Dieser Titel mag kurios klingen. Ich wende mich damit explizit an all diejenigen, die mich immer wieder fragen, ob ich mein Wettbüro noch hätte. Und ich möchte jetzt nicht noch zusätzlich einen Exkurs über Aggressionen, deren Ursachen und deren Sinn halten, aber diese Frage löst welche bei mir aus. Warum das so ist, hat mehrere Gründe:
- Der mangelnde Wahrheitsgehalt
Nun, ich weiß nicht genau, wie Sie reagieren, wenn man Ihnen zunächst ein Verhältnis unterstellt, Sie mühsam korrigieren und richtig stellen, dass es sich nur um eine kurze, flüchtige Begegnung handelte, gar ohne Sex, höchstens ein Flirt, noch dazu mit deprimierendem Ausgang. Und Sie werden Jahre später, von wechselnden Gestalten, die Sie selber nur oberflächlich kennen, immer wieder gefragt: „Sag mal, hast du eigentlich noch diese Affäre da? (Sie hören gar die Klammerbemerkung heraus: „Das war ja unheimlich spannend. Wir haben uns alle die Mäuler zerrissen darüber damals“) Die ersten drei Male stellt man (zumindest ich, selbst als Choleriker) geduldig richtig, klärt auf, man wisse nicht, warum sich ein solches Gerücht so lange halten könne. Es gab die Affäre nicht (und das lag nicht mal an Ihnen!). Aber ab dem vierten Mal fallen die Antworten allmählich weniger diplomatisch aus.
So also auch bei mir. Es stimmt nicht. Ich habe kein Wettbüro. Immerhin aber einen kleinen Flirt hatte ich. Auch der wurde, zugegebener- und bedauerlicherweise und eher unfreiwillig, beendet. Das Bedauern rekrutiert sich aber nicht aus dem Fakt, dass es so schön war.
- Diese naive Vorstellung, dass es nur auf dieser Seite zu gewinnen geht
Geständnisse habe ich ja schon einige abgelegt. Heißt aber nicht, dass es nicht noch wesentlich mehr dunkle Seiten gibt, von denen Sie noch nichts wissen. Ich arbeite an Aufklärung. Hier also ein weiteres: Ich hatte auch eine Weile lang die Vorstellung, gar beinahe den Plan, möglicherweise ein Wettbüro zu eröffnen. Ich hatte sogar schon einen Namen! Aber dazu später auch noch etwas mehr.
Es war also das Jahr 1990. Die EU hatte irgendeine Form von einheitlicher Gesetzgebung vereinbart. Das nährte die Hoffnung, dass es auch in Deutschland eines Tages Wettbüros geben würde. Nein, sogar das stimmt nicht ganz: Es gab bereits welche. In der DDR wurden in der Endphase ihrer Existenz ein paar Lizenzen ausgegeben. Was diese Lizenzen allerdings tatsächlich beinhalteten und wie diese „Unternehmen“ weiterleben wollten, war noch ziemlich offen. Jedenfalls streifte mich dann der Gedanke, auch so etwas machen zu können. Mit der von mir erstellten Software wäre ja vieles denkbar gewesen, so auch dieses.
Die konkreten Erlebnisse, die ich als Buchmacher, als Wettanbieter, hatte, kann man weiter unten nachlesen. Ein paar theoretische Überlegungen möchte ich Ihnen aber dennoch vorab präsentieren, warum ich heute absolut nicht neidisch auf denjenigen bin, der sein Geld so verdienen muss oder will (für die theoretische Abhandlung zum Thema „Neid und Missgunst“ müssen Sie leider noch bis zu meinem vierten Buch warten, Nummer zwei und drei sind schon inhaltlich vergeben).
Wenn man Wetten anbietet, also bereit ist, Wetten zu halten, dann ist man exponiert. Zu der Zeit waren es ja alles Fixquoten (mehr dazu im Kapitel „Der Wettmarkt“). Man schreibt 200 Quoten hin. Eine davon ist ein Fehler, schlicht zu hoch. Die Leute vergleichen (gab es damals schon) und wetten nur auf diesen einen Fehler. Man hat sich die Mühe gemacht, so viele Quoten auszurechnen. Alle stimmen (nur eine lächerliche Annahme) aber nur die eine wird gewettet. Wie viel schöner ist doch die andere Perspektive: Ich, Sie, wir schauen uns einen Wettzettel an. Schön, hübsch, gute Arbeit. Aber vielleicht finden wir doch ein, zwei Spiele, wo die Quoten verlockend (zu?) hoch sind. Herrlich!
Nix Wetten anbieten, selber spielen. Wetten halten und Wetten abschließen unterscheidet sich auch grundsätzlich nur ganz gering, eher gar nicht. Wenn Sie wetten, dass Leverkusen gewinnt, dann wettet Ihr Buchmacher, derjenige, bei dem Sie wetten, sofort bei Ihnen, dass Leverkusen nicht gewinnt. So einfach. Nur hat er keine echte Kontrolle über die Betragshöhe (auch dazu mehr im Kapitel „“). Die Wetthöhe bestimmen Sie, bis zum Limit natürlich nur.
- Meine Erlebnisse tatsächlich damit
- Schwarze und weiße Männer
Ok, Geständnisse über Geständnisse. Zur WM 1990 hatte ich also mein Programm so weit, dass es Quoten berechnen konnte. Mein Ansatz erlaubte mir, Quoten für alle möglichen Ereignisse auszurechnen (die Wahrscheinlichkeiten wurden mithilfe der Quotenformel in Quoten umgerechnet). Die Berechungen waren aber schon an den aktuellen Wettangeboten orientiert. Es gab also 1-X-2, Halbzeit-Endstandwetten, Ergebniswetten aber auch Langzeitwetten. Ich habe auch die ganze WM hindurch darauf gewettet.
Allerdings habe ich auch selber Wetten angeboten. Zur WM haben ohnehin alle Leute gewettet. Also habe ich einfach selber einen Quotenzettel erstellt, täglich. Für die Spiele des Tages und für Langzeitwetten. Und tatsächlich wurde darauf gewettet. Micha, mit dem ich schon bei der EM 1988 alles gemeinsam gemacht hatte, stieg ein. Dadurch war auch eine kleine, finanzielle Absicherung gegeben.
Wir hatten wohl trotz des deutschen WM-Sieges noch Glück. Denn ich erinnere mich, wie mein geistesgestörter Computer riet, auf England gegen Kamerun eine 1.40 zu bezahlen. Das ergab auf der Gegenseite, also auf Sieg Kamerun (in 90 Minuten; ohne Verlängerung), eine 6.70. Ich habe damals in grenzenloser Naivität diese Quote unverändert gelassen. Obwohl doch jeder gesehen hatte, was Kamerun konnte. Sie hatten ja bereits im Eröffnungsspiel Argentinien geschlagen.
