wollte mich in Dortmund „präsentieren“. Einmal zeigen, was ich wirklich kann. Norbert wohnte, wie man unschwer erahnen kann, in Bochum. Er hatte ein Haus dort. Oben war ein Zimmer für mich, für die Dauer des Turniers aber auch für meine späteren Aufenthalte in Bochum. Also hatte ich auch diesen Vorteil: Freie Unterkunft.
Ich ging mit voller Konzentration an die Aufgabe. Immerhin winkte für den Gewinner außer den 2000 DM Preisgeld noch die Teilnahme am Großmeisterturnier im nächsten Jahr. Dieser Aufgabe habe ich mich folgendermaßen gewidmet: jeden morgen joggen. Anschließend duschen. Dann einkaufen. Haferflocken, Obst, Milch, Nüsse, Orangensaft. Brot, Butter, Aufschnitt, das war für später. Dann Vorbereitung. Ein paar Partien nachspielen, über Gegner und Eröffnung nachdenken. Dann kurze Mittagsruhe (13-14 Uhr), ein Brot geschmiert, eingepackt, Orangensaft dazu, und Aufbruch nach Dortmund.
Am Brett die gleiche Disziplin: Nur am Brett sitzen, nicht aufstehen. Damals war die Bedenkzeit 2 1/2 Stunden für 50 Züge. Das galt für beide Parteien. Also konnte und musste man mit einer Spielzeit von 5 Stunden rechnen. Ich habe durchgehend über die Partie, die Stellung nachgedacht. Einmal aufstehen pro Partie habe ich mir allerdings gestattet: Zur Toilette, das musste einmal sein, und eines der geschmierten, mitgebrachten Brote essen, das macht man nicht am Brett. Dann wieder ran. Es zählte nur die Partie.
Und was kam dabei heraus? Die ersten drei Partien wogten hin und her. Ich kam nie in besonderen Vorteil, aber auch nicht in Nachteil. Alle drei Remis. So etwas kannte ich gar nicht. Wie gewinne ich eine Partie? Es schien, dass nichts zu machen war. In Runde 4 endlich, ein Sieg. Nach harter Arbeit, aber immerhin. Es geht doch! In Runde 5 der böse Rückschlag: Eine Niederlage. Was bin ich für eine Pfeife! Und so einer will sich „Profi“ nennen? Professioneller loser vielleicht. Ein Witz! 2.5 aus 5, gerade mal 50%! Das Empfinden ist ziemlich mies. Man hat relativ wenig falsch gemacht, stellt dennoch fest, dass man nicht gut genug ist. Frustrierend!
Das schlimmste danach: ein Ruhetag. Wer braucht denn so etwas? Ich will spielen, lieber zwei Partien am Tag. Und gerade jetzt, nach einer Null!
Jedenfalls war ich im Mittelfeld, kein Geldpreis in Sicht, kein Großmeisterturnier, halt einfach ein Durchschnittsspieler. Dann kamen die letzten 6 Runden. Ich spielte weiter, mit der gleichen eisernen Disziplin. Allmählich machte es sich bezahlt. Mein Blick öffnete sich. Ich schien alles vorher zu sehen. Alles, was meine Gegner vorhatten. Ich hatte die besseren Pläne. Als der Namensgeber für meinen Schachclub, Exweltmeister Emanuel Lasker, mal gefragt wurde, wie weit er während einer Schachpartie im Voraus die Züge berechnen würde, da antwortete dieser: „Immer einen Zug weiter.“ Das war auch mein Motto, zumindest für die Dauer dieses Turniers. Ich gewann alle 6 Partien und war klarer Turniersieger!
Qualifikation für das GM-Turnier und ein, für meine Verhältnisse prall gefülltes Portemonnais! 2000 DM! Ein Lohn für die harte Arbeit. Aber auch ein Durchbruch?
3) Biel
Nun, wie sah meine weitere Planung aus: 5 Tage musste/wollte ich in Bochum bleiben, meiner „neuen Heimat“. Dann Weiterfahrt zum alljährlichen Schachfestival in Biel. Und noch eines: jetzt den Erfolg genießen, sich freuen und glücklich sein.
