Christian Maier, mein gefühlt bester Freund damals (meinetwegen könnte er es ruhig bis heute sein), kam aus Freiburg. Und Geburtstage gemeinsam feiern bekam irgendwann Tradition. So kam ich zwangsläufig in den Genuss, eines Tages Freiburg, seine Heimatstadt, kennen lernen zu dürfen. Es ist wirklich traumhaft schön dort. Allein die Lage, so mitten im Schwarzwald, den Bergen drum herum. Als „eingemauerter“ Berliner wusste man auch lange Jahre nicht wirklich, was das Wort „Umland“ bedeutet. In der Großstadt hat man sowieso überall und immer nur Großstadt. Aber in Berlin hatte man noch dazu nur Großstädter darinnen. Und drumrum Mauer.
Ich besuchte C. also mal im Jahre 1982, diesmal im Sommer, ohne Geburtstag. Wir wollten gemeinsam, mit unseren Freunden Georg Siegel und Michel Rijnbergen, einem Holländer, zu einem Wochenendturnier nach Klausen (Chiusa, Südtirol) fahren. Dazu brauchten wir ein Auto. Wir wollten uns den alten R4 von Georgies Eltern ausleihen.
Nun mussten wir junge Burschen erstmal die Verleihenden davon überzeugen, dass wir die Befähigung für eine solche, doch recht weite, anstrengende Tour hatten und dass sie ihr Auto auch sicher unbeschadet zurück erhalten würden. Und immerhin, ich war Zeuge: C. hatte schon seit drei Tagen den Führerschein.
Nun war dieses allein als Argument nach unserer Einschätzung ungeeignet. Zumal er in den drei Tagen auch nicht all zu viel Gelegenheit zum Trainieren hatte, da eben kein Auto. Man könnte also davon sprechen, dass er außer den paar Fahrstunden und der Prüfung noch überhaupt gar nicht Auto gefahren war. Also blieben Georgie, der Misch und ich. Von Georgies (nicht vorhandenen) Fahrfähigkeiten wussten die Eltern ja. Und ich kann mir gut vorstellen, dass es ein wenig übertrieben klingen mag — angesichts der Tatsache, dass auch Misch und ich noch nicht mal den Führerschein hatten– als wir, zur Untermauerung unserer zweifellos vorhandenen Befähigung, von „insgesamt drei Führerschein erprobten Mitfahrern“ sprachen. Wer hat bloß diesen blöden Begriff der „Notlüge“ erfunden? Jedenfalls erreichten wir unser erstes Ziel, wir bekamen das Auto.
Für das zweite Ziel, die Reise von Freiburg nach Klausen muss man noch ein paar Abenteuer überstehen. Keine Autobahn, nur Berge. Man muss schon mit 8 Stunden Fahrzeit rechnen, auch wenn es nur 450 Kilometer sind. Wir fuhren abends los, machten noch kurz Halt bei den Zwillingen Flora und Fauna, nein, Quatsch, Flora und Susanne in St.Peter, die uns noch ein paar Schnittchen zubereitet hatten. Badisch hab ich auch ein paar Worte gelernt, so auch an diesem Abend. Wir haben also „geveschpert“. So heißt das. Dann, so ca. um Mitternacht, fuhren wir weiter gen Klausen.
Und diese Fahrt alleine war schon abenteuerlich genug. C. kam nach einigen Bergüberquerungen zu der Erkenntnis, dass es doch unsinnig wäre, das wertvolle Benzin bei Bergabfahrten zu vergeuden und den Motor laufen zu lassen. Also wurde dieser kurzerhand abgeschaltet. Nun muss ihn die anwachsende Geschwindigkeit allmählich irritiert haben und er wollte das Tempo reduzieren. Was macht man dann? Ja, richtig, man tritt auf die Bremse. Nur blieb die Wirkung im Wesentlichen aus. Einige begannen schon mühselig, sich längst vergessener Gebete zu entsinnen, ich hatte mir gerade die trostreichen Worte zurecht gelegt, dass unsere Abfahrt doch allerspätestens am Erdmittelpunkt enden würde, als die vom Motor nicht zur Verfügung gestellte Bremskraftunterstützung von einem Landstrassenbegrenzungspfeiler und dem dahinter liegenden Straßengraben übernommen wurde.