Als Konsequenz der Fehleinschätzung auf das Spiel ergab sich noch eine weitere, völlig absurde Quote: Für Halbzeit-Endstand, das Ereignis England führt zur Pause aber Kamerun gewinnt am Ende (nach 90 Minuten) spuckte mein Computer die sagenhafte Quote von 70.0 aus! Und auf die wurde gewettet, wenn ich mich recht entsinne 110 DM insgesamt. Das allein hätte also schon 7700 DM gekostet.
Also es war einiges Geld auf Kamerun Sieg, Kamerun kommt weiter, Kamerun Halbzeit-Endstand, Kamerun, quasi immer nur Kamerun. Dann mussten wir natürlich auf England hoffen. Und als England in der ersten Halbzeit in Führung ging, konnten wir uns ja nicht direkt beklagen. Aber dann: Während die Gesichtsfarbe des meist Ball führenden Spielers immer dunkler wurde, (Klammerauf Klamauf Klamauk Kalau Komma Kamau Kamü Komma Kame, Kamerun übernahm Kommando) wurde unsere Gesichtsfarbe parallel immer heller. Kamerun drehte das Spiel, 1:1 und dann gar das 2:1.
Wir wurden dann reine Rassisten und benötigten dringend Hilfe. Die kam in Form des grünen schwarzen Mannes und des weißen schwarzen Mannes. Der grüne schwarze Mann (Trikot-Haut; kommt das Buch jetzt auf den Index? Ich verweise auf „Wortspiel“) hatte die unendliche Güte, beim Stande von 2:1 für Kamerun, in erkennbarer Überheblichkeit, die absolute Monsterriesenchance zum 3:1 zu vergeben wohingegen der weiße schwarze Mann, also der Pfeifenmann, seine ebenso große Güte und die für seinen Namen verantwortliche Pfeife dazu einsetzte, einen Elfmeter für England kurz vor Schluss zu geben. Gary Lineker, ich liebe dich, 2:2, Verlängerung, Geld gerettet, sicher 10000 DM. Dort noch ein Elfer, wieder Lineker, England war weiter, noch mehr Geld gespart. Noch heute erinnert sich zumindest jeder Engländer an diesen überaus glücklichen Sieg. Und ich glaube, dass sogar Deutschland, der Halbfinalgegner des Siegers, ein paar Schweißperlen abgewischt hat. England kannte man immerhin.
Jedenfalls, da muss man einfach ehrlich sein, habe ich garantiert keine besonders guten Quoten gemacht. Das sieht man schon an diesem Beispiel. Das war reines Glück, und auf keinen Fall das des Tüchtigen. Also lehrte mich das auch schon, dass es nicht gar so erfreulich ist, Wetten anzubieten. Man macht Fehler, die Leute sind da, wetten.
Und dass Deutschland Weltmeister wurde wusste, wie es schien, ohnehin jeder. Es gibt nur noch ein paar Träumer, so wie mich, die den Titelgewinn für glücklich halten. Denn selbst wenn man sogar die beste Mannschaft gewesen sein sollte, benötigt man auch dann noch die Restprozente (für Deutschland in der Theorie 80%, denn die Titelchancen, zumindest vor dem Turnier, waren im günstigsten Fall bei 20%) an Glück, um zum Ziel zu kommen. Eine wacklige Theorie.
Auch gerade Gary Lineker selber hat das ja erkannt. „Fußball? Das Spiel geht so: 22 Mann, ein Ball und am Ende gewinnt Deutschland.“ Ob er das ausgerechnet nach dem Halbfinale gesagt hat? Zumindest liefert das Halbfinale eine Bestätigung für diese Theorie. Und da ich mich gerade so im Redefluss befinde, erzähle ich Ihnen auch diese Geschichte noch, unpassend hin oder her.
Micha und ich haben die Spiele meist im Belmont, dem Schachcafé angeschaut. An diesem Abend war aber irgendwie alles anders. Meine eigene Gefühlslage kann ich am besten so beschreiben: Deutschland sollte ausscheiden, rausfliegen, am besten demontiert werden. Und das lag nicht alleine an den Wetten gegen Deutschland (ich persönlich hatte übrigens Argentinien als Weltmeister gewettet, schon lange vorm Turnier, die Quote war 11.0). Ich wäre auch ohne Wetten gegen Deutschland gewesen. Und das liegt nicht daran, dass ich Vaterlandsverräter bin. Es liegt eher daran, dass ich auch Verfechter der Lineker Theorie bin. Die Deutschen haben ein so unverschämtes Glück, den Papst in der Tasche (wir sind sogar Papst! laut BILD). Aber das gigantische Glück alleine würde mich nicht gegen sie aufbringen. Es ist die Wahrnehmung dessen. Das bessere Wort wäre aber die „Nicht-Wahrnehmung“. Die Deutschen wissen es einfach nicht. Es ist aber ein Standardverhalten bei allen Menschen, die Glück haben: In der Zeit nehmen sie es nicht wahr. Erst, wenn’s vorüber und umschlägt. Aber darüber an anderer Stelle mehr…
Nun war ich aber Engländer mit Leib und Seele. Es war ja vor der Kündigung bei der SEL und ich hatte insgesamt vier englische Arbeitskollegen. Im Büro sprach ich fast nur Englisch. Also ich mochte sie sowieso, hat sich auch bis heute nicht geändert. Aber der finanzielle swing an diesem Tag hätte Sie persönlich wohl auch Ihre Wurzeln vergessen lassen. Das Belmont quoll über. Alles war nur Schwarz-Rot-Gold. Ein weiteres Jubelfest stand an. Ganz Deutschland im WM-Fieber. „Wir werden gewinnen, ganz klar (wie immer).“
Das war nun gar nicht mehr für mich auszuhalten. Ich verließ das Lokal. Immerhin hatte ich noch eine kleine Hoffnung: Einer meiner Kollegen wohnte in der Nähe. Ich klingelte an seiner Tür, bangend, flehend. Aber er öffnete nicht. Ich hatte mir das vorher nicht überlegt, wie unerträglich es gerade an diesem Tage sein würde, auch noch gegen England. Und alle Deutschen sind ja seit 1966, trotz aller danach erfolgten Revanchen, immer noch überzeugt, dass ihnen der Titel damals geraubt wurde. Also ich musste doch zurück ins Belmont. Die Höhle des Löwen war zu groß, sie war praktisch ein ganzes Land groß, es gab kein Entrinnen. Ein ganzes Land in Schwarz-Rot-Gold!