Und was geschah? Ich verfiel in Depressionen. Ich möchte den Bochumern nicht zu nahe treten, aber dennoch bekam ich in den 5 Tagen einen ganz guten Eindruck davon, warum Bochum Deutschlandweit die höchste Selbstmordrate hat. Grönemeyers Song gab es auch noch nicht, also alles war grau, eher schwarz um mich. Schlafen konnte ich auch nicht, ich wurde siech, elend, krank. Und dazu noch Sehnsucht nach Angie. Ganz allein und fern der Heimat.
Dann kam eines (des 4.Tages) mein späterer Freund, damals gerade Bekannter, Lothar Nikolajczuk, vorbei und entdeckte mich, ganz am Boden. Er beförderte mich sofort raus aus diesem Loch und nahm mich mit zu sich in eine sehr geräumige Wohnung in Recklinghausen. Lothar wohnte mit seinem Freund Vladimir Budde zusammen. Vladimir war ein kommender Mannschaftskamerad von mir. Allerdings das 2. Brett, ein Riese, ich war ja zunächst nur Brett 6. Also für mich ein Gigant. Aber immerhin, und Vladi war auch ziemlich überrascht, hatte ich Dortmund gewonnen. Meine Depressionen verflogen im Nu, ich hatte wieder Leben, Menschen, aber vor allem Schachspieler um mich herum, das genügte schon.
Lothar und Vladi fuhren am nächsten Tag zusammen zum Turnier nach Baden-Baden. Ich fuhr mit bis dort, eine Nacht auf dem Zeltplatz, dann weiter nach Biel, mit dem Zug.
Im Jahr davor, 1979, war ich das erste Mal in Biel. Dieses Turnier ist wirklich ein Erlebnis. Nicht nur, dass die Schweiz selber sich (auch) dort von ihrer besten Seite zeigt: Es ist ein Riesenspektakel, beinahe ein Muss für jeden Schachspieler. Es gab drei Kategorien dort: Ein Intermediate-, ein Meister- und ein Großmeisterturnier. In der Spitze waren es über 1000 Teilnehmer, allesamt in dem riesigen Kongreßzentrum von Biel untergebracht. Ich studierte täglich eifrig die Tabellen, Namen und Elo-Zahlen der anderen Teilnehmer. Eines Tages 1979 stand ich mit einem Jungen meines Alters vor der Turniertabelle. Man kommt ohnehin leicht ins Gespräch unter Schachspielern, ich erkundigte mich kurz nach seinem Namen. Er antworte, kurz und knapp „Maier“. Daraufhin ich, geistesgegenwärtig „Ah, der C.“. Mein tägliches Studium der Ranglisten und Ergebnisse hatte in gewisser Weise Früchte getragen. Nur waren die Vornamen nicht ausgeschrieben, sondern mit Kürzeln angegeben. C. hatte ab diesem Moment nicht nur seinen lebenslangen Spitznamen weg, sondern es gedieh auch eine wirklich tiefe Freundschaft. Abgesehen davon, dass ich 59er Jahrgänge sowieso meist sofort nicht nur erkenne, sondern fast automatisch auch mag, sowie auch in aller Regel beinahe automatisch Wassermänner (C. ist zwei Tage nach mir geboren, womit ich ihn in schöner Regelmäßigkeit bei den in der Folgezeit häufig gemeinsam gefeierten Geburtstagen, allerdings nur genau am 28.1., aufzuziehen pflegte): C. musste man einfach gern haben. Und das nicht im Sinne von Otto, der das einmal über den Chef des Hauses sagte um dann, nach Gedankenpause, hinzuzufügen „—- sonst schmeißt er einen raus.“
In Biel traf ich auch 1980 C. Mit ihm gab es immer nur Spaß den ganzen Tag. Ich habe das so genossen, einfach wieder Leben, dass ich kein zweites Mal die Disziplin wie in Dortmund aufbringen wollte oder konnte. Das Leben hatte mich wieder, ich lief während der Partien herum, alberte mit C. und anderen herum und … erzielte 4.5/11. Mit das schlechteste Turnierergebnis jemals. In recht guter Erinnerung habe ich das Turnier dennoch.
