- Die Schach Bundesliga
Wie berichtet hatte ich einen Verein gefunden, der mir einen Stammplatz in der 1.Schachbundesliga garantiert. Ich durfte spielen am 6.Brett. Insgesamt werden Mannschaftskämpfe im Schach an 8 Brettern gespielt. Diese sind für gewöhnlich nach Spielstärken aufgestellt. Ich hatte also nicht unbedingt die aller schwersten Gegner zu erwarten. Aber Bundesliga ist Bundesliga. Mit 21 Jahren, wo man das Gefühl hat, dass einem noch alles offen steht, allerdings auch das meiste noch neu ist wuchs die Aufregung, je näher der erste Spieltag kam.
Die Schachsaison wird ausgetragen von Oktober bis spätestens Mai. Man spielt also ein halbes Jahr lang Mannschaftskämpfe (die dunkle Jahreszeit) und hat ein halbes Jahr lang ist Pause. So ist es in Deutschland (besser: war seit ich denken kann bis heute, 2008). 16 Mannschaften waren in der 1.BL, gegen jede spielte man ein Mal, machte 15 Kämpfe. Diese wurden so ausgetragen, dass man mit einem geographisch möglichst nahe gelegenen Reisepartner zusammengelegt wurde, und stets entweder zwei andere derart gepaarte Mannschaften besuchte oder von diesen besucht wurde. Machte pro Schachwochenende zwei Partien, natürlich Sonnabend und Sonntag. Dazu gab es stets zum Jahresanfang die eine Einzelrunde, wo man gegen seinen Reisepartner antreten musste. Das machte insgesamt 8 Wochenenden von Oktober bis Mai, also ziemlich genau ein Wochenende pro Monat. 7*2 Kämpfe + 1*1 Kampf = 15. Spannend war das allemal, da in früheren Zeiten, wie an anderer Stelle berichtet, eine Saison entweder 7 oder 9 Kämpfe umfasste. 15 waren deutlich mehr und für einen Schachenthusiasten wie mich ideal.
Von den finanziellen Bedingungen, von denen ich sprach, wo recht schnell Einigkeit herrschte kurz so viel: Norbert Franke, der Mannschaftsleiter der SG Bochum 31, hatte mir für jeden Spieltag ein Flugticket zugesagt. Das waren in etwa 400 DM. Selbstverständlich bin ich (außer einmal, aus zeitlichen Gründen) nie geflogen sondern habe das Geld als Verdienst betrachtet. Norbert wusste, dass ich immer pünktlich da war. Wie ich kam, war ihm entsprechend egal. Für mich machte das pro Saison 8*400 DM, etwa 3200 DM pro Saison.
Die Fortbewegungsart, die ich anstatt Fliegen verwendet habe, war fast selbstverständlich zu jener Zeit das Trampen. In aller Regel habe ich also an Schachwochenenden am Freitag die Uni verlassen und bin aufgebrochen zur Autobahn. Für Berliner war die Anlaufstelle ziemlich einheitlich: Kontrollpunkt Dreilinden. In Dreilinden hatte man nur relativ geringen Einfluss auf die Wahl des Autos und des Zielortes: Da standen zu der Zeit stets 50 – 100 Tramper, etliche mit Schildern ausgestattet, und wer immer bereit war, einen oder mehrere mitzunehmen hielt an. Der Anhaltende wurde sofort bestürmt und nach seinem Reiseziel befragt. Dann gab es entweder lange Gesichter oder erfreute. Jedenfalls teilte der Anhaltende dann noch die Anzahl mit, die er bereit war zu transportieren. der Rest war Anarchie. Nur halte ich Anarchie unter solchen Umständen für ein äußerst geeignetes Mittel zur Bestimmung der Mitfahrer. Man wurde sich meist schnell einig. Man wusste ja zumeist auch, wer schon früher da war oder für wen der Zielort günstiger lag.