Eine kurze Inspektion des Wagens ergab, dass man, zumindest bei Dunkelheit, keine äußeren Schäden entdecken konnte, der „Rettungspfeiler“ wurde kurzerhand, quasi als Trophäe, eingeladen, der Motor war bereit, seinen Dienst wieder aufzunehmen und sprang an. Niemand war verletzt, weiter ging die Fahrt. Dass wir irgendwo im weiteren Verlaufe der Fahrt in einer engeren Passage mal kurz einen Berg touchierten kann doch einem alten R4 und ein paar hart gesottenen Halbstarken nichts mehr anhaben.
Ein R4 kann auch nicht auf die Ressourcen von übermäßig vielen Pferdestärken zurückgreifen. Und vier immerhin zumindest äußerlich halbwegs Erwachsene einschließlich Gepäck stellen darüber hinaus eine nicht ganz unerhebliche Last dar. Und in den Bergen geht es logischerweise nicht immer nur bergab. Als wir einmal bergauf anfahren mussten wollte der Wagen einfach nicht. Nun, das gab C. die Gelegenheit, uns eine Kostprobe einer seiner während der Fahrstunden angeeigneten Fähigkeiten zu geben: Das Anfahren mit Handbremse. Überzeugend! Bereits im 6. Versuch waren wir wieder auf Touren! Und die zu reinen Fahrübungen (oder war es gar Schikane?) dort aufgestellte Ampel zeigte gerade erst wieder Rot, als wir passierten.
Jedenfalls kamen wir, ziemlich gerädert, morgens in Klausen an. Die Zimmer konnten wir erst ab mittags beziehen. Also versuchten wir, ein wenig im Auto zu schlafen. Ein sinnloses Unterfangen. Eine Tasse Kaffee in einem Lokal hielt uns bei Laune. Mittags konnten wir dann endlich in unsere Zimmer und haben fast zwei Stunden in einem richtigen Bett geschlafen.
Anschließend ging es zum Turniersaal. Nun sieht man nicht all zu häufig Frauen bei Schachturnieren, zu der Zeit vielleicht mit einer Chance von 1/100. Aber wen wir da trafen und kennen lernten war schon höchst bemerkenswert und nicht weniger spannend: Brigitta Cimarolli. Ich geb es auch gerne zu. Ich war regelmäßiger Penthouse „Leser“ in diesen Jahren. Und es war nicht übertrieben schwer, sie zu erkennen. So leibhaftig ein Model vor sich zu sehen, das ist doch ein Unterschied zu einem Foto. Man hat den Anblick dann inklusive der weichen Knie. Sie war eine Augenweide, ein Hingucker, ohne Frage ein Männertraum. Ich erinnere mich bis jetzt noch an diesen ersten Anblick, das kurze, weiße Faltenröckchen, welches ausreichend Blickfläche auf die so wunderbar geformten, selbstverständlich erkennbar langen und gut gebräunten Beine ließ, abgerundet mit den passenden Stiefeln. Wow! Aber wohin habe ich geschaut? Selbstverständlich in die, allerdings ebenso schönen, Augen. Das hat meinen Knien allerdings in erster Instanz nicht geholfen, im Gegenteil.
Später hat sie zahlreiche Schachsendungen moderiert und wird auch heute noch als begnadete Schachmeisterin gepriesen. Ohne ihr zu nahe treten zu wollen: Ihre rein schachliche – steht doch zumindest geringfügig hinter ihrer optischen Naturbegabung zurück. Wohlgemerkt: Geringfügig. Und ich rechne in diesem Falle ausnahmsweise mal nicht mit einer Klage.
Dass sie dennoch auch wirklich was vom Schach versteht, kann ich Ihnen mit der nachfolgenden Geschichte aber beweisen. Es bedarf nur einer kleinen Einleitung, Geduld also.
