Juniorenmannschaftsweltmeisterschaft Graz 1981
Kaum Zeit zum Erholen, aber wozu brauchte ich so was auch? Das Leben geht weiter und mein Kopf kam ohnehin nie zur Ruhe. Außerdem war es natürlich eine riesige Herausforderung und auch eine große Ehre. Ich gehörte zu den besten 6 Junioren Deutschlands im Schach! Außerdem hatte man die Gelegenheit auf die weltbesten Spieler dieser Altersklasse zu treffen, sie zu sehen, beim Spielen beobachten, vielleicht auch beim Analysieren. Vielleicht ergab sich auch die eine oder andere Bekanntschaft? In den Dunstkreis der Großmeister aufzusteigen, das hatte auch schon etwas. Darüber hinaus hatte gar Garry Kasparow seine Zusage gegeben.
Garry Kasparow hatte seinen Durchbruch zur Weltspitze ja bereits im Jahre 1979, als er 16-jährig ein sehr stark besetztes Großmeisterturnier überlegen gewann. Ich habe alle seine Partien nachgespielt, er war offensichtlich ein Genie, ein würdiger Fischer-Nachfolger, jedenfalls in meinen Augen. Aber jetzt konnte ich ihn leibhaftig sehen? Seine Partien beobachten, live und vor Ort.
Allerdings mussten wir uns, ganz schachspielertypisch, in der Jugendherberge einquartieren. Nun, elitäres Denken wird einem da relativ schnell abgewöhnt. Aber immerhin: Auch die russische Delegation war in dieser Unterkunft. Nur die Vereinigten Arabischen Emirate, die auch am Ende ziemlich unangefochten den letzten Platz belegten (wann wird der endlich lernen, sauber zu recherchieren!), waren im Luxushotel einquartiert und hatten ein Taschengeld von 100$ pro Tag, so wurde berichtet. Allerdings gehört es ins Reich der Fabel, dass der erste Spieler, der eine Partie gewann, einen Mercedes geschenkt bekam. Die Belohnung gab es natürlich für JEDEN Sieg und man bekam einen Rolls Royce, klar. Leider wurde meine Einbürgerungsanfrage damals abgelehnt…
Kasparow war da. Er war 18 Jahre alt und auf dem Weg zum ganz großen Ruhm. Seine erste Partie gewann er in überragendem Stil gegen den französischen Spitzenspieler. Ich durfte auch ran in der ersten Runde. Wir mussten gegen die Amis spielen. Und mein Gegner? Ein gewisser Leonid Bass. Leonid, Leonid, Leonid? That rings a bell! Natürlich ein emigrierter Russe. Die, die es in Russland nicht in die erste Mannschaft schafften, wanderten einfach aus. Und das sind eine ganze Menge. Gemeinheit!
Aber ich erreichte eine klare Gewinnstellung. Im Computerzeitalter ist die Beweisfähigkeit durch die Schachprogramme einfach zu erbringen. Als ich Fritz (den aktuell wohl besten Schachcomputer) befragte, urteilte er mit +2.84 Bauerneinheiten. Und ab +1 in etwa kann man von technischen Gewinnstellungen sprechen. Aber, die Aufregung, die Überheblichkeit, die Sorge, den Gegner zu vernichten, die Sorge, dass das Spiel bald vorbei sein könnte oder einfach nur Schachblindheit? Der übliche Fehlgriff, die Partie war verdorben, kurz danach die Kapitulation.
Tja, so hatte ich mir meinen Einstieg ins Deutsche Nationalteam sicher nicht vorgestellt. Und es ließ wohl eine nicht all zu lange Karriere erwarten. Wir waren auch insgesamt 6 Spieler für 4 Bretter, natürlich war für mich dann erst mal eine Pause vorgesehen.
Insgesamt ging das Turnier über 11 Runden. Russland zog einsam seine Kreise mit einem in Überform spielenden Kasparow, der praktisch alle Partien gewann. Aber der Rest der Truppe war auch dem Rest der Welt klar überlegen. Ich brachte es auf insgesamt 7 Einsätze, mit dem soliden aber nicht auffälligen Ergebnis von 3.5 aus 7, also exakt 50%, durchschnittlich eben. Schlimm war nur, dass ich gegen Österreich eine weitere Niederlage hinnehmen musste, gegen einen nominell klar schwächeren Spieler, und noch dazu gegen Österreich! Das geht ja nun wirklich gar nicht, weder im Fußball noch im Schach. Und ein weiters kleines Unglück passierte mir in der Partie gegen Israel, als ich mit voller Überzeugung in ein von mir als gewonnen eingeschätztes Turmendspiel abwickelte, als es zum Abbruch, also zur Hängepartie mit Fortsetzung am nächsten Tage kam. Mein damals allgegenwärtiger Freund und Wegbegleiter, nicht nur für die Dauer dieses Turniers auch Zimmergenosse, Klaus Bischof, erkannte mit einem Blick auf die Stellung sofort die richtige Einschätzung und leistete damit seiner Befähigung zur baldigen Ernennung zum Großmeister Vorschub: „Dirkifax, ich glaub, die Stellung ist Remis.“
Eine weitere Analyse erübrigte sich, Klausi hatte Recht. Ich musste alsbald ins Remis einwilligen.
