(oder: wie bekommt man das Dinosaurierei „Fußball“ vielleicht doch eines Tages kaputt?)
Es gibt wohl keine Entscheidung in einem Fußballspiel, welche heftiger und welche häufiger diskutiert wird als jene, in welcher der Schiedsrichter endgültig und unwiderruflich final auf den ominösen Punkt zeigt, der sich in überwindbarer Distanz zum eigentlich ausreichend breit angelegten so genannten „Tor“ befindet, hinter welchem sich, zum Auffangen des Balles, das so genannte „Netz“ befindet, in welches der nun zur Ausführung aufgerufene Spieler nach dem Entfernen sämtlicher Gegenspieler aus dem so genannten „Strafraum“, allein dem Torwart gegenüber, welcher, als zusätzliche Erschwernis, die eigene Torlinie vor dem Torschuss nicht verlassen darf, das zum Fußball spielen erforderliche Hauptobjekt – den Ball — nun mit einer hohen Wahrscheinlichkeit versenken darf.
Dass der Schiedsrichter heutzutage dies erst tun darf, nachdem er das Ok vom Videoassistenten erhalten hat und sein eigenes Review in der dafür reservierten area abgeschlossen hat, hat zwar einen gewissen Beigeschmack und wurde ursprünglich in guter Absicht inszeniert – hat aber am Sachverhalt der andauernden und heftigen, alltäglichen und äußerst vielfältigen und kontroversen Diskussionen darob ausgesprochen wenig geändert. Wie der das gesamte Riesenbusiness zu finanzierende Zuschauer feststellt, gibt es hier weder ein „richtig“ noch ein „falsch“. Er würde praktisch jede einzelne Entscheidung grundsätzlich der so genannten „Willkür“ zuschreiben.
Da er jedoch zuvor zum „Fan“ dieser oder jener Mannschaft degradiert wurde, ist seine ganz persönliche Ansicht von der einzelnen zu bewertenden Szene unerheblich. Er ist nicht sprach- und urteilsberechtigt, da er – wie ihm bösartig unterstellt wird – ohnehin die Aktion immer zugunsten der eigenen Farben auslegen würde. Empörung dort, weil es einen gab, Empörung hier, weil es ihn nicht gab. Dass er dennoch fortan — und, seit der Einführung des Videoassistenten andauernd — ein Gefühl grenzenloser Ohnmacht und zugleich Ungerechtigkeit mit sich herumträgt, wird von den Entscheidungsträgern übergangen, ignoriert, für unerheblich erklärt. Das Motto: „Die Leute haben sich früher aufgeregt und tun es heute auch noch. Die WOLLEN sich aufregen. Das gehört dazu, Fußball ist Emotion, egal, ob Freude oder Ärger.“ Der Aspekt der Gerechtigkeit ist von untergeordneter Bedeutung – oder wird die Ungerechtigkeit gar gepflegt?
Es fing alles in sehr guter Absicht an, in Zeiten, da ein Tor grundsätzlich noch als freudiges Ereignis angesehen wurde, die Torerzielung dabei zum hehren Ziel des Spiels ausgerufen war, in Zeiten, da man mit zwei Verteidigern, drei Mittelfeldspielern und fünf Angreifern agierte, in Zeiten, da man nicht im entferntesten auf den Gedanken kam, dass irgendwo eine Null stehen müsse oder gar, dass ein jegliches erzieltes Tor sich lediglich im Anschluss an eine unglaubliche und unerklärliche Fehlerkette, von für den Moment zu Dilettanten erklärten Abwehrspielern ereignen konnte und dass der Trainer lediglich unter dem Gelöbnis, dass Abwehrarbeit bis zum Erbrechen in der nächsten Woche trainiert würde, damit sich ja so etwas nicht ein weiteres Mal ereigne und man fortan eine so klare wie die 1-0 Führung auch gewisslich demnächst über die Zeit bringen werde, seinen Hut noch nicht diese Woche nehmen muss – sondern eine weitere Woche Aufschub erhielte. Also, kurzgefasst: früher wurde Fußball gespielt und Tore erzielt und jeder – nicht selten nämlich auch die Anhänger der vom Gegentreffer nachteilig betroffenen Mannschaften – hatte Freude an einem Tor und klatschte respektvoll Beifall. Heute wird Fußball verhindert. Früher gespielt, heute verhindert.