Dann der abgefälschte Freistoß, Brehme, 1:0, eine Explosion, das Lokal bebte. Was hatte ich nur auf dieser Welt verloren? Und dann noch an diesem Ort? Aber wir Engländer haben ja noch einen Pfeil im Köcher, wieder Lineker, ein ganz ehrliches Tor, das 1:1! Diesmal fand die Explosion allein in meinem Körper statt. Äußern konnte ich sie im Höchstfall mit einer aufgehellten Mine, auch aus Selbstschutz. Dann die Verlängerung. Es war ein so unglaubliches Spiel. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, das Spiel mit englischem Kommentar hören zu dürfen. Chancen auf beiden Seiten. Chris Waddle, die Riesenchance — Pfosten. Das kann doch nicht… Brehme senst Gascoigne von hinten um. Das muss doch Rot sein? Was tut Gascoigne? Er steht auf, ohne Lamentieren … und hilft dem noch am Boden liegenden Brehme lächelnd auf die Beine. Das nenn ich mal Fairplay! Gibt es denn eine Gerechtigkeit auf der Welt? Dass die „Guten“ gewinnen ist wohl doch eine Erfindung vom Film.
Es kommt zum Elfmeterschießen. Alle im Lokal waren mitgerissen. Ich auch, Die letzten Minuten hatte ich nur noch stehend auf einem Tisch zugebracht und das ist die reine Wahrheit, hatte nicht mal direkt etwas mit den dort oben verbesserten Sichtmöglichkeiten zu tun. Das Elfmeterschiessen auch. Es muss doch einmal … Sie werden vielleicht auch Lachen müssen, „with hindsight“, im Nachhinein, aber ich hatte sogar eine Anfrage von einem guten Freund, der wetten wollte, dass Illgner im Turnier keinen Elfmeter halten würde. Das war aber nur eher ein Scherz. Aber zumindest drückte es aus, was er von Illgner hielt. Und dann: Stuart Pierce läuft an, NEEEEEEEEEEIIIIIIIIIIIIIIN, er schießt —Illgner an! Illgner war schon auf dem Weg in die Ecke, hat aber die Füße nicht schnell genug hinterher bekommen, der Ball prallte dagegen. Er hat es einfach nicht geschafft, dem Schuss auszuweichen. Dann der letzte Elfer, Waddle, in den Nachthimmel. Die Engländer wussten wohl auch schon, dass es ein unausweichliches Schicksal war… Unvergessen auch, wie Sir Bobby Robson, Englands Trainer, direkt danach zu Beckenbauer ging, mit einem ehrlichen und freundlichen Lächeln, und gratulierte.
Ich habe mir gerade eben noch mal das Video bei YouTube angeschaut. Gascoignes „honest tears“ haben mich auch zum Weinen gebracht. Ich bitte Sie, schauen Sie es sich auch an, dann verstehen Sie. Und dann noch der Schlusskommentar des englischen Fernsehmoderators: „You think it is forever? It is now!“ Die damals noch mühsam unterdrückten Tränen habe ich einfach jetzt nachgeholt…
- Porto – Bayern
Die WM war vorüber, das Geld war gerettet, der Job wurde gekündigt. Nun kam eine Form von Alltag, welcher aber für mich auch neu und aufregend war. Ich versuchte, die Leute, die auch bei der WM gewettet hatten, bei der Stange zu halten. Das war aber praktisch unmöglich. Für diese Leute war ja auch Alltag. Da wurde nicht gewettet. Aber meine Quoten habe ich trotzdem immer gemacht und im Schachcafé und im Billardsalon angeboten. Es kam aber fast nichts zustande.
Zum Europapokal galten aber auch wieder andere Gesetze. Mir und auch meinem Computer fehlte da noch jegliche Erfahrung. So begab es sich, dass der Computer auf Porto – Bayern auch so einen Haar sträubenden Kurs wie 1.60 Sieg Port errechnete. Das ergab auf Bayern natürlich utopische Kurse. Und ich, eben in weiterhin grenzenloser Naivität, nahm reichlich an auf Bayern und auf Remis. Aber wer das spielte, spielte natürlich einen so genannten Zweier- oder Dreierweg. Bei einem anderen Wettanbieter bekam er (wie ich später erfuhr) 2.20 auf Porto, bei mir so viel auf Bayern, dass er garantiert gewann, egal wie das Spiel auch ausginge.
Ich nahm das Geld in bar an. Aber spürte irgendwie schon, dass ich einen Riesenfehler, eine gigantische Dummheit, begangen hatte. Aber angenommen ist angenommen. Es war ja zu der Zeit, als Abi mir als Startkapital die 25000 DM zum Wetten gegeben hatte. Also auszahlen konnte ich. Ich habe aber Abi über diese Dummheit sofort informiert. Er meinte, da müssten wir halt durch. Und noch wäre das Spiel ja nicht verloren. Wir bräuchten nun eben einen Sieg Porto.
Das Spiel endete 1:1, ich sah es live, objektiv war Bayern eher sogar die bessere Mannschaft, und noch mal so viel Glück wie bei Kamerun? Nee, warum auch. Ich war am Boden zerstört, hatte ca. 4000 DM Verlust.
Buchmacher ist wirklich kein so toller Beruf, vor allem nicht meiner. Aber was hat ein Kopf im Sand verloren?
- Wie kommen Betrunkene zurecht?
Ich hielt mich also damals noch für lernfähig und machte weiter. Und bot sogar immer noch Wetten an. Wie gesagt, es war nur ein Versuch, ich wollte mein Computerprogramm überprüfen, die Reaktion der Leute, Spieler, ein bisschen kennen lernen. Es war keinesfalls (und das sage ich garantiert nicht, weil ich mich als Sünder fühlen würde, wenn es anders gewesen wäre, geschweige denn aus Angst vor meinem lieben Vater, also nicht dem sondern dem anderen, unser aller lieber Vater, nein, den auch nicht, also einfach dem: Vater Staat. Dass ich ihm gar noch etwas schulden würde? Da müsste ich was zurück bekommen!) als Broterwerb gedacht. Ich entwickelte mein Programm weiter und hatte andere, größere Pläne.
