Wanja spricht mit seinen Kindern, heute über…
Foulelfmeter
Oft genug kam es vor, dass Wanja mit seinen Kindern eine Art Fragerunde veranstaltete. Er hatte ihnen schon jede Menge erklärt und erzählt und sie waren gelehrige und wissbegierige Schüler. Und ganz sicher wusste er auch nicht, welches Thema er bis in welche Tiefe bereits diskutiert hatte. Abgesehen davon konnte man ja sowohl Wissen und Verständnis ab und an abprüfen, aber auch das logische Denkvermögen ansprechen und anregen und den Kindern anheim legen, selbst die Zusammenhänge herzustellen, welche letztendlich die Begründung ihres eigenen Planeten und somit ihrer so heilen Fußballwelt geführt haben.
So fragte er seine Kinder in der uns schon so gewohnten und vertrauten allwöchentlichen Runde folgende Frage: „Wurde auf der Erde häufig Foul gespielt?“ „Häufig oder selten, das ist relativ und möglicherweise hätten Erdenbürger es als ´normal oft´ bezeichnet, aber es gab wesentlich mehr Foulspiele als hier bei uns, in etwa zehn Mal so viele.“ „Der Kandidat hat 100 Punkte.“
„Nun aber etwas mehr ins Detail: warum gab es denn diese Foulspiele in der so viel höheren Frequenz?“ „Auch dies ist einfach“, meldete sich der Mittlere zu Wort, „weil die ausgesprochene Strafe eher eine Art Belohnung war. Dem Täter passierte gar nichts und der Freistoß war keineswegs eine günstigere Spielsituation als jene, welche ohne das Foulspiel entstanden wäre.“
„Zwar die richtige Antwort, aber keine 100 Punkte, denn…?“ der Älteste schnitt ihm das Wort ab: „es kam dazu, dass der Täter oftmals gar nicht erst ertappt wurde. Das bedeutet so viel wie: man hat zwar gefoult, man hat es aber immer grenzwertig getan, so dass man es dem Schiedsrichter so schwer wie möglich machte, es überhaupt erst als Foul auszulegen. Man schob ein wenig, man zog ein wenig, man schubste nur minimal, man zerrte nur ein kleines bisschen und hatte so die Chance, davon zu kommen überhaupt ohne jegliche Strafe, dafür aber mit dem Ball, welchen man auf diese grenzwertig unfaire Art erobert hatte.“
„All dies die perfekte Antwort. Dennoch könnte man noch etwas hinzufügen, dies psychologisch noch einleuchtender machen. Weiß da jemand etwas?“ Fragende Blicke, nein, keiner meldete sich zu Wort.
„Es ging im Laufe der Zeit immer mehr in diese Richtung. Das, was vielleicht 1960 noch ein klares Foul gewesen wäre, war 1980 keines mehr. Die Szene, welche jedoch 1980 noch als Foul gewertet wurde, war 2000 keines mehr. Die Verteidiger testeten diese Grenzen aus und schoben sie immer weiter hinaus. Also so: wenn er dafür keinen Freistoß gegeben hat, dann kann er doch dafür auch keinen geben? Ebenfalls stieg das Geschick im Zweikampfverhalten, vornehmlich auf Seiten der Verteidiger, welche beispielsweise bei einer Grätsche sehr wohl den Ball anvisierten, denen es jedoch mehr und mehr gleichgültig wurde, ob sich vielleicht zwischen ihrem eigenen und dem Ball möglicherweise auch noch Gegners Fuß befand? Falls sie Ball und Fuß trafen, so wurde immer häufiger Milde walten lassen, nach dem Motto: ´ja den Ball hat er getroffen, das ist unzweifelhaft.´ Die Frage, wie viel Gegner er zusätzlich getroffen hatte, geriet mehr und mehr in den Hintergrund. ´Korrektes Einsteigen´ oder auch ´gutes Tackling´ erhielt die Vorfahrt.“
Dies leuchtete den Kindern ein, aber noch immer hatte Wanja nicht sämtliche Punkte aufgezählt. Er ergänzte also: „Und das ultimative Kriterium war ohnehin der Erfolg. Sieger wurden gefeiert und dies unabhängig davon, welche Mittel sie eingesetzt hatten.“
„Papa, erzähl doch mal wieder eine kleine Anekdote zwischendurch, ein klassisches Beispiel, du hast doch immer eine parat.“