2) Weiter nach – ja wohin eigentlich?
Im Verlaufe des Turniers hatte ich übrigens Robert Fischer kennen gelernt. Für Insider mag das mehr als überraschend klingen. Da Bobby in diesen Jahren für niemanden sichtbar war, geschweige denn für Schachspieler. Nichtsdestoweniger ist es aber dennoch wahr. Robert Fischer war ein Österreicher. Er hatte ca. 750 Elopunkte weniger als sein Namensvetter aus den Vereinigten Staaten, der Exweltmeister.
3) Bobby „the legend“
Meine Phantasie geht an solchen Stellen gerne mal mit mir durch. Meine zugegebene Neigung, auf eine beliebige Frage quasi automatisch meine Lebensgeschichte erzählen zu müssen habe ich mir insofern nutzbar gemacht, dass ich sie einfach aufgeschrieben habe. Laut Brecht müsste mich das nun zum Schweigen bringen (siehe Kapitel: Die Pauli-Leiter; Brecht: Reden – Schreiben — Schweigen). Auf den Effekt warte ich noch. Aber mir fallen hierbei einfach zahlreiche Geschichten drum herum ein, die alle eine Bewandtnis haben:
Mir wurde mal ein Auto gestohlen. Schlauerweise hatte ich vor dem Diebstahl a) die Versicherung gewechselt, da meine alte eine Wegfahrsperre verlangte, was zu der Zeit (1994) noch nicht selbstverständlich war und b) habe ich nach dem Erwerb des Wagens den Fahrzeugbrief im Auto liegen gelassen. Meine Versicherung war selbstverständlich nicht bereit, den Schaden zu begleichen. Ich gab aber trotz mir allseits versicherter Aussichtslosigkeit die Hoffnung nicht auf und besorgte mir einen Anwalt. Ich wusste ja exakt, wie sich die Geschichte ereignet hatte und war überzeugt, dass auch der Richter meine absolute Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit erkennen muss. Meine Anwältin teilte, wohl monetär bedingt, meine Einschätzung. In dieser Zeit habe ich etliche vergleichbare Geschichten gelesen. Kuriose Geschichte. Wie Diebstähle fingiert wurden. Wie die Betrüger überführt wurden. Aber auch, wie die Wahrheit ans Licht kam. Und dabei war eine Sache für mich bemerkenswert und sofort einleuchtend: Um den Wahrheitsgehalt einer Geschichte zu prüfen ist es meist ausreichend, den Erzähler nach Kleinigkeiten, Randdetails, zu befragen. Und bei erfundenen Geschichten geht das einfach nicht. Die Erfinder haben nur lapidar ihre vorgefertigten Antworten parat. Keine Detailerinnerungen. Ich bekam übrigens zu zwei Dritteln Recht, durch Vergleich.
Das schiebe ich nur ein, um ein Mal nur erwähnt zu haben, dass man sich bestimmt nicht über Mangel an Detailerinnerungen beklagen kann bei meinen Geschichten. Auch wenn manches unglaubwürdig, erfunden klingt: Es ist alles wahr (und nicht nur wahr“scheinlich“). Selbst jetzt steht mir meine Aufrichtigkeit noch im Wege. Sie befiehlt mir, zu erwähnen, dass es einzelne Details gibt, die im Sinne der Erzählbarkeit geringfügig modifiziert wurden. Die Geschichten bleiben aber wahr. Es (ist) wa(h)r so.