Im Belmont gab es den damaligen Chef, Ulli Haumer, und der hat jede Woche so ca. für 100 DM gewettet. Ob ich nun im Laufe der Zeit plus oder minus hatte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht 200 DM plus. Und dann kam dieser Tag. Es war ebenfalls Europapokal. Ich zeigte Ulli den Wettzettel. Normalerweise hat er immer nur Einzelspiele gespielt. An diesem Abend, bei so vielen Spielen und Mannschaften, wollte er nur eine Kombiwette machen. Und Ulli war an diesem Abend wirklich betrunken. Er kreuzte nach einem mysteriösen System 7 Mannschaften an. Für 50 DM.
Am nächsten Tag war ich schon wieder im Belmont. Ulli grüßte freundlich, sein Zustand am Abend zuvor mag ihm peinlich gewesen sein, falls er sich erinnerte. Als ich ihm dann die 4600 DM auf den Tisch blätterte, wirkte er leicht irritiert und erstaunt. Er konnte den Zusammenhang zwischen sieben nach Belieben angekreuzten Spielen und 4600 DM nicht so ohne weiteres herstellen. Es war zu spät, sich unauffällig aus dem Staub zu machen (hätt ich doch sowieso nicht getan, wofür halten Sie mich?). Ich erklärte: „Ulli, die sieben Spiele waren alle richtig. Ausmultiplikation der sieben Quoten ergibt einen Faktor von 92, 92 * 50 = 4600, hier ist dein Geld.“
Ich ließ mir noch sein System erklären. Ulli war auch sofort einverstanden. Nur bei einer Mannschaft kam ich, kamen wir beide, nicht ganz hinter sein Auswahlkriterium: Er hatte Admira Wacker Wien gespielt. Ich zeigte ihm die österreichische Tabelle. Sie standen auf dem letzten Platz und mussten beim FC Luzern ran. Quote 4.75. „Ulli, wie bist du denn auf die Admira gekommen?“ „Was, wen habe ich gespielt?“. Und nach einigem Nachdenken ergänzte er: „Ach, ich hab die verwechselt mit Austria Wien.“ Die waren nämlich Tabellenführer. Admira aber hatte gewonnen, 1:0. Also, Sie verstehen jetzt, wie es geht, oder?
Was fürn Typ, der Buchmacher
sorgt für Geld und auch für Lacher.
Wenn er mal gewinnen tut
sind es zwanzig, Hundert, gut.
Der Verlust kann höher sein
dafür sorgt die Quote, nein:
auch die Kombiwetten eben
sind zum Ankreuzen — und leben.
Multiplikation wird’s richten
einer muss auf Geld verzichten.
Der andere sackt es ein und dankt
so er freundlich, und verlangt
schon die nächste Quotenliste
woraufhin man sagt: „Ja biste
denn verrückt, mein Geld ist alle
Ich sitz ziemlich in der Falle.
Wiederholn wär schön, so gerne
würde ich auch mal… ich lerne
Ich hab doch ganz andre Pläne
wo gehobelt wird falln Späne
so viel ist schon klar, jedoch
ich hab kaum die Kohle noch
wieder auszuzahln wenn du
auch noch weiter triffst, sieh zu
das du einen andern quälst.
Mir genügt es jetzt, du zählst
durch, die Kohle, alles klar?“
„Gut, gut alles wunderbar.
Ich versteh schon, hab das Geld,
alles auch schon durchgezählt.
Ich hätt nicht gewusst wie viel
ich gewonnen hab im Spiel.“
- Der lange Lutz
Also mit Geld verdienen hatte das alles wenig zu tun. Eher mit „Großausschüttung“. Dazu hat auch der lange Lutz seinen Beitrag geleistet. Der lange Lutz erbat sich sporadisch meinen Wettzettel. Er war ein einigermaßen bekannter Spieler. Ich hatte ihn mal in einem denkwürdigen Halbfinalspiel des Superjackpots von Berlin 1988 im Backgammon besiegt, swing damals ca. 15000 DM. Er hatte wohl Rachegelüste?
Seine Art der Rache sah so aus: 110 DM Einsatz. Auf einen Bundesligaspieltag. Er hat sich auch sieben Spiele herausgepickt. Systemwetten kannte er wohl nicht. Denn er hat die Spiele in allen Variationen zu je 10 DM kombiniert. Eine Kombi mit diesen fünf, einen mit diesen sechs und so weiter. Viele hohe Quoten dabei. Ein Spiel davon war Hertha – HSV, die 2, also HSV Sieg. Dieses Spiel war in fast allen Kombis dabei.
Er wollte mir später noch seine Empfindungen beschreiben, als er auf die Ergebnisse schaute, Samstag um 17:15. Ich war dafür aber weniger empfänglich. Ich kannte nur meine eigenen. Die waren irgendwie (diametral) ent(gegenge)setzt. Er hatte natürlich alle richtig. Kuriosum nur: Das Spiel Hertha – HSV war ausgefallen. Der Spieltag fand statt am 20.4.1991 (ich weiß das dank internet), das Spiel Hertha – HSV wurde erst am folgenden Freitag, am 26.4. ausgetragen.
So hatte ich eine ganze weitere Woche Zeit, über den Sinn des Lebens im Allgemeinen sowie ganz speziell meiner eigenen Existenz nachzudenken. Dass ich tatsächlich mit ihm gemeinsam ins Stadion ging, war purer Masochismus. Die Geschichte ist schnell erzählt: Hertha war quasi abgestiegen (Spieltag 27), HSV hatte Thomas Doll in seinen Reihen. Zur Halbzeit habe ich meine Qualen selbständig beendet. Beim Stande von 0:2 fuhr ich nach Hause. Ich hatte allerdings auch eine Mission. Ich musste den Scheck ausfüllen und unterzeichnen. Der lange Lutz kam nach dem Spiel vorbei, ich habe nicht nach dem Endergebnis gefragt (1:4). Der Betrag, fragen Sie? Schlappe 9200 DM. Die nimmt man doch gerne mal mit, oder?
Die einzige Wette, die er später noch bei mir platzieren wollte, war die folgende: Es war mal wieder Europapokal Spieltag. Ich hatte alle Spiele ausgedruckt, mit Quoten und Anstoßzeiten. Der lange Lutz rief so kurz vor 16 Uhr nachmittags an und wollte Trabzonspor auf Sieg wetten. Anstoßzeit: 16 Uhr, laut Wettzettel. Nur hatte ich mich dabei vertan. Trabzonspor hatte bereits 1:0 gewonnen. Lutz wusste natürlich von nichts, klar, ich hatte da einen Wissensvorsprung. Trabzonspor war seine Lieblingsmannschaft…
Wie sagte Otto doch mal so schön? „Mit einem Messer im Rücken gehe ich noch lange nicht nach Hause.“ Ich hatte allerdings jetzt mindestens zwei…
- Wonnemonat Juni
Kapituliert habe ich noch immer nicht. Zumal ich ja bei meinen eigenen Wetten einigermaßen erfolgreich war.