„Natürlich. Auch hier fällt mir sofort diese kleine Geschichte ein: im Championsleague Finale zwischen Real Madrid und FC Liverpool in 2018 waren Sergio Ramos hier und Mohammed Salah bei Liverpool tragende Säulen, mit- oder gar hauptverantwortlich für die serienweisen Erfolge. Sergio Ramos als überragender Abwehrspieler und Mo Salah in der Angreiferrolle. Als diese im Zweikampf aufeinandertrafen und beide fielen, stürzte der körperlich natürlich robustere Ramos unglücklich oder vorsätzlich — aber auf keinen Fall vermied er den Sturz in Richtung des Gegenspielers – auf die Schulter von Salah. Dieser hatte sich schwer verletzt. Obwohl er unter schweren Schmerzen sogar das Spiel noch einmal aufnahm musste er kurz danach unter Tränen – vor Trauer und Schmerz — raus. Selbst wenn es nur Tragik gewesen wäre: die Welt musste einfach mit dem Angriffsspieler fühlen. Zugleich war Liverpool natürlich ein recht erheblicher Nachteil entstanden. Dennoch streckte Ramos eine gute Stunde später den Pokal in den Nachthimmel und schien nichts als Freude zu empfinden und wurde entsprechend bejubelt. Wenige Zeit später vernahm man gar, dass er Mo Salah eher verhöhnte anstatt sich zu entschuldigen oder eine Art Mitgefühl an den Tag zu legen. Und, keine Frage, die Medien sprachen später so oder so nur noch von den überragenden Madrider Helden. Kein Gedanke an Unfairness oder zumindest von dieser Seite aus Mitgefühl mit dem Verlierer. Aber für mich war die Szene ohnehin klar: der Sturz in Richtung Salah war von Ramos aus beabsichtigt und die Verletzung hat er auf jeden Fall billigend in Kauf genommen.“ „Dafür fühlen wir jetzt mit Salah mit. Das war echt nicht schön, damals auf der Erde. So etwas gäbe es bei uns niemals!“
„Allgemein auf dem Spielfeld wurde reichlich und nach Herzenslust gefoult, ohne dass der die Fouls begehenden Mannschaft daraus ein Nachteil erwuchs. Wenn überhaupt hatte sie Vorteile. Allein schon das Argument, dass die Freistoßsituation keinesfalls eine günstigere war als die, welche ohne das Foul entstanden wäre, hätte schon ausgereicht, um eine Regeländerung eigentlich nach der Logik und dem gesunden Menschenverstand unvermeidlich zu machen. Dennoch a) geschah dies nicht und b) gab es einen Bereich auf dem Feld, in welchem das Foulspiel nicht lohnenswert erschien, aus Sicht der verteidigenden Mannschaft. Welcher Bereich war dies?“ „Der Strafraum, der Strafraum“ entgegneter der Jüngste, welcher mit seinen sieben Erdjahren dennoch längst alt genug war, um solch einfache Zusammenhänge zu verstehen. „Richtig. Und warum war es dort nicht lohnenswert?“ „Weil es laut Regeln damals so war, dass es für Foul im Strafraum Elfmeter gab.“ „Und was war das Problem an diesem Elfmeter?“ „Kein Problem. Ein Elfmeter war zu 80% ein Tor.“
„Dennoch erwuchs daraus ein Problem. Wer kann mir dieses näher erläutern?“
Der Älteste übernahm: „Das Problem war, dass die vorher nur sehr kleine Torchance auf einmal eine Aufwertung erfuhr. Die Spielsituation selbst hätte in sehr seltenen Fällen zu einem Tor geführt, während der verhängte Strafstoß sehr häufig zu einem Tor wurde.“
„Ja, das ist richtig, aber noch immer erst der Anfang des Problems. Wie geht die Kette weiter?“
Erst einmal wieder fragende Blicke. Die Kinder waren sicher, dass ihr Vater Antwort wusste.
„Nun, wie wir eben rekapituliert haben, war eine beliebige Freistoßsituation auf dem Feld eine Abwertung der Torchance beziehungsweise ging, aufgrund der anderen Kriterien, die Sache in der Summe zugunsten der foulenden Partei aus. Kein Freistoß und wenn auch kein Problem. So in etwa. Im Strafraum war es aber umgekehrt: sobald gepfiffen wurde, war es praktisch ausnahmslos eine Aufwertung. Führte dies nun zu weniger Foulspielen im Strafraum oder etwa zu vielen Elfmetern, aufgrund der Häufigkeit von Foulspielen?“ „Vermutlich nicht, so weit wir bisher wissen, aber eigentlich hätte es doch…?“
„Ja, das Foulspielen selbst unterblieb auch nicht etwa im Strafraum, eher wurde es aufgrund der erhöhten Torgefahr gesteigert. Also es wurde sogar mehr gefoult und zugleich etwas mehr.“ „Und warum gab es dann nicht ständig Elfmeter?“
„Ja, nun kommen wir der Sache allmählich näher. Aufgrund der erkennbaren Aufwertung einer Spielsituation innerhalb des Strafraums von geringer Torgefahr auf beinahe Tor, welche es aufgrund der Verhängung eines Elfmeters gegeben hätte, standen die Stürmer grundsätzlich unter Generalverdacht.“ „Ah, logisch, weil man ihnen immer unterstellte, einen Elfmeter haben zu wollen? Kicke mal den Ball irgendwie in den Strafraum, stürze dich hinterher und falle über irgendein herumliegendes Bein. Dann bekommst du Elfer und schießt ein Tor.“ „So in etwa war es. Das zumindest war die grundsätzliche Behauptung, welches zu Beurteilung der Szene erheblich beitrug.“