Ich persönlich hatte dabei auch meine eigene Einstellung. Falls Sie die Broschüre „Die Kunst des Trampens in den 80ern“ von Dirk Paulsen, zu erscheinen im … Verlag, noch vor 2020, nicht gelesen haben, dann gebe ich Ihnen hier einen kurzen Einblick: Mir war es fast gleichgültig wie nahe ich an mein Reiseziel gelangte. Ich hatte nie, und ich betone: nie, ein Schild dabei. Das bietet einem jeden Vorbeifahrenden ein willkommenes Alibi. „Stuttgart? Nee, Stuttgart, da fahr ja ich nicht hin.“ Ein Schelm, wer nach Stuttgart fährt und dennoch nicht anhält: „Kann der doch gar nicht wissen.“
Ab Berlin war es mir also gleichgültig, wie weit der Betreffende fuhr. Hauptsache die grobe Richtung war entweder Hannover oder Nürnberg, je nachdem, welchen Grenzübergang ich an diesem Tage brauchte. Ich wollte nur nach „Westdeutschland“. Wenn man dann über die Grenze war, konnte mich derjenige, wie ich ihn schon beim Einsteigen vernehmen ließ, an jeder beliebigen Raststätte raussetzen. Denn auf einer Raststätte war ich fast schon am Zielort.
Das lag an der Kombination von Eigenschaften, wie ich mir einbilde: Zunächst mal habe ich nach und nach wirklich restlos alle deutschen Autokennzeichen gelernt (mehrere Ungläubige haben das geprüft mithilfe des ADAC-Atlasses und mussten sich nach Abfrage aller vorhandenen Kennzeichen geschlagen geben). Dann habe ich mich im Bereich aufgehalten, wo die Leute getankt haben. Nicht etwa vorne, wo die Meisten standen, die dann ihre Schilder hochhielten und die gerade wieder nach Rast in Fahrt geratenen Autos zum erneuten Anhalten bei Ausfahrt von der Raststätte bewegen wollten. So ein Verhalten konnte etliche Stunden kosten.
Ein paar weitere Eigenschaften, als da wären Aufdringlichkeit, Dreistigkeit, Unverfrorenheit und Unerschrockenheit, ließen mich fast jeden ansprechen. Ich hatte auch die Theorie, dass man die Menschlichkeit bei jedem herauskitzeln kann, dass die Leute im Grunde danach suchen. Also Anzugträger, Machos, Porschefahrer oder allein stehende, junge Damen, ältere Ehepaare. Ich machte vor nichts und Niemandem Halt. Und eröffnete das Gespräch meist mit einer Anspielung auf die Heimatstadt, wobei mir im Wesentlichen die Kenntnis des –zeichens genügte. Nun, kurioserweise lässt das alleine schon häufig das Eis brechen. Viele fühlen sich geschmeichelt, wenn man ihre (häufig kleine) Heimatstadt überhaupt kennt. Dann war ich glücklicherweise meist noch über die geographische Lage informiert. Dass es mir bei der dann in Gang gebrachten Unterhaltung mit einer gewissen Übung bald schon gelang, beinahe spielerisch meine eigenen Absichten einfließen zu lassen, schien meinen Gesprächspartner dann wohl beinahe gar nicht aufzufallen. Ich wurde dann quasi als Freund der Familie, Kollege oder langjähriger Bekannter wie selbstverständlich mit eingeladen. Mein gewählter Umgangston, mein Charme, meine Wortgewandtheit, mein attraktives, gepflegtes Äußeres, mein Humor, meine Schlagfertigkeit und meine ganz offensichtliche Bescheidenheit waren selbstverständlich auch mitverantwortlich für meinen Tramperfolg. Ich kam immer weg. Das gepflegte Äüßere: lange Haare, noch nie rasierter Pflaum, über die Jeans getragenes Holzfällerhemd, die damals übliche Kutte, sicher auch Achselschweiß und Mundgeruch. So viel nur noch zum Thema Ironie.