Aber: Was ist schon wirklich? Nach meiner Theorie (siehe auch Kapitel „Nihil ist — nichts ist (wirklich)“) eben quasi gar nichts. Also kann ich ja auch jetzt beim Phantasieren bleiben. Auf geht’s. Meine Zwillinge, die im Jahre 2002 geboren wurden, sind verschiedengeschlechtlich, also zweieiig. Sie sind am 28.Mai, im Sternzeichen Zwilling geboren. Nun, da die Ähnlichkeit aufgrund der geschlechtlichen Veranlagung nicht sofort augenfällig ist, werde ich gelegentlich mal gefragt: „Sind das eigentlich Zwillinge?“ Worauf ich ein lang gedehntes: „Jaaa“ ertönen lasse und noch bevor der Gesprächspartner das Wort wieder ergreifen kann ein „…vom Sternzeichen“ folgen lasse. Und diese Aussage ist, im Rahmen der Möglichkeiten, ja tatsächlich auch als „wahr“ einzustufen. Das damit absichtlich hervorgerufenen Erstaunen kann ich dann im Nachsatz noch eindämmen: „Obwohl die Aussage auf das Sternzeichen bezogen stimmt: Sie sind auch im Sinne Ihrer Frage Zwillinge.“ (Gelegentlich habe ich noch gerätselt, wie viele Kinder ich rein rechnerisch haben müsste: Zwei Zwillinge, die jeweils Zwillinge sind, was kommt da bloß raus? Zumal meine große Tochter auch noch {im Sternzeichen} Zwilling ist?).
Und da ich gerade beim Phantasieren bin kann ich gleich noch meine tatsächliche (Beinahe-)begegnung mit dem echten Bobby Fischer erzählen: Er befand sich im Jahre 1978 so um Weihnachten herum für einige Tage in Berlin. Ich, als absoluter Bobby-Fan und Verehrer, was mich aber nicht entscheidend von dem Rest der Schachwelt (außer der russischen) unterschied, betete nach wie vor inständig um sein Comeback. Den Weltmeistertitel hatte er bereits (an Karpov; durch Nicht-antreten) verloren (1975). Dennoch bestand noch Hoffnung.
Bobby wollte bei seinem „Auftritt“ in Berlin, wie immer, unerkannt bleiben. Nur gelang ihm dies nicht, da sich Arno Nickel, der bis heute Herausgeber des „Schachkalenders“ ist, sich zeitgleich mit Bobby im KaDeWe aufhielt. Arnos wache Augen hatten relativ schnell den Zusammenhang hergestellt. Als ehemaliger Hamburger war er auch mit ausreichend Mut ausgestattet und sprach Bobby direkt an: „Are you Bobby Fischer?“
Bobby war zwar, ganz schachspielertypisch, recht eigenartig. Aber Unehrlichkeit gehört eben nicht zu den ausgeprägten Eigenschaften. Er bejahte. Einmal identifiziert hatte er dann anscheinend auch ein wenig Freude an der Begegnung. Er besuchte später den Vorsitzenden des Berliner Schachverbandes, der auch Bücher verkaufte, Alfred Seppelt. Herr Seppelt hat ihm leider einen Strich durch seine Rechnung „kein Aufsehen“ gemacht und sofort seine eigenen Kontakte zu den Medien, also den Zeitungen, genutzt und am nächsten Tag einen Artikel über Bobby veröffentlich. Alfred Seppelt war zwar im Jahre 1955 Berliner Meister, was er bis heute mit einigem Stolz erzählt, dennoch liegen schachlich Welten zwischen ihm und Bobby, keine Frage. Insofern hat er sich ein klein wenig (oder auch etwas mehr) blamiert, als er in diesen Artikel die Worte schrieb: „Wir spielten sogar ein paar Partien. Aber Bobby Fischer hat anscheinend von seiner Spielstärke nichts eingebüßt, denn es gelang mir keine einzige Partie zu gewinnen.“ Daraus sollte man wohl unter anderem schließen, dass er einige Remis gehalten hat? Abgesehen davon hätte ich da auch als Bobby-Double auftreten können mit einem ähnlichen Ergebnis, bei aller Wertschätzung von Herrn Seppelts Spielstärke.