Nachdem die Kinder sich mit diesem Gedanken vertraut gemacht hatten, setzte Wanja fort, denn noch immer war die Argumentationskette nicht abgeschlossen. „Tatsächlich war es ganz früher auch so, dass Stürmer versucht haben, Elfmeter zu schinden. Denn in Zeiten, als die Spiele gar nicht übertragen wurden und die Schiedsrichter nicht beobachtet wurden und ihre nicht Leistung bewertet wurde – außer, dass im Spielbericht vielleicht im Anschluss eine 2 oder eine 3 stand, von einem beliebigen Reporter so benotet –, kam es häufig vor, dass ein Angreifer der Heimmannschaft sich unvermittelt – daher der Begriff ´Schwalbe´– und praktisch ohne Kontakt fallen ließ, irgendwo einhakte, den Kontakt suchte oder den Ball sich weit vorlegte, am Torwart vorbei aber unerreichbar für sich selbst, dann die Füße schliefen ließ und an den Händen des Keepers hängen blieb, ohne jede Notwendigkeit und der Schiedsrichter, auch vom ungeduldigen Publikum durch Pfiffe beeindruckt, auf den Punkt zeigte.“
„Das war doch aber auch nicht richtig so?“ „Stimmt. Genau diese frühere Phase des Elferschindens hat aber dazu geführt, dass eben, wie ich schon erwähnte, die Stürmer unter diesem Generalverdacht standen. Sie wollten eigentlich immer einen Elfmeter haben – und das wurde ihnen bei der Beurteilung jedweder Szene nachteilig angerechnet. ´Den bekommst du nicht.´ ´Warum denn nicht?´ `Na, weil du ihn haben wolltest.´ ´Was kann ich denn dafür, dass in den Regeln steht, dass es bei Foul im Strafraum Elfmeter gibt?´ Genau darin bestand das Problem nun endgültig: es war einmal aufgeschrieben, dass es bei Foul im Strafraum Elfmeter gibt – und die Feststellung, dass es eine unangemessene, weil meist zu harte Strafe ist, wurde nie getroffen.
Bei genauerem Nachdenken über die Sachlage hätte man sich vor dieser Alternative befunden: entweder, die Regeln, so wie sie stehen, anwenden, oder aber die Regeln einfach adäquat abändern.“
„Und, wofür hat man sich entschieden?“
„Ich sagte ja, man hätte vor der Alternative gestanden. Tatsächlich hat man diese Wahl und das Problem nicht erkannt, eben nicht gründlich nachgedacht. Es blieb so. Die Regeln wurden weder angewandt noch geändert. Foulspiel im Strafraum wurde eine Sondersituation. Die Sprachregelung, auch in den Medien, entwickelte sich in etwa so : mal hieß es, ´das reicht nicht für einen Elfer´, mal hieß es ´da fiel er zu schnell´, mal hieß es ´andere Schiedsrichter hätten sicher einen gegeben, aber er entschied sich so´, mal hieß es ´das war ein 50/50 Elfer´, wobei keiner merkte, dass die 50/50 Entscheidungen in allen Fällen zu Ungunsten der Angreifer ausfiel, mal hieß es ´da stand der Schiri ungünstig; wenn er es so gesehen hätte wie wir jetzt, dann hätte er ihn gegeben´ und was den Berichterstattern noch so alles für Rechtfertigungsgründe einfielen.“
„Und, Papa, was hast du gemacht, um darauf Einfluss zu nehmen, schon zu Erdzeiten? Da muss man doch was tun, die Leute aufrütteln, etwas schreiben, Videos aufnehmen, Leserbriefe, Ideen veröffentlichen? Was hast du gemacht?“
„Nett, dass ihr fragt. Natürlich habe ich eine Menge probiert. Ich habe beispielsweise immer mal wieder vorgeschlagen, dass man Szenen zusammenschneiden müsste, in denen eine Kommission von Schiedsrichtern im Nachhinein und bei Ansicht dieser Bilder die Szenen zu entscheiden hätten: Foul oder nicht Foul.“
„Aber das haben doch die gleichen Leute im Spiel bereits getan? Auch die Medien haben schon reagiert, wo ist da der Clou an der Sache?“
„Der Clou ist der: auf den Bildern erkennt man die Spieler, welche um den Ball kämpfen, man sieht auch den Ball, aber man sieht drumherum nichts. Nur den Zweikampf.“ „Ja, und dann?“
„Da man nun nicht weiß, ob sich die Szene im Strafraum, am Mittelkreis oder gar auf der anderen Feldseite, also der Abwehrspieler im Ballbesitz, der Stürmer mit dem Versuch der Balleroberung in Form eines Zweikampfes. Man muss nur und ausschließlich den Zweikampf bewerten. Foul oder Nicht-Foul?“
„Und was kam dabei heraus?“ „Na, der Vorschlag verhallte ungehört. Niemand hätte sich darauf eingelassen, das wäre als albern abgestuft worden. Wozu so ein Unsinn, hätte man gesagt? Er war schon vergessen bevor jemand drüber nachdachte.“