- Die schachliche Seite
Die erste Saison spielte ich also am 6.Brett in der Bundesliga. Und ich eilte tatsächlich von Sieg zu Sieg. 15 Partien, wovon ich nur 2 Remis spielte und 2 verlor. Die anderen 11 Partien konnte ich gewinnen. Ergebnis also, in der Schachsprache 12 aus 15. Ich schwamm auf der Erfolgswelle. Die Mannschaft auch. Wir erreichten einen sehr überraschenden 4.Platz. Das war weit mehr, als uns zugetraut werden konnte.
In der zweiten Saison durfte ich am 4.Brett ran. Aber auch da ein ähnliches Ergebnis. Diesmal erreichte ich 11 aus 15. Aber die Summe dieser beiden Ergebnisse brachte mir damals gar ein Foto in der damals größten Deutschen Schachzeitung, dem Schachreport, ein. Die langen Haare hingen über dem Brett. Man nannte meine Spielart auch „System Trauerweide“. Aber immerhin, darunter stand: „Dirk Paulsen, der erfolgreichste Bundesligaspieler der ersten beiden Spieljahre der eingleisigen Bundesliga.“ Sicher, das Ergebnis war natürlich nicht direkt vergleichbar mit den Ergebnissen an den höheren Brettern. Aber immerhin, die Gesamtpunktausbeute war überragend. Da Sie grad nicht greifbar sind klopf ich mir selber mal auf die Schulter. Aber Sie müssen zugeben: Ich musste auch schon einiges einstecken, da kann ein bisschen Eigenlob gar nicht schaden, oder?
- Der Saisonabschluss und mein zweiter Flug
Die Saison ging zu Ende. Wie üblich im Mai. Unsere Schlussrunde war in München. Wie berichtet packte mich ab Mai in aller Regel Fernweh. Pläne schmieden, die länger als die nächsten fünf Minuten Gültigkeit besitzen lag mir mein Leben lang nicht. Ich war jung, hatte ein Riesenergebnis erzielt, war in München, war frei und ungebunden und hatte dennoch ein paar Freunde. Wohin führt mich das Schicksal diesmal? Definitiv nicht nach Hause, das stand fest. Die Uni kann bis Oktober warten. Die Sonne schien. Und Stefan Kindermann, ein Schachfreund seit der Jugend, ein echter Münchener, heute auch längst Großmeister, war auch in München. Ich hatte ihn gar besiegt an jenem Tage. Er wollte zum Bahnhof, als unsere Analyse der Partie beendet war. „Wo geht’s denn hin, Stefan?“ „Ach, ein kleines Turnier in Österreich. In St.Johann in der Heide. Der Zug fährt in 25 Minuten.“ „Das reicht ja für Anfahrt, Ticket holen und mitreisen.“
Wir brachen also auf zum Bahnhof, die 400 DM hatte ich ja in der Tasche. Ich löste das Ticket nach St. Johann. Und los ging die Fahrt. Allerdings handelte es sich um ein Einladungsturnier. Ich konnte nicht mitspielen. Der Übernachtungspreis betrug etwa 80 DM. Da könnte ich ja gerade mal 5 Nächte bleiben. Und wenn ich mal Hunger hatte außer zur Frühstückszeit?
Nun gut, ich blieb dennoch. Ich schaute Stefan und den anderen Größen zu und genoss das Leben. Als Stefan dann noch eine Hängepartie gegen Danner hatte, welche erst am nächsten Tag weitergespielt werden konnte, und er mir als seinem Sekundanten die Analysearbeit übertrug, die Partie am nächsten Tag aufgrund meiner wirklich guten Analyse zum Sieg führte, da stand sein Entschluss fest: Ich werde sein Sekundant, wenn er sich für einen Play-Off Kampf um die Weltmeisterschaft qualifizieren würde. Die Umsetzung scheitert leider seitdem bisher an seinen erfolglosen Qualifikationsversuchen. Ein Ritterschlag war es allemal, zumindest ein gefühlter.