Micha war wieder mein Partner geworden. Ab Mitte 1991. Wir haben uns die ganze Saison 91/92 abgequält. Glück gab es nicht (oder war ich nur unfähig, das wahrzunehmen?). Aber wir hielten uns. Dann kam die Endphase der Saison. Die EM stand an. Fast alle Ligen waren beendet. Vor großen Turnieren gibt es immer eine längere spielfreie Zeit. Aber Italien spielte noch! Allerdings nicht die Serie A. Nur noch die Serie B.
Und wir kannten ja Luigi. Sie haben sich ja bereits daran gewöhnt, nehm ich an, dass in Berliner Spielerkreisen alle eine Art Spitznamen bekommen? Also Luigi hieß „Luigi schöner Mann“. Luigi war, ach, Sie wissen schon? Er kannte also ein paar Italiener (mindestens zwei davon klein, falls Ihnen die Kalauerhäufigkeit zu gering sein sollte). Es gab gar ein ganzes Lokal voll damit. Luigi wollte ihnen also auch mal unsere Wettzettel zeigen. Leider gab es keine Spiele.
Nun gut, ich habe schnell die Serie B erfasst im Computer und mutig einen Wettzettel herausgegeben. Und die Italiener waren wirklich spielfreudig. Sie haben alle gespielt, und zwar reichlich. Nur: Was stellten wir bei Ansicht der eingegangenen Wetten fest? Es hatten alle die gleichen Spiele kombiniert. In zahlreichen, unterschiedlichen Varianten. Einer erklärte mir später: „Ich wollte bei Monza die 1 spielen, aber dann hab ich gesehen, dass alle X hatten, da hab ich auch X gespielt.“
Ich war am Sonntag Nachmittag unterwegs. Neugier und Unruhe veranlassten mich, Luigi angerufen. Seinen Ausruf werde ich auch schwerlich vergessen können: „Habe alle gewonne.“
Wir nahmen die erforderliche Barschaft zusammen und es ging ans Auszahlen. Wie viele Messer braucht man im Rücken? Ich habe zum nächsten Wochenende wieder einen Wettzettel gemacht. Es gab noch einen Spieltag. Pasquale, der Vorkämpfer, sagte noch scherzhaft zu mir: „Moment, muss erst in Italien anrufen, wie die Spiele ausgehen.“ jedenfalls das gleiche Szenario: Alle Spiele kombiniert, alle die gleichen Ausgänge, in allen Variationen.
Allmählich beschlich uns das Gefühl, das Pasquale nicht gescherzt hatte. Wir sahen uns einer weiteren größeren Auszahlung ausgesetzt. Wir versuchten, die Wetten zu versichern. Wir hatten ja selber Wettkonten. Und was mussten wir feststellen? Niemand nahm auf diese Spiele Geld an. Es standen Quoten da, aber man konnte nicht spielen. Oder für absurde, längst veränderte Quoten.
Wir riefen noch meinen lieben Freund Martin Schönegger, den alten Hasen, den schlauen Fuchs vom Vierklee Wettbüro in Innsbruck an. Er fand folgende, trostreiche, Worte: „Der Juni ist ein wunderschöner Monat. Man kann so viele schöne Dinge machen: Radfahren, Schwimmen gehen, Golfen. Nur eines sollte man nicht tun: Auf italienische Spiele Quoten anbieten.
Nun, der sonntägliche Anruf beim schönen Mann mit der absolut scheußlichen Stimme, wenn man den Wortlaut bedenkt, ergab das erwartete Ergebnis: „Habe alle gewonne.“ Wir haben aber wirklich gut gespart. Pasquale hatte wohl einen Hörfehler. Denn Pisa hatte nicht gewonnen („ich habe gesagt Pisa X, Pasquale, Pisa X, nicht Sieg“; ist ja fast wie bei „Der Clou“).
So hat uns dieser Juni jede Menge nützliche Erfahrung eingebracht. Sicher, alles hat seinen Preis, und das war wirklich eine wertvolle Erfahrung. Finden Sie etwa, dass 60000 DM dafür zu viel sind?
- Geschenke für Patrioten
Jetzt stand also die EM an. Es musste gewonnen werden, das Geld wurde knapp. Wir machten also unsere obligatorischen Wettzettel. Diesmal auf seriöse Spiele. Es war unheimlich anstrengend. Die Leute trafen immer wieder, vor allem Pasquale. Auch sonst war die EM alles andere als erfolgreich. Wie hielten uns gerade so.
Lustig war nur die eine kleine Episode: Deutschland musste in der Vorrunde gegen Holland ran. Und Deutschland ist irgendwie bei allen Leuten immer Favorit. Nur, weil wir in Deutschland sind? Oder gilt Linekers Gesetz weltweit? Jedenfalls haben Micha und ich einen phantastischen Zettel mit Sonderwetten herausgegeben. Die Überschrift dieses Zettels: „Geschenke für Patrioten“. Das waren also keine Wettangebote für deutsche Fans, sondern alles eben Geschenke. Und die für den echten Patrioten. Die Angebote sahen in etwa so aus:
Wettangebot Quote
Marco van Basten erzielt kein Tor: 1.60
Jürgen Kohler erzielt ein Tor: 6.00
Mindestens ein holländischer Spieler
wird vom Platz gestellt: 2.50
Mindestens ein deutscher Spieler
wird vom Platz gestellt: Nein
Es gab also einiges zum Lachen. Wetten gingen darauf allerdings nicht ein. Es war nur der Spaß. Dennoch waren wir Holländer in dem Spiel mit Leib und Seele. Und Holland gewann das Spiel einfach, 3:1. Deutschland, mit dem üblichen Glück, kam aber dennoch weiter. Weil das Parallelspiel Schottland – Russland den für Deutschland gewünschten Ausgang nahm. Russland hieß auch in dem Jahr GUS, hatte vor dem Spiel 2 Punkte und benötigte einen Sieg gegen Schottland. Schottland gewann das Spiel aber mit 3:0.
- Der arme Ronny
Das deutsche Glück fand aber ein jähes Ende. Und das war im Finale. Deutschland traf auf Dänemark. Dänemark war der Ersatz für Jugoslawien, das kurzfristig nicht teilnehmen durfte. Die Legende will es, dass die Dänen gesammelt bei MacDonalds saßen, im Urlaub, von ihrer plötzlichen Teilnahem dort erfuhren und von da direkt in die Umkleidekabine mussten zum ersten Spiel.