Denn, merke, die Medien haben es eines Tages dazu gemacht und weichen seither kein Mü und kein Yota mehr davon ab: Fußball ist ein Ergebnissport. Dabei lassen sie gänzlich außer Acht, dass man ZUERST sicherstellen müsste, dass der Zuschauer Freude daran hat – und somit bereit bleibt, seinen Obolus zu entrichten. Erste Frage, zur Abstimmung ausgerufen, lautet: „Wer schaut eigentlich noch Fußball?“ Der sich anschließende Satzteil könnte lauten „… ohne Beteiligung des Vereins, zu welchem er sich zwecks Verankerung seiner Leidenschaft für den Fußball, bekennen musste?“ Also einfach so, ein Fußballspiel anschauen, weil der Fußball so schön, so unterhaltsam, so gerecht, so spannend ist?
Die sich anschließenden Fragen wären die: wer erfreut sich daran wirklich? Wer empfindet ihn als „gerecht“? Wer regt sich – mit oder ohne verbürgte Anhängerschaft in einem Spiel, in einer Zusammenfassung – nicht in fast jedem Spiel darüber auf? Wer empfindet ein Spiel als spannend, in welchem es 0-0 steht in der sechzigsten Minute und der Kommentator einen darauf hinweist, dass „das Spiel von der Spannung lebt“ und man ohnehin deutlich heraushört, dass a) sehr wenig los ist, dass b) das Spiel nicht gut ist und c) dass ein Treffer, welcher jetzt fiele, zugleich das Ende der angeblichen Spannung bedeutet – denn nach dem Treffer wäre der Sieger gefunden, wie uns übrigens der Sprecher ebenfalls zu verstehen gibt („ich habe das Gefühl, wenn hier überhaupt noch ein Tor fällt, dann ist es die Entscheidung. Das wissen beide Mannschaften – und dementsprechend verhalten agieren sie.“).
Die gute Absicht, mit welcher alles begann, war also die, dass Torerzielung eine Freude ist und zugleich, dass ein verhindertes Tor in Tornähe – das bedeutet: ein Foulspiel oder ein Handspiel im Strafraum – grundsätzlich zur Torverhinderung ausgerichtet war und dass man sehr wohl gedachte, die Mannschaft, welche die Regeln verletzt hatte, tatsächlich zu bestrafen.
Zur näheren Erläuterung: der so genannte „Elfmeter“, von welchem hier die Rede ist, gibt mit dieser Bezeichnung lediglich die in etwa so bemessene Torentfernung wieder, da es ursprünglich ein „twelveyarder“ gewesen wäre. Dabei sind twelve yards eigentlich nur 10,98 Meter; die alternative und ebenfalls im Sprachgebrauch anzutreffende, ohne dabei den Wortsinn zu reflektierende Bezeichnung wäre die eines „Strafstoßes“. Es SOLLTE DURCHAUS eine Strafe sein und, als solche, eine erneute Zuwiderhandlung möglichst in Zukunft demotivieren.
Das heißt also: man gab der bestraften Mannschaft einen Nachteil und der von der Regelverletzung vorteilhaft betroffenen Mannschaft den entsprechenden Vorteil, nun aus der Distanz von 10,98 Metern einen direkten Torschuss, ohne Gegenspieler, im Duell Eins gegen Eins mit dem Torhüter zu erzielen. Selbst wenn das zuvor verübte Vergehen, als Anlass für den Strafstoß, nicht zwingend eine Torchance einer vergleichbaren Größe zuzuteilen wäre.
Auch den Zuschauern bot dies ein Spektakel, insofern also ein kluger, zugleich wohlüberlegter und eben, wie gesagt, harmloser erster Schritt. Die damit eingeschlagene und hier für „falsch“ erklärte, Richtung, war damals für die wohlmeinenden Regelverfasser keineswegs abzusehen.
Wie hat sich die Sache nun entwickelt, so dass man überhaupt zu dem Urteil „Elfmeter ist die falsche Strafe“ kommen könnte? Nun: es gab irgendwann kluge Trainer, welche erkannten, dass es nicht so unglaublich viele zählbare Ereignisse in einem Spiel gibt und dass es Erfolg verspricht, wenn es einem gelingt, den Gegner an der Torerzielung zu hindern. Je häufiger diese Taktik zum Erfolg führte, umso mehr wurde sie kopiert. Die Zuschauer und deren Bedürfnisse wurden außer Acht gelassen. „Ein Tor reicht zum Siegen.“ Genau dann, wenn der Gegner eines weniger erzielt. Helenio Herrera und das berühmte Catenaccio.