Was hat das nun mit mir zu tun? Naja, ich habe Bobby sozusagen nur um einen Tag verpasst. Meine Mutter hatte mir ein paar Schachbücher versprochen, zu Weihnachten. Wo erwarb man die? Bei Alfred Seppelt. Wir waren am folgenden Tag bei Herrn Seppelt zu Besuch, zwecks Bücherkauf. Ich lauschte fasziniert den Erzählungen und bat darum, in dem gleichen Stuhl Platz nehmen zu dürfen wie „the legend“. Ich durfte. Allerdings gehört es ins Reich der Fabel, dass ich anschließend die Hose nicht mehr gewechselt habe und meine Mutter sie schließlich vom Körper schweißen lassen musste…
Vielleicht bekommen Sie allmählich eine Ahnung, warum mir meine Denkweise mal einen Eintrag ins Klassenbuch einbrachte, der in dieser Form einmalig ist. Mein Lehrer, der mich übrigens im Gegensatz zu vielen anderen, wirklich mochte, sah sich mal genötigt, zu notieren: „Pauli stört den Unterricht. Grund: Assoziatives Denken.“
4) Wo war ich stehen geblieben?
Ok, ich weiß, in Biel. Und trotz aller angeborener Verschwendungssucht war es mir noch nicht gelungen, die 2000 DM durchzubringen. Ich hatte Geld und Ferien. Wohin geht’s also? Robert Fischer, der Österreicher, selbstverständlich ohnehin sofort Bobby gerufen, hatte bereits eine Idee: Er wollte nach Spanien, Badalona. Ich wusste, dass auch Vladimir Budde dorthin fahren wollte. Was lag also näher? Wir fuhren los am späten Abend. Die erste Nacht brachte uns bis Rimini. Dort ein längerer Zwischenstopp. Eric Lobron, damaliger Freund, bald danach Großmeister, war auch dabei, mit seinem eigenen Wagen, wir fuhren also im Konvoi. Eric machte in Rimini Urlaub. „Bobby“ hat sich ein wenig erholt und es ging weiter. Die Nacht verbrachten wir in St. Tropez. Traumhaft dort. Später noch mehr über St. Tropez.
Am nächsten Morgen weiter nach Badalona, ca. 40 km nordöstlich Barcelonas direkt an der Küste gelegen. Unterwegs kaufte ich mir das Buch „Spanish for travellers“ und war bereit für das Abenteuer Spanien.
Wir kamen am frühen Vormittag dort an. Wir fanden sofort ein (wohl eher: das) Hotel, das für Schachspieler nämlich. Meine erste Frage an der Rezeption: „Donde esta il mio amigo Vladimir Budde?“ Das hatte ich mir unterwegs angeeignet. Wo ist Vladimir? Der Freund war (noch) Erfindung. Aber Vladi war da.
Nicht genug der Kuriositäten, worauf das hin- habe ich bereits ange-deutet. Ich lernte Winfried Taeger kennen. Auch ein sehr guter Spieler. Winfried, wie er nie gerufen wurde, war bereits vollständig ergraut, obwohl altersmäßig dafür noch ungeeignet, ein 44er Jahrgang, hatte aus völlig unerfindlichen Gründen und ohne mein Zutun den Spitznamen „Bobby“. Nun war ich nur noch von „Bobbies“ umgeben. Zum Glück war ich grad nicht in England. Das dauerte noch ein bisschen.
Mit letzterem Bobby war ich tagtäglich unterwegs. Immer zum Strand, mit dem Zug die costa brava auf und ab. Die schönsten Strände gesucht. Das war aber nur ein Vorwand. Ich suchte in Wahrheit die schönsten Mädchen. Das war aber wirklich schwer. Nicht in Ermangelung, sondern wegen Überfluss… Diese Hautfarbe allein. Nie in meinem Leben habe ich eine solche gigantische Ansammlung von derartig schönen Mädchen gesehen. Ein typisches Gespräch: „Do you speak english?“ Nix. „Parlez vous francais?“ Sie schienen zu ahnen, was ich meinte. Dann die einzige mögliche Antwort „Solo Espanol.“ Ich war also auf meine spärlichen, aber wachsenden Spanischkenntnisse angewiesen. Tja, hier und da bekam ich sogar ein Date, so: „Va a venir?“ Werden Sie kommen? (Mein Buch gab nur die Höflichkeitsform her). „Si“. Aber das wars auch schon. Küssen, Anfassen? Kein Gedanke.