Die zwei, drei Tage gingen vorüber. Allmählich beschlich mich doch das Gefühl, dass es so nicht weiter gehen könnte. Hauptgrund: Die beschränkten finanziellen Mittel. Vom Lebensgefühl her hätte ich es noch lange aushalten können. St.Johann, dieses zumindest, das in der Heide liegende, ist aber in der Nähe von Graz. Es gab also gelegentlich Zuschauerbesuche aus Graz. Den einen hatte ich in äußerst unangenehmer Erinnerung. Er hatte mir nämlich im Jahr zuvor, bei der Juniorenmannschaftsweltmeisterschaft in Graz eine sehr empfindliche Niederlage beigebracht. Und im Schach gilt das Gleiche wie im Fußball: Gegen Österreich darf man einfach nicht verlieren.
Zum Glück konnte ich in einem Blitzmatch Revanche nehmen. Aber er war in Begleitung anderer Schachspieler aus Graz. Und unter anderem gab es ja auch meinen alten Kameraden Walter Pilz, den ich in London kennen gelernt hatte, nach dem ich mich dann selbstverständlich auch erkundigt hatte. „Ja, der Walter, klar ist der da, jeden Tag im Café, wo wir auch täglich Schach spielen.“ Was lag also näher, als…? Gut, ich packte meine Sachen und nahm die Mitfahrgelegenheit wahr, nicht ohne meinem Freund Stefan noch alles Gute und viel Erfolg zu wünschen.
Angekommen in Graz traf ich also weitere Schachspieler, einige die ich schon vom Vorjahr kannte, eben der Juniorenmannschaftsweltmeisterschaft. Und nicht ganz umsonst heißt der unter Schachspielern häufig zitierte Zusammenhaltsspruch ja auch „Gens una sumus.“ Wir sind eine Familie (genauer: ein Geschlecht). Und es kann sogar sein, dass es eine gewisse Hierarchie gibt. Ich war doch als Teilnehmer ein halbwegs anerkannter Spitzenspieler. Und ein Schachfreund konnte womöglich stolz sein, einen besonders starken Spieler bei sich unterzubringen. Kurzum: Ich fand spielend leicht ein Gratisquartier. Das war besser als St.Johann, vor allem weil billiger.
Aber mein alter Freund Walter Pilz hätte eine weitere Namensvariation tolerieren müssen, diesmal in „Walter Gspritzter“. Anstatt Pils, wie noch bei unserer ersten Begegnung, trank er nur noch Gspritzte. Immerhin hat es mir auch dieses Getränk vertraut gemacht, ich folgte ihm, seinem zweifellos vorhandenen Talent in „Lebenskunst“ blindlings vertrauend.
Eine kleine Geschichte nur nebenbei: Ich mag zwar frei und ungebunden gewesen sein, was aber nicht automatisch bedeutet, dass man mit dem anderen Geschlecht (sumus) nichts zu tun hat. Im Gegenteil. Ich war entweder in „Beziehung“, hatte also eine feste Freundin, oder ich war verliebt. Diese beiden Zustände schließen allerdings Gleichzeitigkeit nicht aus.
Zu diesem Zeitpunkt war ich alleine, demnach also verliebt. Nur hatte ich noch keinen so rechten Zugang zu meiner Auserwählten gefunden. Die Verliebtheit machte sich auch erst so allmählich richtig bemerkbar, in Form einer geheimnisvollen Sehnsucht, die sich in Geist und Körper einschlich.
Graz war also toll, einfach schön, und selbst das Geld könnte noch ein paar Tage halten. Die Sehnsucht stand dem Bedürfnis des Bleibens und Graz Genießens etwas im Wege. Nebenbei hatte ich gar, als halbwegs Unbekannter (mein Ruf glich sicher keinem Donnerhall), häufig genug ein paar Blitzduelle, bei denen ich mein Taschengeld ein wenig aufpolieren konnte.