Ich hatte meine erste Begegnung mit einem Wettzettel wenige Wochen vorher. Der Anbieter hieß SSP overseas betting. Christian hatte mir den Zettel gezeigt, er hätte ein Konto dort. Wir könnten ja mal was zusammen wetten. Wir suchten uns vier Spiele raus und wetteten darauf 10 DM. Drei Spiele richtig, eines falsch, ausgerechnet Liverpool, das letzte, was noch offen war am Sonntag Nachmittag, wir waren so zu sagen mit dem Geld schon einkaufen, im Heimspiel gegen Southampton, eine 1.40, die kleinste Quote. Das Spiel endete 1:1. Das Geld war weg. Dennoch hat es mich veranlasst, das erste Mal über die Art des Wettangebotes und über Quoten nachzudenken. Wie entsteht eine Quote? Warum darf/muss man kombinieren? Und so weiter (mehr dazu im Kapitel „Wie entsteht eine Quote“).
Meine naiven Erkenntnisse habe ich dennoch zusammen mit Christian an diesem Abend bei diesem Turnier in Klausen erstmals genutzt. Am Nachmittag war die Vorrunde, bei der man sich für das am nächsten Tag stattfindende Finale qualifizieren musste. Die Qualifikation sollte, zumindest für Georgie, C. und mich kein Problem sein und war es auch nicht. Und sogar der Misch hat es geschafft. Am Abend war dann ein Weinfest, zu dem alle Turnierteilnehmer eingeladen waren.
Nun, andere große Künstler haben ja auch schon auf die gelegentliche inspirierende Wirkung von Frauen vertraut, gehofft, gebaut oder verwiesen (und ich bin auch wirklich gar kein kleiner Dummkopf; Sie entscheiden, welche Worte betont werden müssen).
Leider blieb bei mir die Wirkung aus. Aber wozu hat man Freunde? C., der (damals noch) neue Stern am Himmel der Alleinunterhalter, verstand es immer grandios und spielend, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Also er hatte die Idee: Wir bieten Quoten auf das Turnier an. Quoten für den Turniersieg. Ich weiß nicht, woher er wusste, dass ich eine Sekunde später die gleiche Idee gehabt haben würde, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. C. ist Multitalent, ich verweise mal wieder auf meine einseitige Begabung (meine sieben Hobbies? Sex und Saufen und nicht jeder Witz ist geschrieben auch gut, falls er überhaupt in irgendeiner Form gut wäre). Dennoch konnte ich hier eingreifen und unterstützend wirken.
Wir hatten bei SSP auf einem Wettzettel gesehen, wie dort Quoten für den Sieger der Formel 1 angeboten wurden. Also haben wir, in gewisser Analogie dazu, einfach Quoten hingeschrieben, Wahrscheinlichkeiten waren (noch) kein Thema. Entscheidend war ohnehin: Der Plan ging auf. Die Aufmerksamkeit aller Teilnehmer war plötzlich auf unseren Tisch gelenkt. Auch Brigitta Cimarolli schien interessiert und — hat sich ihren Turnierfavoriten herausgepickt. Die 10 Schweizer Franken sollten ihr im Gewinnfalle 70 Franken Auszahlung bescheren. Wen sie auswählte? Wer Sieger wurde? Moment!
Am nächsten Tag das Finale. C. und ich hatten ohnehin Teilung der Preisgelder vereinbart, das galt nicht nur für dieses Turnier. Georgie war nicht dabei bei der Teilungsübereinkunft. Er war einfach zu stark, nach seiner Einschätzung, vor allem hatte er ein gigantisches Selbstvertrauen (ich war etwas später mal mit ihm bei einem Skatturnier. Über 100 Teilnehmer. Er sagte, er würde das Turnier gewinnen. Und er tat es auch. 600 DM. Es gibt so Menschen…).
Ich hatte eine andere Form des Glücks. Nämlich die, im Verlaufe des Turniers auf den Freund und Begleiter von Frau Cimarolli zu treffen. Und das war in doppelter Hinsicht Glück: Sie zeigte sich als interessierter Zuschauer. Sicher nur ein heimtückisches Ablenkungsmanöver, von meinem Gegner hinterlistig geplant. Sicher hatte er sich auf diese Art schon ein paar Turniererfolge erschlichen, durfte ich annehmen. Änderte an dem „Glücksempfinden“ aber vordergründig nichts. Ablenkung hin oder her, sie war da.