Da war es natürlich leicht, bis ins Halbfinale zu kommen und dort auch noch Holland zu eliminieren. Wir als richtige Anfänger, Dummköpfe und Amateure hielten die Zeit für gekommen, diesmal Deutschland zu wetten.
Der arme Ronny, das war derjenige, der aus der ehemaligen DDR eine Art von Lizenz erhalten hatte. Und Ronny habe ich auch so kennen gelernt. Es gibt ein Wettbüro in Ostberlin. Ich bin dann mit dem Fahrrad dorthin gefahren. Er hatte mir die Adresse telefonisch gegeben. Und ich hatte Ihnen ja noch versprochen, Ihnen den von mir geplanten Namen für ein Wettbüro, so ich eines eröffne, vorzustellen. Meine Idee war, es entweder Tip-Top oder alternativ Top-Tip zu nennen. Sie dürfen auch mit abstimmen. Allerdings wurde die Auswahl reduziert, als ich Ronny besuchte: Der Name „Tip-Top“ war vergeben…
Ich hatte mich dann sogar eine Weile lang bemüht, mit Ronny etwas gemeinsam zu machen. Aber er wollte lieber alleine machen, also habe ich bei ihm gewettet. Und Ronny war wirklich der geborene Pechvogel. Gewettet habe ich natürlich immer nur, wenn sich nach meinen Berechnungen ein Vorteil ergab. Also hätte ich nach meiner Vorstellung auch gewinnen müssen. Aber trotzdem erlaube ich mir das Urteil: Er hatte Pech, richtig Pech, man nennt es in der Zockersprache auch „Seuche“. Er musste immer nur zahlen.
Für das EM-Finale ergab sich folgendes: Ich war im Café Belmont, wie üblich. Dort war auch ein recht bekannter Spieler, Detlef Walden. Deutschland war natürlich allseits klarer Favorit. Wie hoch die Favoritenstellung allerdings war, ist ja sowieso Spekulation und nicht fest bestimmbar. Es gibt eine Markteinschätzung, jeder hat seine eigene und ganz eventuell und theoretisch gibt es eine Wahrheit. Deltlef Walden hatte nun vielleicht einige Eigenschaften, die einer überragend erfolgreichen Spielerkarriere im Wege standen. Aber Patriotismus gehörte nicht dazu. Er war Dänemark Fan geworden. Und als er meine Einschätzung von dem Spiel Deutschland – Dänemark sah und hörte, war er sofort bereit, Dänemark zu wetten. Ich hatte ca. eine 4.0 auf „Dänemark holt den EM-Titel“ vorm Finale als Quote zu zahlen gedacht.
Nun habe ich mir den Spaß erlaubt, den Spieß umzudrehen und Detlef zum Buchmacher aufzuwerten. Wetten halten und Wetten abschließen ist ja ohnehin das Selbe. Wenn er bei mir wettet, dass Dänemark Europameister wird, dann wette ich bei ihm, Deutschland wird Europameister. In zwei Punkten unterscheidet sich das Gebaren Wetter zu Buchmacher aber, zumindest in der Theorie: 1. Der Wetter kann (oft) die Betragshöhe (allein) steuern und 2. Der Wetter muss das Geld einlegen und bekommt im Gewinnfalle ausgezahlt.
Nun, ich sah ja Detlefs prall gefüllte Börse, außerdem schauten wir das Spiel gemeinsam an, also habe ich bei ihm eingelegt: „Detlef, heute bist du der Buchmacher.“ Ich habe 9000 DM bei ihm eingelegt. Er hätte auszahlen müssen 12000 DM für den Fall, dass Deutschland Europameister wird. Das war ja exakt analog dazu, als wenn er bei mir 3000 DM eingelegt hätte (also bar überreicht) und ich ihm 12000 DM hätte auszahlen müssen. Die Division 12000/3000 ergibt die Quote 4.0.
Nun, wir wissen es alle noch, es war das Jahr des dänischen Sommermärchens, Dänemark holte den Titel mit einem 2:0 Sieg. Deutschland hatte nie eine echte Chance. Und im Belmont war ich bekannt, Detlef behielt die 9000 DM, sein Kommentar dazu: „Kann do ma kommm, kann do ma kommm, oder?“ Aber bekanntlich: Wer den Schaden hat…
Ausbaden musste das ganze mal wieder der liebe, arme Ronny. Er hatte nämlich eine 5.0 auf Dänemark bezahlt. Wir hatten bei Ronny 2000 DM auf Dänemark gesetzt, bekamen also 10000 DM ausgezahlt. Bei genauerem Hinsehen stellt man allerdings fest, dass ich, außer dem Spott, auch noch ein Minus von 1000 DM „geerntet“ hatte. Dazu hatte ich mich an anderer Stelle auch noch für Deutschland entschieden. Das Glück der Deutschen fand also das jähe Ende, just als ich sie selber gewettet hatte. Gibt es da einen Zusammenhang?
- Der Meister der Geister(spiele): Michael Friedrich
Es gab einen zweiten Buchmacher, der sozusagen „illegal“ Wetten angeboten hatte zu der Zeit. Ein sehr begabter Junge, der Michael Friedrich. Vor allem hatte er eine Neuentdeckung gemacht, oder wie auch immer er darauf gekommen war: Die Geisterspiele.
Nun, ein jeder, der sich ein wenig mit Fußball beschäftigt, hat sicher eine gewisse Vorstellung davon, was ein „Geisterspiel“ ist: Ein Spiel vor leeren Rängen. Die Heimmannschaft darf nach Ausschreitungen für ein oder mehr Spiele keine Zuschauer einlassen.
Michael Friedrich hatte aber eine neue Version von Geisterspielen gefunden. Diese Spiele fanden nämlich gar nicht statt. Zumindest konnte man einigermaßen gesichert davon ausgehen, dass die Mannschaften nichts von der Austragung ihres Spieles wussten. Dazu gebe ich Ihnen am besten gleich mal ein Beispiel, was wir als erstes von Michael Friedrich angeboten bekamen: Es spielte Bayern München zu Hause gegen Stuttgarter Kickers. Und der 1.FC Köln spielte in Leverkusen. Nun war das Geisterspiel die Paarung Bayern – Köln. Sicher, alles ist eine Frage des Preises. Ich würde in diesem „Geisterspiel“ auch Köln nehmen, falls ich die entsprechende Quote bekommen hätte. Michael Friedrich aber war bereit, eine 1.60 zu bezahlen, das aber auf Bayern! Der Computer erachtete das als viel, viel zu hoch. Man musste einfach Bayern spielen.