Aber am dritten Abend betrat spät abends ein ebenfalls mir vom Vorjahr bekannter Schachenthusiast das Lokal. Er hatte schon im Jahr davor irgendwelche Avancen gemacht. Allerdings nicht in dem Sinne, wie Sie es sich jetzt vorstellen. Er wollte mit mir spielen. Während des Turniers war es mir unmöglich. Aber heute? Er war nicht nur bereit, er war regelrecht spielwütig. Er war Hobbyspieler, oder wie sollte ich das nennen? Wir kamen schnell überein, dass ich ihm eine Zeitvorgabe gewähren müsste. Wir einigten uns auf 2 Minuten Bedenkzeit für mich, 5 Minuten für ihn, für die ganze Partie, versteht sich. (nur nebenbei: bei allen großen Blitzturnieren, Meisterschaften, gilt die Regelung 5 Minuten für jeden Spieler, für die ganze Partie; wer die Zeit überschreitet hat sofort verloren).
Als er nach den ersten Partien feststellte, dass die Bedenkzeitregelung keine Chancengleichheit gewährleistet, stellten wir um. Ich eine Minute, er 5 Minuten. Falls Ihnen das wenig vorkommen sollte, so darf ich hier mal meinen alten Schachweggefährten, ebenfalls Großmeister, Klaus Bischoff, ebenso x-mal Deutscher Blitzschachmeister, kurz zitieren. Er beobachtete eine Blitzpartie. Er fragte, welche Bedenkzeit gespielt würde. Auf die Antwort: „Wir spielen 2 Minuten Schach.“ entgegnete er: „Ach, 2 Minuten, das ist ja Fernschach.“
Nun gut, Klaus war (und ist, auch heute, 2008) wirklich einer der Schnellsten. Aber 2-Minuten Schach ist nicht unbedingt Fernschach. Man kann zwar eine Partie ordentlich spielen und auch den Gewinn normal realisieren, aber man muss schon verdammt schnell sein. Klaus war eben der Meister, er durfte das sagen.
Aber die eine Minute, die ich jetzt noch zur Verfügung hatte, die wird in der Regel so verwendet: Der Gegner hat gezogen, drückt auf die Uhr und setzt damit die eigene Uhr in Gang. Die Hand ist bereits über dem Brett und muss nur noch den längst geplanten Zug ausführen. Dieses tun und anschließend die Uhr betätigen (immer brav mit der Zughand, so will es der Schachbund, die FIDE) ist quasi eines. Für Überraschungen bleibt da kein Platz. Kleinhirn und Großhirn stellen ihre Tätigkeit ein. Reine Zeitverschwendung. Man spielt sozusagen „mit dem Rückenmark.“ Mechanische Umsetzung per Hand, alles eine Bewegung mit Uhrdrücken. Denn: Wenn Sie mal berechnen, dass eine normale Schachpartie mindestens im Schnitt 40 Züge dauert (geschobene Kurzremisen sind dabei ausgenommen), hier der Gegner aber immer, auch bei hoher Materialunterlegenheit, bis zum Matt weiterspielt, kommen Sie locker auf einen Schnitt von 60 Zügen pro Partie. 60 Züge, 60 Sekunden, das macht eine Sekunde pro Zug. Sie spüren, dass da nicht allzu viel Platz für tiefgründige Kombinationen bleibt?
Aber mein Rückenmark und meine Hand arbeiteten glänzend zusammen. Die nebenbei selbst eingflößten Gspritzten waren da eher förderlich: Denken unerwünscht. Der Mann wurde nicht müde und er ging auch nicht Pleite. Der Morgen graute und noch vieles mehr. Meine Geldbörse füllte sich. Um 8 Uhr morgens musste er wohl endlich weiterziehen (sind Sie überrascht, dass es in Graz Lokale gibt, die rund um die Uhr offen haben? Ich schon, aber es war so. Oder bekommen Schachspieler gelegentlich Narrenfreiheit? Zustehen würde es ihnen jedenfalls…).
