1) Ein bisschen Vorgeschichte
Was in Italien für Juventus Turin steht, steht in Deutschland für Hertha BSC. Die alte Dame, Hertha mit Namen. Natürlich hat man als Berliner von klein auf eine besondere Beziehung zu diesem Verein. Sicher war es ausgeschlossen, sich als Kind der Euphorie des Wideraufstiegs in Jahre 1968 zu verschließen. Selbstverständlich hat man im ersten Jahr danach mitgefiebert, so oft es ging im Stadion – da selbst fußballerisch im Einsatz nicht immer möglich – und logisch hat man mitgefeiert, als der Klassenerhalt gesichert war.
Die Hertha hatte in jenem Jahr einen Zuschauerschnitt von über 40.000, was nicht nur einmalig, überragend und lange Zeit unübertroffen war, sondern was zugleich unterstrich, wie groß die Sehnsucht in der (damals schon gefühlten) Hauptstadt nach Erstligafußball war. Wie groß musste die Enttäuschung sein – die einen selbst als Kind von 12 Jahren befiel – als nicht nur nach und nach der Hertha-Platz am Gesundbrunnen verkauft werden musste in jenen Jahren, aus der Erinnerung für 11 Millionen DM, sondern zusätzlich der Verein beinahe pleite war, trotz des hohen Zuschauerschnitts und trotz der Extramillionen, sondern dass er zusätzlich in den unsäglichen Bundesligaskandal verwickelt wurde, im Jahre 1971, als man in der gesamten Saison nur zwei Heimspiele Unentschieden gespielt hatte und keines verloren, den 3. Platz sicher in der Tasche hatte, aber am letzten Spieltag gegen die auf einem Abstiegsrang liegende Arminia aus Bielefeld das Spiel mit 0:1 verlor. Das konnte man als Kind einfach nicht fassen, das war unter regulären Umständen nicht möglich, diese Enttäuschung gepaart mit der bald zur Tatsache werdenden Gewissheit, dass da am Ergebnis etwas gedreht wurde, dass hier einfach nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein konnte, so sehr man dennoch für einen Tag versuchte, den in der Sportschau gesichteten Lattenschuss für die Hertha von Zoltan Varga so zu interpretieren, dass er ja nicht hat ausschließen können, dass der Ball reinginge und was wäre dann nur passiert?
Genau so, wie man sich das schön zu reden versuchte wuchs die Überzeugung, dass nach einem erfolgten 1:0 nun eben zwei Tore hätten kassiert werden müssen und das man dies, genau so wie das eine, locker hinbiegen könnte, wenn denn der Wille dafür vorläge. Nicht etwa, dass man nicht schon zuvor die Flöhe husten hörte oder die Nachtigall trapsen, nein, Bielefeld hatte ja zuvor schon einen Sieg auf Schalke erzielt, als man, nach wie vor in merkwürdiger, auf Wohlwollen basierender Ahnungslosigkeit der Kommentierenden, nicht fassen konnte, wie die Schalker Spieler beim Gegentor zum 0:1 nicht nur wirklich freundlich Spalier standen, sondern zugleich das Lachen in den Gesichtern kaum unterdrücken konnten. Nein, es stank etwas gewaltig zum Himmel im Staate … Nur hätte man es eben von der bis dahin geliebten Hertha niemals für möglich gehalten, das konnte einfach nicht sein, das war in etwa so, als ob der Mörder im Tatort am Ende der Kommissar gewesen wäre.
Nun ja, die Hertha war pleite und hatte betrogen. Wie sollte man nun die Liebe aufrecht erhalten? Zumal man einen gehörigen Haufen Misswirtschaft der Verantwortlichen einfach unterstellen musste. Die Hertha dümpelte für Jahre im Niemandsland der Tabelle herum, die Sünder waren alle ausgeschlossen, haben ihr Verhalten sicher bitter bereut, aber dennoch konnten sie es nicht ungeschehen machen. So fand ein Bundesligaspiel im Dezember gegen Duisburg irgendwann in den 70ern vor weniger als 4.000 Zuschauern statt. Das ließ die Lage um die Hertha am besten erkennen, das war das Dokument für den verspielten Kredit, nicht nur des Autoren.
2) Begleiterscheinungen des Wettens…
Die kleine Vorgeschichte – die sich natürlich beliebig erweitern ließe – soll nur die längst nicht ausgemachte Anhängerschaft des hier Notierenden erklären. Das Verhältnis war zumindest immer gespalten, selbst wenn man in den 80ern für eine ganze Zeit lang wieder einmal unablässig ins Stadion ging, dort auch die Zweitligazeiten erlebte, und sogar den missglückten Versuch, von der dritten Liga in die 2. zurückzukehren, an ebenjenem Abend im Jahre 1987, als die Bayern gegen den FC Porto den Europapokal der Landesmeister verloren, und die Hertha zu Hause dem FC Remscheid unterlag und so zu einem weiteren Jahr Drittklassigkeit verdonnert wurde.