Über die während der Partie in meinem Körper stattfindenden Prozesse sollten wir wohl lieber den Mediziner „Otto“ befragen. Der kennt sich damit aus. Was dabei herauskommt, wenn ich versuche, das zu erklären, können Sie hier nachlesen: Kleinhirn an Großhirn: Die Partie müssen wir gewinnen… Auge an Großhirn: Ich seh gar keine Figuren hier… Moment doch, eine, 91-63-92, …Großhirn an Blut: Du wirst hier oben gebraucht… Großhirn an Drüsen: Adrenalinausstoß vorbereiten… Großhirn an Auge: Das Brett steht da, in der Mitte vor uns… Großhirn an Schwellkörper, ja, du bist gemeint, Kamm: Nur, wenn wir verlieren… Großhirn an Nase: wegriechen! Kleinhirn an Großhirn: Bleib bei der Sache… Großhirn an Drüsen: ich brauch mehr Adrenalin! Und so weiter. Es muss irgendwie so geendet haben: Kleinhirn an Großhirn: Wenn wir jetzt noch den Springer nach g6 ziehen, gibt er auf… Großhirn an Hand: Zieh den Springer nach g6! Und noch mal Großhirn an Hand: Gratulation entgegennehmen… Großhirn an Auge: Guck, wohin du willst. Kleinhirn an alle: War doch ganz einfach. Großhirn an Zunge: Zwei Bier und ein Glas Wein bestellen! Ohr an Großhirn: „ Ich habe Wasser gehört, nicht Wein!“ Doch keinen Wein, für eine Lady, um die Uhrzeit.
In der Folgezeit schwamm ich weiterhin auf der Euphorie- und damit Erfolgswelle, wohl auch als Konsequenz von erfolglosem Adrenalinabbau. Ich war kaum aufzuhalten und erreichte tatsächlich den 2.-3. Platz. Ob C. von ähnlichen Empfindungen geleitet wurde, ist nicht überliefert. Aber er war derjenige, mit dem ich den Preis teilen durfte.
Und wer gewann das ganze Turnier? Georg Siegel, klar.
Wir tanzten alle drei Arm in Arm auf der Bühne bei der Preisverteilung. Da kann man sich doch auch mal feiern lassen und sich selber feiern. Das Leben ist herrlich!
Und es gab noch einen weiteren Gewinner: Brigitta Cimarolli. Sie hatte als Einzige(r) den Turniersieger richtig voraus gesagt! Da sehen Sie es, was ich meinte: eine echte (Schach-)Expertin. Bevor es zum Streit kam, wer ihr den Gewinn übergeben durfte, haben wir noch rasch geknobelt, und auch diese Passage fällt unter die Kategorie „dichterische Freiheit genutzt mit dem Stilmittel der Übertreibung“. 70 Schweizer Franken, „bitte sehr, und Glückwunsch zu Ihrer glänzenden Einschätzung.“ Wann und wo sehen wir uns wieder und haben Sie heute Abend schon was vor kam ja nicht in Frage. Meine innere Ausrede, um Angst und Gehemmtheit zu kaschieren: Sie war schließlich in Begleitung.
Wir hatten trotzdem unterm Strich 100 Schweizer Franken verdient, alleine mit den Wetten. Dazu die Preise. Und wir befanden uns in Italien, dem Land der Lire. Wir waren echte Millionäre danach. Wir bekamen insgesamt ziemlich genau 1 Millionen Lire ausgezahlt! Und das alles in 10000 er Noten. Gegenwert ca. 2000 DM damals.
Wir also zurück nach Freiburg und wieder einen braven Besuch bei den Zwillingen. Wir zeigten ihnen das Geld, das war ein ziemlicher Batzen. Sie waren gleich der Meinung, dass das ja nichts wert sein könnte. Wie sollten wir zu so viel Geld kommen? Richtig, bestätigten wir, es ist wertlos, du kannst es ruhig verbrennen. Die Mädchen verbrannten einen Schein. Irgendeine weibliche Intuition ließ sie ihn noch kurz vor endgültigem Abbrennen auspusten. Wir rieten ihr, den Schein morgen zur Bank zu bringen und mal nachzufragen, was er denn wert gewesen wäre. Tatsächlich, wie wir später erfuhren, bekam sie sogar den Gegenwert noch ausgezahlt, das Wasserzeichen war erhalten! Dass sie allerdings gleich 20 DM dafür erhielt, hat sie laut Berichterstatter ziemlich blass werden lassen. Denn: Haben Sie schon mal 20 DM verbrannt?