Ich begab mich zu meiner Unterkunft. Mein Gastgeber musste auch gerade zur Arbeit. Ich wollte ihm auch nicht weiter zur Last fallen. Der Kassensturz ergab übrigens ca. 650 DM Gewinn. Die Sehnsucht nahm wieder ihre Tätigkeit auf. Ich packte meine Sachen und brach auf zum Bahnhof. Ich hatte einen neuen Plan. Und tatsächlich…
Der nächst Zug brachte mich nach Wien. Ein Frühstück im Speisewagen, leicht unwirklich wahrgenommen, aber sehr wohlschmeckend. In Wien angekommen weiter zum Flughafen. Es gab tatsächlich einen Flug nach … ja, wohin schon? Zur Verehrten, nach Berlin. Kostenpunkt: Ziemlich genau 500 DM. Der Zug hatte ja auch schon seinen Preis, und in Wien zum Flughafen verschlang das Taxi weiteres Geld. Aber ich war ein Mann mit einer Mission an diesem Tage.
Das Flugzeug brachte mich nach Berlin. Auf nach Hause, ans Telefon. Handys? 1982? Nee. Anruf bei der jungen Dame. Sie nahm tatsächlich ab. Ich leitete ziemlich schnell zu meinem Anliegen über: „Du, ich bin heute aus Graz zurückgekommen, hab mir da das Geld für einen Spontanflug nach Berlin verdient, um Dich (schrieb man damals so) zu treffen. Ich wollte mit dir zu Burger King, am Ku-Damm. Kommst du?“ „Ja, ok. Wann?“ „Jetzt gleich?“ „Gut“.
Ich hatte also mein Date. Wir trafen uns, nahmen sowohl einen Hamburger als auch die Pommes und den damals verpflichtenden Erdbeershake, war doch alles noch ziemlich neu. Nun, Sie warten gespannt auf das Happy-End? Da müssen Sie schon einen Hollywood Film schauen. Wir wurden kein Paar. Ich weiß nicht mal mehr, warum. Immerhin: Mein Geld reichte genau noch für die Rechnung.
Ich hatte meinen Lieblingszustand wieder: Kein Geld aber glücklich. Und ich hatte doch was erlebt?
- Der Generationenvertrag
Jetzt haben Sie mich ja als fast reinen Schmarotzer erlebt. Aber ich hatte auch schon in dieser Zeit eine Philosophie: Es gibt den Generationenvertrag, dieser hier gilt aber für Tramper. Die Idee war die: Man hat keinen Führerschein und kein Geld. Man nutzt die Mitfahrgelegenheiten auf den häufig freien Plätzen. Dennoch profitiert man, ohne Gegenleistung. Aber man kann sich ja vielleicht eines Tages sowohl Führerschein als auch Auto leisten. Und dann kann man sich revanchieren. Dann kann man selber Tramper mitnehmen, die nächste Trampergeneration.
Ich machte meinen Führerschein Anfang 1983. Und hatte dann auch oftmals ein Auto. Und habe meinen Teil der Vertragsverpflichtung eingehalten. Ich habe jeden mitgenommen. Ich bin häufig extra nachts an allen Raststätten rausgefahren, um nach gestrandeten Trampern zu suchen, so lange noch Platz im Auto war. Und man macht so auch die schönsten Bekanntschaften. Ich habe sogar die Leute zu ihrem Zielort gebracht oder so günstig wie möglich rausgesetzt, meine eigene Erfahrung als Tramper nutzend. Oder, wenn wir nach Berlin kamen, habe ich ihnen Unterkunft gewährt. Ich habe auch oft gefragt, ob sie Führerschein hätten. Wenn ja, durften sie, manchmal mussten sie gar, wegen eigener Müdigkeit, fahren. Irgendwie gilt hier auch: Einmal Freak, immer Freak.
Schauen Sie den Film von Jim Jarmush, „Down by law“, unter anderem mit Roberto Begnini. Er hat sein Zitatenheft immer dabei, schnappt Sprüche auf und notiert si, um sie im geeigneten Moment zu zitieren. Und bei seiner ersten Begegnung mit Tom Waits, der gerade bei seiner Freundin rausgeflogen war und verloren auf der Strasse saß, nahm er auch sein Heft heraus und verlas: „Its a sad and beautiful world.“ Es ist eine schöne und traurige Welt…