Nun ja, mit Historie sollte es ja nun vorbei sein. Die Objektivität hat eh längst zwangsläufig Einzug gehalten, zu welcher man verpflichtet ist, sofern man sein Geld mit Sportwetten verdienen möchte. Hier zählt keine Anhängerschaft, nein, im Gegenteil, hier muss man seine Zuneigung bereit sein, für 10 Euro zu verhökern, geschweige denn, dass höhere Beträge zum Einsatz kommen. Noch einfacher ausgedrückt: man ist für denjenigen, der einem die Kohle bringt und oftmals ist es der, den kein Anderer haben möchte, und dadurch die Quoten überhöht sind. Mal kann es Hertha sein, mal kann es der Gegner sein, das spielt keine Rolle oder es ist tagesaktuell anzupassen, manchmal auch für ganze Monate oder gar Spielzeiten, nur um in der folgenden Saison komplett dagegen zu sein. So ist das Spielerleben, an das sollte man sich möglichst bald gewöhnen: keine ausgemachten Anhängerschaften, beziehungsweise muss man sehr schnell bereit sein, die Partei zu wechseln. Das kann sogar während eines Spiels erforderlich sein.
3) Die aktuelle Lage
Es sollte ja nun ganz konkret um die Situation der Hertha in den Relegationsspielen gegen Düsseldorf gehen. Das Hinspiel haben sie gut gespielt, aber mit 1:2 verloren. Sie hätten längst schon das 2:0 erzielen können, das Pech stand im Weg, Düsseldorf spielte erst ab dem 1:1 halbwegs ordentlich mit, was verständlich ist, da sie plötzlich das Selbstvertrauen hatten, was Hertha verloren gegangen war durch den Schock des Ausgleichs, der sich wirklich nicht angekündigt hatte.
Im Rückspiel waren sie auch die klar bessere Mannschaft in der 1. Halbzeit, trotz des frühen Gegentores. Da waren etliche Situationen, wo einfach das Quäntchen Glück fehlte, um zum Torerfolg zu kommen. Nach dem Platzverweis, der sicher von Hertha als überhart und ungerecht empfunden wurde – abgesehen von einer Vielzahl von Entscheidungen, die zuvor schon meist gegen sie ausgingen, selbst wenn in der Regel unbedeutende – gelang es nicht mehr wirklich, ein ordentliches Spiel aufzubauen. Das 2:1 gelang Düsseldorf in einer Phase, als Hertha nur noch verzweifelt nach vorne rannte. Die lange Unterbrechung von 5 Minuten nach dem 2:1 mag tatsächlich teilweise von Hertha Fans ausgelöst worden sein, die einen Spielabbruch provozieren wollten, aber Düsseldorfer waren garantiert auch dabei.
Hertha schaffte eher zufällig das 2:2. Eine erneute Unterbrechung von 3 Minuten war die Folge. Rein rechnerisch hätten nun also – die BILD belegt diese Unterbrechungszeiten – 8 Minuten Minimum nachgespielt werden müssen, plus die normalen zwei, die es eigentlich, für Tore und Auswechslungen minimal hinzu geben müsste (im Ausland sind es meist 3 oder 4, nur in Deutschland gibt es weniger). 10 Minuten Nachspielzeit wäre das mindeste, was Hertha nun zu erwarten hätte. Da das Tor in Minute 85 fiel, war also noch eine Viertelstunde zu spielen. Da ist ein weiteres Tor in einem normalen Spiel durchaus realistisch, selbst wenn in Unterzahl. Man muss dazu berücksichtigen, dass Düsseldorf weiche Knie bekommen könnte. Sie waren doch schon so dicht davor…
Die angezeigte Nachspielzeit betrug nun 7 Minuten. Ein Witz, wie soeben erläutert. Das spürt man auf dem Platz, nur kommt ein Faktum hinzu: die Balljungen rückten zu Einwürfen keinen Ball mehr raus, plötzlich waren alle verschwunden, egal, ob Hertha oder Düsseldorf den Einwurf hatte. Hinzu kommt ein weiteres Problem: bei sehr langen Nachspielzeiten, so kann man sich leicht überzeugen, gibt es keine zusätzliche Nachspielzeit, welche sich jedoch gerade in dieser (langen) Zeit speziell reichlich anhäuft. Sprich: das Spiel fand in der Nachspielzeit kaum noch statt, wofür die Düsseldorfer Spieler und die Balljungen sorgten, und man sollte sich nicht wundern, dass sich bei den Herthanern allmählich Unmut oder Aggressivität einschleicht. Man möchte doch einfach nur Fußball spielen und die Erlaubnis haben, ein Tor zu erzielen, sofern der Ball einmal im Spiel wäre. Stattdessen gibt es nur noch Unterbrechungen, es geht einfach nicht mehr weiter, und niemand da, der einen schützt und stützt.
Hier nicht nachvollziehbar, dass diese Argumente an keiner Stelle angeführt werden. Zunächst mal ist das Spiel nicht regulär zu Ende gegangen. Eine mehrfache Spielunterbrechung sorgt dafür, dass derjenige, der noch etwas braucht (im Gegensatz zu dem, der mit dem aktuellen Ergebnis zufrieden ist), den Spielrhythmus unmöglich wieder finden kann. Der Gegner hingegen hat die Möglichkeit, seine Nerven wieder in den Griff zu bekommen, die durchaus in der Hitze des (weiterlaufenden) Gefechts angespannt, überspannt, flattern könnten.