Dennoch kam es tatsächlich zu einer Begegnung mit Kasparow, und die war wirklich bemerkenswert: Kasparow hatte eine Hängepartie gegen den Brasilianischen Spitzenspieler Jaime Sunye-Neto. Und er hatte Vorteil. Man beobachtete gebannt das weitere Geschehen. Und Kasparow konnte auf geniale, tiefgründige Art und Weise den Vorteil mit einer brillanten Kombination verwerten und den vollen Punkt auch in dieser Partie einstreichen. Ich durfte anschließend noch der Analyse beiwohnen. Und nicht nur das: Kasparow zeigte mir persönlich in allen Varianten, wie er gewonnen hätte, falls der Gegner diesen, jenen oder gar solchen Zug gemacht hätte. Die Finger flogen dabei nur so übers Brett. Ich ließ mir nichts anmerken von der unmenschlichen Geschwindigkeit, nickte immer eifrig und wenn ich mal was verstanden hatte, wagte ich gar, selber eine Figur in die Hand zu nehmen. Natürlich nicht ohne, dass sie Kasparow mir gleich wieder wegnahm, mit erhobenem und sich hin-und herbewegendem Zeigefinger und den Worten: „No, no, no, this doesnt work!“ Mein Zug war natürlich Quatsch, was auch sonst. Aber eventuell habe ich auch nicht alles falsch gemacht, wie sich etwas später zeigen sollte.
Die Partie selber wurde übrigens sogar berühmt und ausgezeichnet.
Ich selber hatte aber auch meine tägliche Partie, und zwar eine gegen die und mit der gesamten Weltelite. Das war aber im Fußball. Wir spielten jeden Vormittag Fußball und ob Russen oder Amis, Holländer, Engländer, von allen Nationen war der eine oder andere dabei. Da konnte ich sogar Doppelpass mit dem einen oder anderen Großmeister spielen und fühlte mich nicht ganz so unterlegen. Bei den auch häufigen Rochaden habe ich natürlich ganz artig die Rolle des Turms übernommen, versteht sich.
Mit meinem Zimmernachbarn haben wir auch anschließend eine andere Form der Zeitüberbrückung gefunden und unser Tagegeld von 10 DM absolut sinnvoll investiert: Jeden Mittag gings ab ins nahe gelegene Bahnhofskino. Und wir waren selber erstaunt, wie viele und täglich wechselnde Filme man da sehen konnte. Um nicht in die Gefahr zu geraten, Titel falsch zu zitieren hier nur ein paar Assoziationen. In den meisten Titeln kam das Wort „Lederhose“ vor, beispielhaft hier „Liebesgrüße aus der Lederhose“, ein anderer Titel hieß etwa so „Liebe zwischen Tür und Angel“ ein dritter „Schlüssellochreport“, wenn ich mich recht entsinne. Aber im Bahnhofskino sind zwar die Filminhalte, wie man an diesem Auszug schon erkennt, recht anspruchsvoll, allerdings sind sie dennoch kostengünstig. Eine ideale Kombination, wie ich finde. Das Tagegeld reichte für zwei Vorstellungen hintereinander und man konnte sich gar noch die obligatorischen Chips leisten (irgendetwas musste ja schließlich auf der eigenen Hose liegen).
Während die Russen mit eiserner Disziplin und präziser Vorbereitung von Sieg zu Sieg eilten hatten Teile der Deutschen Delegation eine vollkommene andere Vorstellung von Einstellung auf eine Weltmeisterschaftspartie. Aber ein bisschen Allgemeinbildung kann ja auch nicht schaden, oder? In der Schlussrunde kam es dann zunächst zur Begegnung Deutschland – Russland. Die Russen konnten es sich leisten, als bereits feststehende Sieger, Kasparow für diesen Kampf zu „schonen“. Und ich war auch nur Zuschauer, hatte mich aber auch nicht um eine Niederlage gerissen und etwa eindringlich einen Einsatz gefordert. Wir verloren den Kampf klar. Aber wir hatten am Vorabend bereits ein erstes Gespräch mit dem „Klassenfeind“. Klaus und ich trafen den später nach Deutschland emigrierten Russen Arthur Jussupow auf der Treppe der Jugendherberge und befragten ihn, ob er nicht auch Lust hätte auf ein bisschen derartige „Bildung“. Arthur lehnte ab. So etwas war in Russland und noch dazu während eines Turniers ausgeschlossen.
Auf irgendeine Art muss er aber doch die Botschaft weitergeleitet haben. Denn am letzten Abend, nach der Schlussrunde also, gab es einen (diesmal aber wirklich anspruchsvollen, gar schönen, aber dennoch derartigen) Film, bei dem plötzlich die gesamte Russische Delegation (außer Kasparow) erschien! Und gar aus unseren Reihen gab es eine schüchterne Anfrage von einem Mannschaftskameraden, ob er nicht auch einmal…? Natürlich konnte er, nur musste sich Gerd-Peter in der Folgezeit mit dem Spitznamen „Porno-Peter“ abfinden.
Die Vormittage Fußball, die frühen Nachmittage Bahnhofskino, die späten Nachmittage eine Schachpartie und die Abende und Nächte waren natürlich, wie es sich gehört, für eine Deutsche Nationalmannschaft ausschließlich für wirklich intensive Vorbereitung reserviert. Teilweise haben wir das bis 3 Uhr morgens getan. Das tut man natürlich nicht in einem tristen Jugendherbergszimmer sondern man geht raus. Leider gab es in den von uns aufgesuchten Örtlichkeiten aber meist keine Schachbretter. So mussten wir mit den Zapfhähnen vorlieb nehmen. Und wir kannten wohl das Lokal noch nicht, von dem später die Rede sein wird (Kapitel „Nicht-Sommer 1980-82“) und haben deshalb ganz brav die gesamte restliche Nacht zur Ausnüchterung genutzt…
Sehen Sie irgendeinen Grund, warum ich nie mehr Nationalmannschaft spielen durfte? Eine Himmel schreiende Ungerechtigkeit!