Außerdem, und jetzt reicht´s allmählich, gab es einen Turnierteilnehmer namens Lutz Paulsen. Der Lutz war aus Karlsruhe und wurde selbstverständlich, in Anlehnung an seinen auch recht berühmten Schach spielenden Namensvetter aus dem (vor-)vorigen Jahrhundert sofort und allseits nur noch „Louis“ gerufen. Das alleine war noch nicht bemerkenswert genug. Wir haben uns angefreundet und später ein kleines Abenteuer… das kommt gleich.
Das Turnier selber war wirklich toll. Die Partien begannen immer erst spätnachmittags um 17 Uhr, wegen der Mittagshitze Anfang August. Früher ging einfach nicht. Essen konnte man sowieso kaum tagsüber, war auch unüblich. Also gabs das richtige Essen erst nach der Partie. Aber was hieß schon „nach der“? Die Partien gingen bis 22 Uhr. Aber die, die nicht fertig waren, die so genannten Hängepartien, wurden anschließend, um Mitternacht, nach dem Essen, gespielt. Und davon hatte ich einige.
Bekannt bin ich auch auf eine Art im Turnier geworden, allerdings eher die traurige Form der Berühmtheit: In der vorletzten Runde, noch auf dem Sprung in die sehr guten Preisränge, hatte ich einen Bauern mehr im Turmendspiel gegen den Internationalen Meister Ochoa. Obwohl man unter Schachspielern gerne mal sagt: „Turmendspiele sind immer Remis“ hatte ich berechtigte Hoffnung, diese Partie zu gewinnen und ganz nach vorne zu kommen. Die Partie wurde abgebrochen. Wir gingen, wie üblich, Essen. Die Analyse ergab zwar weiterhin Gewinnchancen, aber keinen klaren Weg. Wenn es denn sein müsste, müsste man sich eben mit Remis abfinden.
Das fiel mir ausgesprochen schwer. Ich suchte immer weiter nach dem Gewinnweg, hätte mich allmählich mit dem Remis begnügen müssen und — ich überzog die Partie und verlor. Das alleine wäre aber noch nicht unbedingt spektakulär. Das passiert täglich. Nur: dass der Unterlege anschließend die Figuren mit der Dusche verwechselt war schon eher Aufsehen erregend. Voller Verzweiflung, anstatt mit Anstand aufzugeben, packte ich also sämtliche, auch die geschlagenen, Figuren und goss sie mir über den Kopf. Diese Form der Aufgabe war auch in Spanien noch nicht bekannt.
Ich habe dennoch durch einen abschließenden Sieg sogar noch einen kleinen Geldpreis erhalten. Es war also (immer) noch Geld da.
4) Quer durch Spanien
Nun muss ich mal wieder ein kleines Detail einschieben:
Ich hatte ja Dortmund gewonnen und damit die Berechtigung erlangt, im folgenden Jahr das Großmeisterturnier mitzuspielen. Der Veranstalter hatte jedoch ein ernstes Problem mit mir: Ich hatte keine Elo-Zahl. Ich war gerade erst aus der Jugend raus. Viele internationale Turniere hatte ich auch noch nicht gespielt. Und das Elo-System (siehe Kapitel „Das Elo-System“) war zwar längst eingeführt. Aber es gab noch keine all zu große Verbreitung der Zahlen. Man musste gegen Elo-Gegner spielen, um überhaupt eine Chance zu haben, eine Zahl zu erhalten.