Wie er es errechnet hat, dazu später noch etwas mehr, was ich mir da zurecht gelegt habe. Jedenfalls fanden wir den Kurs leicht überhöht. Und das ist schwer untertrieben. Wir fragten Michael, was er bereit wäre, darauf anzunehmen und kamen auf 3000 DM. Immerhin.
Es war der 12.Spieltag der Saison 1991/92 am 4.10.1991. Zu dieser Zeit konnte man gerade erstmals die Spiele bei „premiere“ verfolgen. Allerdings gab es nur ein ausgewähltes Spiel (keines dieser beiden) und während des Spiels wurden Tore immer unten in der Laufleiste eingeblendet. Wir brauchten natürlich Tore für Bayern, zumindest mehr als Köln.
Als es zur Halbzeit bei Bayern 0:2 stand und bei Köln 0:0, waren wir noch nicht mal all zu besorgt. Bayern hätte ja nun Ambitionen, ein 0:2 gegen Stuttgarter Kickers aufzuholen. Das war doch in der Geschichte der Bundesliga schon mal vorgekommen? Und tatsächlich, Bayern gelang die Sensation: Ein Tor im Heimspiel gegen Stuttgarter Kickers! Wir führten 1:0, denn in Leverkusen stand es noch immer 0:0. Damit hatten die Bayern allerdings ihr Pulver verschossen, Endergebnis 1:4. Michael Friedrich hatte aber weiter gerechnet: Als alle Spiele bereits beendet waren, gelang Köln endlich der Ausgleich.
Ich rannte sofort aus dem Zimmer, in dem ich alles angeschaut hatte. Allerdings kam ich recht schnell wieder von dem Gedanken ab, mich von dem sich im 11. Stockwerk befindlichen Balkon hinabzu…
Das war aber nur der Anfang. Am nächsten Spieltag hatte Micha eine neue Gemeinheit ausgeheckt: Diesmal durften wir Eintracht Frankfurt nehmen, im Geisterspiel gegen Karlsruhe. Nun, Eintracht Frankfurt hatte die beste Saison ihrer Vereinsgeschichte und war bis zum letzten Spieltag designierter Meister, bis sie dann bei den dennoch abgestiegenen Rostockern verloren und zunächst Dortmund und in der 81. Minute auch noch Stuttgart vorbeiziehen lassen mussten (wer erinnert sich nicht? Buchwalds Kopfball in der 81. Minute in Leverkusen). Frankfurt hatte in der Saison auch 76 Tore insgesamt erzielt in 38 Spielen, also 2 im Schnitt pro Spiel. An diesem Tage scheiterten sie am unüberwindlichen Bollwerk der Mönchengladbacher Abwehr. 0:0. Da spielte es auch keine all zu große Rolle mehr, dass Karlsruhe 3 Tore in Bochum erzielte. Sicherheitshalber hatte ich den Spieltag im Erdgeschoss geschaut…
Am 14.Spieltag gab es das Geisterspiel Werder Bremen – Eintracht Frankfurt. Michael Friedrich hatte sein eigenes System zur Quotenberechnung. Jedenfalls war es immer sofort klar, welche Seite wir nehmen mussten. Und er war Sadist. Denn diesmal zwang er uns, Werder Bremen zu nehmen. Werder Bremen musste bereits am Freitag Abend ran, im Heimspiel gegen den VfL Bochum. Die Frankfurter, die uns ja nicht das ganz große Glück beschert hatten, spielten in Wattenscheid.
Und Werder machte wirklich ein tolles Spiel, gewann mit 3:0. Na endlich haben unsere auch mal getroffen! Laut Computer waren wir natürlich schon vor dem Spiel klarer Favorit, aber mit 3 Toren Vorsprung? Das war natürlich noch besser als vorher.
Frankfurt hatte allerdings seine Lethargie der Vorwoche abgelegt und fertigte Wattenscheid mit 4:2 ab… „Our money went begging“… Unser Geld ist betteln gegangen, es war weg. Michael Friedrich wurde auch immer mutiger und nahm jetzt auch höhere Beträge an.
So quälte uns der Meister der Geisterspiele Woche für Woche. Und er gewann immer weiter.
Als einmal dann Kaiserslautern zu Hause gegen Leverkusen spielte und Stuttgart in Nürnberg und er das Geisterspiel ersonnen hatte Kaiserslautern gegen Stuttgart, mussten wir gezwungermaßen Stuttgart nehmen. Ich setzte mich ins Belmont an diesem Tage, um die Ergebnisse per dort ausgestrahltem Videotext zu verfolgen. Ich bestellte mir eine Tasse Kaffee, so gegen 15:28, bekam sie so ca. um 15:30, beantwortete noch die Fragen der anderen Fußball interessierten im Lokal, was ich bräuchte und was nicht, meine Antwort: „Keine Tor für Kaiserslautern.“, rührte meinen Kaffee um und blickte zweimal auf den Videotext. Alle Spiele 0:0 nur Kaiserslautern, beim ersten Blick 1:0 , beim zweiten 2:0.
Der Kaffee war noch zu heiß zum Trinken. Ich rannte stattdessen aus dem Lokal mit dem Kopf direkt gegen den ersten Laternenmast. Das hat mein Gehirn wohl noch mehr durcheinander gebracht. Denn ich begann zu phantasieren und mir zwei Theorien zurechtzulegen: Die einfachere der beiden? Michael Friedrich saß dort hinten, hinter dem Fernseher in einem kleinen Kämmerlein, und tippte die Ergebnisse ein. Die zweite war die: Er ist Biff Tannen.
In „Zurück in die Zukunft II“ gelingt es diesem Biff Tannen, die Zeitmaschine zu stehlen. Er reist mit einem Sportalmanach, den er im Jahre 2015 gefunden hat, zurück in das Jahr 1955, wo er diesen sich selbst als Jugendlichen übergibt. Das erzeugt den „parallelen Zeitstrahl“. Denn der Biff Tannen aus dem Jahre 1955 kennt nun alle Sportergebnisse der Zukunft und baut sich mit erfolgreichen Wetten ein Imperium auf, quasi ein Weltimperium. (Michael J. Fox und der Doc müssen zur Rettung der Welt anschließend die Übergabe oder den Diebstahl des Sportalmanachs verhindern, um den „parallelen Zeitstrahl“ zu kappen.)