Die Spielunterbrechung fand statt kurz nach Minute 95. Das bedeutet, dass mindestens noch zwei Minuten der angezeigten Nachspielzeit zu spielen wären. Diese dürfte unter keinen Umständen geringer sein als die 7, welche bereits eindeutig zu wenig waren. Wenn nun auf 90 Sekunden entschieden wird, so ist dieser Wert eine Farce, das ist ein Schlag ins Gesicht der Hertha Spieler, das kann man nun wirklich absolut nicht akzeptieren. Erst werden nur 7 Minuten nachgespielt anstatt 10, die einem minimal zustünden. Dann rollt der Ball einfach nicht mehr und das ist nun wirklich nur dem Gegner, den Balljungen und dem Schiedsrichter zuzuschreiben, der einfach keinen Schutz für die Berliner bietet. Er sorgt nicht dafür, dass man weiter spielen kann.
Wenn man nun noch an eine Art Bestrafung denkt, die den Düsseldorfern einfach zustünde nach dem irrwitzigen Stürmen des Platzes lange vor dem Abpfiff, dazu, dass Hertha die Chance zu geben wäre, bei Wiederaufnahme ins Spiel hineinzufinden, eine ähnliche Anspannung aufzubauen, wie sie vielleicht in den letzten Minuten des Spiels vorlag, da man sicher noch einige Hoffnung hatte und ganz sicher spürte, dass sich bei Düsseldorf eine (nun längst verflogene) Nervosität breit gemacht hatte, dann erscheinen die 90 Sekunden, die von Herrn Stark angeordnet wurden nicht nur wie ein Witz sondern wie eine Erklärung des Siegers. Das kommt dem sofortigen Schlusspfiff gleich. Und tatsächlich sieht man ja in den dann noch gespielten (weniger als) 90 Sekunden, dass es keine einzige Möglichkeit gab, einen Angriff aufzubauen. Es war eine Farce.
Für diese Farce verantwortlich war nun einmal Herr Stark, der Schiedsrichter. Dass sich also die Wut der Hertha Spieler gegen diesen Mann richteten, ist nachvollziehbar und verständlich. Er hat ein Team zum Sieger erklärt ohne dem anderen eine faire Chance zu geben. Was auch immer davor schon gesprochen war oder was ihn dazu veranlasste: das war keine sportliche Entscheidung in dem Spiel.
Wenn Hertha das Ergebnis also anfechten wollte, so sollten sie doch bitte schön darauf Bezug nehmen. Sie berufen sich auf einen abgebauten Elfmeterpunkt und nicht vorhandene Eckfahnen. Diese Argumentation ist mehr als wackelig. Und: dass den Hertha Spielern ihr Verhalten zur Last gelegt wird und sich in der Argumentation davon distanziert wird und dies als unrichtig und falsch dargestellt wird, macht die Erfolgsaussichten auch nicht gerade höher.
Hier gab es eine gewaltige Ungerechtigkeit, die an Hertha verübt wurde. Natürlich ist Selbstjustiz keine Lösung. Nur kann man nicht einfach nach Belieben Pfeifen, wie man Lust hat und immer der Überzeugung bleiben, dass man unantastbar ist. Die Spieler, von denen ja gerade auf dem Platz bei einem Bewegungsspiel maximale Leidenschaft und maximaler Einsatz gefordert wird, kann man kaum dafür bestrafen, dass sie emotional auf die lächerlichen Entscheidungen reagiert haben. Das kann man kaum unterdrücken.
Sie haben auch, so weit man es beurteilen konnte (und hören und sehen) auch in der langen Unterbrechung nur wenigstens zwei Minuten gefordert, meist drei, die das Minimum gewesen wären (und dann noch immer deutlich zu wenig). Dass Herr Stark sich darauf nicht einließ beweist eine Parteilichkeit in diesem Augenblick. Wenn die Spieler ihm nun Feigheit unterstellen, so kann man das getrost abzeichnen – oder ihm einfach die Entscheidung „Düsseldorf steigt auf, egal was ihr macht“ zuschreiben. Dass man darauf aggressiv reagieren würde, wenn es so artikuliert würde, ist ja wohl verständlich, und empfunden kam es einer derartigen Entscheidung gleich.
Falls es aber tatsächlich „nur“ Feigheit war, dann muss er halt mit einem derartigen Vorwurf leben. Er, Herr Stark, hatte angekündigt, nach der zweiten Unterbrechung, dass es bei einem weiteren Zwischenfall zum Abbruch käme, dass er keine andere Möglichkeit hätte. Als der nächste gravierende Zwischenfall geschah, tat er nichts. Er war also der Überzeugung, dass er nur heil aus dem Stadion käme, wenn er wieder anpfiffe. Und das genügt noch lange nicht als Vorwurf: er käme in Wahrheit nur dann heil aus dem Stadion, wenn Düsseldorf aufgestiegen wäre. Genau dafür hat er gesorgt. Ja, feige passt.