Das Problem bestand darin: Ein einziger Nicht-Elo-Träger würde ausreichen, um dem Turnier in Dortmund den Status „Großmeisterturnier“ zu rauben. Sie haben mir die Auflage gemacht: Ich müsste eine Elo-Zahl haben bis zum Turnier im nächsten Jahr, um meine Teilnahmeberechtigung umsetzten zu können. Ich hatte nun in Erfahrung gebracht, dass es in London ein solches Turnier gab. Das war extra so beschaffen, dass Nicht-Elo-Träger eine Zahl „erspielen“ konnten. Das so genannte „Lloyds Bank Masters“ Turnier.
Glücklicherweise liegt Badalona nun in unmittelbarer Umgebung von England — allerdings nur im Vergleich zu Australien. Dennoch: Das Schicksal meinte es in dem Sinne gut mit mir, dass „Bobby Tiger“ (aus Taeger wurde blitzschnell „Tiger“ was man ganz einfach hinbekommt, so man T A E G E R wie ein gerade lesen lernendes Kind und „Tiger“englisch ausspricht) und Vladimir Budde auch auf die andere Seite Spaniens zu einem kleinen Turnier in der Nähe von San Sebastian. Wie kommt man dahin? Ganz einfach: Beziehungen nutzen. In diesem Falle Namens-. Lutz „Louis“ Paulsen war stolzer Besitzer eines BMW. Schach war nicht seine größte Leidenschaft. Er war eher Gourmet. Suchte immer nur die besten Lokale mit seiner Art Reiseführer heraus, nichts für uns also. Schachspieler sind immer auf „low budget“.
Louis war schnell überredet. Eine kleine Reise quer durch Spanien und drüben ein paar 5-Sterne-Lokale suchen? Gut, warum nicht. Jung, spontan, dynamisch, entschlussstark. Vier Mann in den BMW: Louis selber, Bobby the Tiger, Vladimir und ich. Und eine Fahrt quer durch Spanien. Das war schon ein rechtes Abenteuer. Ich erinnere mich auch kaum daran, jemals befestigte Strassen geschweige denn eine Autobahn gesehen zu haben. Es ging „über die Dörfer“. Staunende Kinder am (staubigen) Straßenrand inbegriffen.
Die Fahrt dauerte wohl länger als erwartet. Wir waren spät abends an der Nordwestküste. Nichts. Kein Hotel, kein gar nichts in Santander, zumindest nicht in unserer Preiskategorie und frei. Zurück auf die Landstraße. Wir fuhren noch ein Stück. Und plötzlich, es war so ca. 2 Uhr morgens, in einem kleinen Ort namens Torrelavega, ein riesiges Fest!
Was einem so alles passieren kann! Es war eine Art Rummel. Vladimir und ich haben sofort die riesige Rutschbahn entdeckt. Man bekam eine Art Teppich als Rutschunterlage und auf ging´s. Die längste Rutsche jemals in meinem Leben. Und die schnellste. Was für Stimmungsschwankungen! Auf einmal richtige Festtagsstimmung, kurz vorher nur bange Fragen.
Das Fest ging zu Ende, so ca. um 4 Uhr morgens. Wir erkundigten uns mit unseren gerade angeeigneten Fähigkeiten nach Schlafmöglichkeiten. Auch die Einheimischen überboten sich in Zurückhaltung: Es gab nichts. Was taten wir? Zurück ins Auto, es war noch dunkel, einen Parkplatz außerhalb in der Nähe des Meeres (man hörte das Rauschen aber alles war duster) – die älteren beiden durften im Auto schlafen, Vladi und ich draußen. Vladi suchte sich einen Baum und ich lag auf der Straße neben dem Auto. Die eine Stunde Schlaf war richtig erholsam!
Es war bald hell. Wir fanden dann eine Unterkunft in der Nähe von Santander. Ich fühlte mich sehr selbständig, als ich zum Hafen trampte. Mein Spanisch war so weit gereift, dass ich sogar ansatzweise Gespräche führen konnte. Und ich habe mir ein Schiffsticket gebucht. Am nächsten Tag, Santander – Plymouth, einmal über den Atlantik, ein Kindheitstraum.
Die Fahrt selber habe ich in etwas weniger guter Erinnerung. Ich war ziemlich verloren in der großen weiten Welt. Ich lernte auf dem Schiff einen Engländer kennen. Immerhin. Er fragte mich, ob ich schon gegessen hätte. Ich verneinte. Wir gingen ins Restaurant.