Aufgrund dieser Entwicklung wurde ein Elfmeter immer mehr zur kritischen Entscheidung. In Zeiten, da es noch weder Live-Übertragungen (in dieser Vielzahl) und auch keine Schiedsrichterbeobachter gab, stellte es sich heraus, dass die Spielentscheidung nicht nur mit einem Elfmeter und dem daraus zu erwartenden Treffer relativ sicher zu erzwingen war, sondern auch, dass es eine gute Methode gab, einen solchen Elfmeter selbst zu „erzwingen“. Dies gelang in einer überragenden Vielzahl der Heimmannschaft. Diese hatte alle Zuschauer hinter sich, war traditionell häufiger – von den Fans angetrieben – im Vorwärtsgang, häufiger im gegnerischen Strafraum – und der Schiedsrichter nicht nur von Kameras und Beobachtern verschont, sondern zugleich dem Zorn der Zuschauer schutzlos ausgesetzt. Das heißt: er ließ sich in vielen Fällen zu einem Elfmeter hinreißen, welchem im Grunde die Voraussetzungen fehlten. Sprich: es gab tatsächlich die so genannten „Schwalben“, mit welchem Angreifer den schlichtesten aller Täuschungsversuche zum Einsatz brachten – und damit Erfolg hatten.
Da es immer häufiger ausreichte, mit dieser einen einzigen einen Sieg einzufahren, bekam also der Elfmeter mehr und mehr den spielentscheidenden Charakter. Die Stürmer jedoch konnten in vielen Fällen gar nichts dafür, dass diese eine Situation die Spielentscheidung herbeiführte. Es stand so in den Regeln, dass es für Foul im Strafraum Elfmeter geben sollte, egal, wie unangemessen diese Strafe auch im Einzelfall sein sollte. Stand ein Spieler mit dem Rücken zum Tor, in irgendeiner dem Tor fernen Ecke des Strafraums, und wurde dort dennoch gefoult oder zumindest grenzwertig am Trikot bearbeitet, gehalten, gezerrt, geschoben, gesperrt oder was auch immer so im Allgemeinen als „Foulspiel“ und „mit Freistoß zu ahnden“ in den Regeln steht und wie wenig Verwandtschaft die zu beurteilende diese Strafraumsituation mit einem freien Schuss aus elf Metern, ohne jegliche Beeinträchtigung auch hätte: man stand unter dem Generalverdacht, diesen Strafstoß so gut wie immer auch haben zu wollen. Die Schauspielerei wurde dem Angreifer unterstellt, ohne, dass er irgendetwas dafür konnte. Wird er gehalten, behindert, gezogen oder gezerrt, gesperrt oder sonstwie malträtiert: die ihm winkende Belohnung steht im günstigen Verhältnis zum Vergehen. Egal, ob er den Strafstoß tatsächlich haben wollte oder einfach so der Gegner sich an ihm ungebührend und eigentlich straftätig verging: der Tausch war ein für den Angreifer vorteilhafter. Wenn es den Strafstoß gab, dann sah man auch oft genug die Spieler ein wenig lächeln, schmunzeln, sich beglückwünschen, gar später hier und do sogar feiern: „Du hast uns einen Elfmeter rausgeholt! Klasse Aktion!“ Und jeder wusste: die gewaltige Aufwertung hat die ihr zugrunde liegende Aktion nicht verdient. Es ist zu viel des Lohnes. So wäre das nie ein Tor geworden, der Elfmeter ist weit mehr als ein halbes Tor.
So ging dies also Hand in Hand: es bestand ein Missverhältnis zwischen Straftat und dafür zugeteilter Strafe. Jeder Angreifer, der im Strafraum zu Boden ging, musste mit der bösartigen Unterstellung leben, dass er „diesen Elfmeter nur haben wollte“. Wenn er antworten müsste, nach bestem Wissen und Gewissen, so könnte nur herauskommen: „Ja, na klar wollte ich den haben. Es ist nun mal eine größere Torchance als jene, die ich ohne dieses Foulspiel gehabt hätte. Ändert aber nichts daran, dass das ein Foulspiel war. Und, zu meiner Entlastung gesagt: ich habe doch die Regeln nicht gemacht!“.
Genau an dieser Stelle wäre die Überschriftszeile bereits ausreichend mit Inhalt gefüllt: Elfmeter ist eben die falsche Strafe. Es ist in fast allen Fällen eine unverhältnismäßige Aufwertung einer Spielsituation.
Dennoch ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende: nur soll die Fortsetzung besser in einem zweiten Teil folgen?!