Eine der beiden Theorien musste einfach stimmen. Eine andere Erklärung fand ich nicht. Aber wissen Sie was? Ausgerechnet dieses Spiel haben wir noch gewonnen! Stuttgart verlor zwar in Nürnberg, aber mit 3:4, und Kaiserslautern gelang kein einziger Treffer mehr…
Das war sicher aber nur eine Falle von Biff Tannen, denn hat er es etwa nötig, jedes Spiel zu gewinnen? Er muss ja seine Kundschaft bei Laune halten. Also er gewann trotzdem weiter. In der gesamten Saison etwa 60000 DM.
Vielleicht muss ich noch etwas genauer erläutern, warum ich noch immer nicht pleite war: Ich hatte sozusagen drei Geschäfte, die allesamt parallel zueinander verliefen. Das erste und ursprüngliche Geschäft war das Geschäft mit Abi Rosenthal. Abi hatte mir 25000 DM zur Verfügung gestellt. Mit diesem Geld sollte ich wetten, weil er, auch mithilfe meiner Zahlen, die ich ihm präsentieren konnte, die Überzeugung gewann (wir waren es also beide, aber er hatte Geld), dass ich langfristig gewinnen würde.
In der Anfangszeit war er gar bei den von mir angebotenen Wetten, die eben eine Form der Überprüfbarkeit meiner Zahlen und allgemeinen Wetterverhaltens darstellen sollten, dabei. Bei den angebotenen Wetten war ich ausgesprochen wenig erfolgreich, wie ein paar Geschichten weiter oben belegen. Teilweise war es Pech, teilweise Dummheit.
Aber bei den eigenen Wetten war ich erfolgreich. Mit diesem Geschäft konnte ich mich bestens über Wasser halten. Es lief einfach gut. Damit allerdings hatte Michael Greiner, mein Partner parallel zu Abi, aber nichts zu tun. Abi bekam immer von mir eine Liste der Wetten vor dem Wochenende und eine Liste mit den Ergebnissen nach dem Wochenende. Ob er diese je studiert hat, weiß ich nicht. Jedenfalls gerieten diese Geschäfte durcheinander und Abi wollte dann nicht mehr dabei sein. Wie erfolgreich allerdings meine Zeit mit ihm zusammen und den dabei abgeschlossenen Wetten war, erkennt man daran, dass ich ihm, als er ausstieg, 120000 DM auszahlte. Er hatte also die 25000 DM gut aufgeholt und einen Gewinn von fast 100000 DM davongetragen. Offensichtlich hatte ich selber ebenso viel verdient, da wir je 50% hatten.
Die anderen beiden Geschäfte waren die, dass ich angefangen habe (und bald ausschließlich, da Micha Greiner ja auch mitgearbeitet hat), mit Michael Greiner gemeinsam Wetten abzuschließen sowie auch mit ihm Wetten angeboten habe. Das Wetten anbieten war praktisch durchgehend ein Zusatzgeschäft. Das war, genau wie oben erwähnt, teilweise Dummheit und teilweise Pech oder was auch immer.
Im Sommer, nach der EM, war ich wieder in Monte Carlo zur Backgammonweltmeisterschaft. Michael Friedrich war auch dort. Ich konnte den Meister der Geisterspiele das erste Mal persönlich treffen. Ich ließ mir nichts anmerken von den Schmerzen, die er mir verursacht hatte. Man konnte ihm aber ansehen, dass er im Geld schwamm. Nun, mittlerweile war ich ja Routinier in Sachen auction-dinner und wir hatten einen gemeinsamen Tisch. So konnte ich mich tatsächlich mit einem Genie persönlich unterhalten.
Und ich werde es garantiert niemals vergessen, wie er mir seine Sicht der Dinge schilderte: Er wolle ehrlich sein. Er habe in der Saison insgesamt 80% seines Umsatzes gewonnen (damit erreicht er fast die legendären Werte des Biff Tannen). Er wisse natürlich, dass das zu viel gewesen wäre (die Wahrheit, dass er die Ergebnisse kannte, wollte er also nicht sagen; logisch, das Geschäft muss ja weiter gehen). Aber er hätte 20% Gewinn verdient.
Nun, 20% sind eine recht stattliche Zahl. Ich wäre froh, hätte ich in meinem Leben 5% verdient. Aber noch wesentlich kurioser ist: Warum hält man einen „Fehler“ in der Statistik von 60% für möglich? Denn: wenn man diesen für möglich hält, dann müsste man ja eigentlich so gut wie alles für möglich halten. Also solche Abweichungen Realität-Prognostik kann es auf eine so lange Sicht einfach nicht geben (zum besseren Verständnis: die 80% hat er nicht ausschließlich bei mir gewonnen; er hatte sicher andere, noch besserer „Kunden“).
Weiteres kleines Kuriosum: Die nächste Saison war möglicherweise gelöscht in seinem Almanach. Jedenfalls kamen die Ergebnisse einfach nicht mehr so, wie er sie prognostiziert hatte. Wir gewannen ca. 30000 DM zurück. Als wir allerdings dann tatsächlich drohten, in die Gewinnzone zu geraten, hat er plötzlich die Zahlungen eingestellt.
Viel, viel später, im Jahre 2002 in Monte Carlo, zahlte er mir ein Drittel der noch geschuldeten 7000 DM zurück. Er meinte, er könne mir gerne die Nummern der beiden anderen Partner geben, die mir die anderen beiden Drittel schulden würden. Ich verzichtete dankend. Das wäre auch eine Neuerung in der Spielerszene. Man schuldet das Geld nun mal dem, dem man es schuldet. Und diesem hat man es auch auszuzahlen.
Mein Wettbüro habe ich geschlossen. Es gab nur ein ganz kurzes comeback. Das war mal wieder zur WM, zu der 1994. Wir hatten inzwischen Jessi kennen gelernt. Jessi hatte in Österreich ein Wettbüro. Und er glaubte an uns und an unsere Zahlen. Zur WM wollte er diese unbedingt haben. Als Gegenleistung bot er uns an, von allen Wetten, die bei ihm eingingen, 50% zu halten. Wir waren einverstanden. Folge: Das Faxgerät stand nicht mehr still. Es gingen meterweise, nein, zentnerweise Wetten ein. Einzige Problem: Die mussten alle abgerechnet werden. Aber, so viel darf ich sagen, Herr Steinbrück: Wir haben gewonnen damals. Und zwar nicht gar so wenig. Die Weltmeisterschaft lief aber sowieso gut, auch bei eigenen Wetten. Die Weltmeisterschaften waren für mich allesamt erfolgreich.