Ich fühlte mich durchaus seetauglich und –erfahren. Immerhin war ich schon mal von Hamburg nach Helgoland gesegelt. Die Nordsee mit einem Segelboot bei einigem Wind – da denkt man, man hat schon alles erlebt, was durchschütteln, Seegang, angeht. Aber hier, auf dem Atlantik? Das war vollkommen anders. Ich schaute immer aus dem Fenster. Mal sah man nur Meer, mal sah man nur Wasser. Was war das? Mir wurde es allmählich klar: Das war die Dünung, der Seegang hier. Endlos lange Wellen, die das Schiff nicht schnell sondern ganz gemächlich aber sehr ausgedehnt hin- und herschaukeln. Das war derart ungewohnt, dass ich tatsächlich – seekrank wurde.
Ich verbrachte die restliche Zeit der Überfahrt zu ca. 80%, in meiner Kabine. Die restlichen 20%? Wenn Sie es wirklich wissen wollen mein Rat: Seekrank werden… Auch diese 24 Stunden gehen irgendwann vorbei. Und so war es auch. In Plymouth angekommen war lichter Tag (so weit in England möglich). Der nächste Zug brachte mich nach London. Ein Taxi nach Finsbury Park, zum Spielort, ca. anderthalb Stunden. Normal für London. Ich war zu spät. Aber ich durfte noch mitmachen. Und: Ich gewann sogar die erste Runde, gegen A.P. Lewis, wie ich mich bis heute entsinne. Nach den Strapazen!
Ich spielte das Turnier mehr schlecht als recht. Walter Pilz aus Graz war mein Zimmergenosse. Er trug seinen Namen nicht ganz zu Unrecht. Nur muss irgendwo ein orthographischer Übermittlungsfehler aufgetreten sein. Er hätte sich schreiben müssen „Pils“.
Das kam mir in meinem jetzt eingetretenen Dauerzustand (sollte das Erschöpfung, Depression, Heimweh sein?) gelegen. Wir nahmen immer schon zwei Bier, selbst wenn sie in England nicht Pils hießen, vor der Partie. Wir hatten sozusagen eine Antwort auf die Frage „two beer or not two beer“ gefunden. Sie lautet „Yes, but two beer each“ (Asterix hat auch mal bei einer Reise mit seinem Freund Obelix nach einem langen Tag beim Einkehren in das Lokal „Zum gebratenen Wildschwein“ bestellt „Zwei Wildschweine, bitte.“ Der hinter ihm gehende Obelix dann „Für mich auch zwei.“). Die klare Gewinnstellung gegen Großmeister Gheorghiu verdarb ich, wie üblich. Aber es reichte trotzdem: Ich hatte meine Elo-Zahl!
Das Geld ging allmählich zu Ende. „Finsbury Park“ hieß auch nicht nur so… Ich musste nach Hause. Wie jetzt nach Berlin? Mangels Alternativen und in wirklich schlechtem Zustand bat ich meine Mutter, mir etwas Geld zu schicken, für den Rückflug. Meine Mutter, ja, meine liebe Mutter, sie tat, wie ihr geheißen, um den verlorenen Sohn zurückzuholen. Der erste Flug in meinem Leben. Ich hätte es keinen Tag länger ausgehalten. In Heathrow angekommen gab es einen Flug. Der war voll. Man tröstete mich: Ich könnte das Ticket trotzdem kaufen und als „stand-by passenger“ mein Glück versuchen, ansonsten am nächsten Tag. Bitte, bitte, nur das nicht! Es gab insgesamt vier stand-by Passagiere. Ich war an Position vier. Aber ich durfte mit. Damals hatte ich noch gar keine Ahnung, was „Glück“ wirklich bedeutet…
Der Flug über Hannover nach Berlin war auch noch aufregend. Aber ich wollte, musste nur noch eins: Nach Hause, in mein eigenes Bett.