- Zürich zum Jahreswechsel 1985/1986
Eine meiner liebsten Anlaufstationen war Zürich. Nicht nur, dass ich in den Jahren vorher von Freiburg eine kurze Anreise hatte, die Stadt selber hatte für mich einen ausgesprochenen Charme. Darüber hinaus hatte ich es ja kennen gelernt durch das alljährliche, zum Jahreswechsel stattfindende Schachturnier. Dieses habe ich etliche Male, auch viel später noch, mit großer Freude und Begeisterung besucht. Vielleicht war man aber auch in der besonderen, weihnachtlich-winterlichen Stimmung zum Jahreswechsel, wo es einem auch an anderen Orten der Welt hätte gefallen können?
Das Turnier fand regelmäßig statt im Nova Park Hotel. Nun ist die Schweiz immer auffällig gepflegt, ordentlich, möchte man sagen. Sicher haben die Dinge auch ihren Preis. Man gab nicht etwa in Schweizer Franken aus, was man in Deutschland in DM ausgegeben hätte, was ja schon ausreichend teurer gewesen wäre (1 SF ca. 1.20 DM), sondern man musste noch weitere 20% mindestens dazu kalkulieren. Aber man bekam ja auch etwas zurück.
Im Nova Park Hotel war es der legendäre „Club of Clubs“. Es war eine Mischung aus Disko, Nachtbar, Restaurant, Spielclub und Kino. Es gab einfach alles dort. Von hübschen Frauen über Backgammonbretter, Tanzfläche, Musik, Filetsteak oder wunderbare Sessel, in denen man sogar den Ton vom ständig in einer Ecke laufenden Film per Kopfhörer hören konnte. Es war einfach höchst exklusiv. Ein Bier = 10 Schweizer Franken. Das war aber nur das erste, man hatte damit quasi den Eintritt bezahlt. 4 Franken fürs nächste waren immer noch happig.
Das erste Mal war ich im Jahre 1982 in dem Club. Dort hatte ich das Backgammonspiel zum ersten Mal gesehen. Und wer hatte da gegeneinander gespielt? Der Schwede Roland Ekström gegen Professor Yamboss, Dario Doncevic, den Deutschen Jugendmeister von 1977, Tausendsassa, in allen Spielen ein wahrer Champ (yamb, Schach, Backgammon und Bridge), nicht umsonst hieß er „Professor Yamboss“.
Roland Ekström dagegen hatte ich in Lugano das erste Mal getroffen, als wir eine Schachpartie damals gegeneinander spielen mussten. Die Partei endete nach dramatischem Verlauf Remis. In der nachfolgenden Analyse stellte man dann gleiche eine Form der Verbindung, Sympathie fest. Roland war 2,01 Meter lang, also ohnehin immer schon auffällig. Dazu aber hatte er etliche Eigenschaften, die ihn in vielerlei Hinsicht bemerkenswert machte. Wir wurden richtige Freunde. Aber Roland selber hatte nicht unbedingt so viele Freunde. Er war so eine Art wortkarger, kantiger Schwede, der ganz gern mal, skandinaviertypisch (ich und Vorurteile?) einen über den Durst trank und dann auch anderweitig auffällig wurde.
Ein paar kleine Anekdoten über Roland? Insgesamt wären sie beinahe allein stehend bereits Buch füllend, ich beschränke mich also auf ein paar Beispiele: Roland hatte ja selbstverständlich seinen schwedischen Akzent. Auch sein hochdeutsch wäre sicher nicht das beste, reine Deutsch gewesen, da er aber in der Schweiz lebte, sprach er das Deutsch also auch noch mit einer Mischung aus Schwedischem und schweizerischem Akzent. So viel nur vorweg.
Als wir in Lugano am Schachfestival 1986 teilnahmen, Dirk Maxion, Roland und ich, wurden wir von einer Grippe gepackt. Wir hatten unser Stammlokal, darin wir täglich unsere Mahlzeiten einnahmen. Die weibliche Bedienung war auch wirklich charmante, hübsch und sympathisch. Es ergaben sich täglich vertrauter werdende Gespräche. Als sie dann eines Tages voller Besorgnis unseren Gesundheitszustand bemerkte, so in etwa „Ach je, da hat es sie aber ganz schön erwischt“, Dirk und ich halbwegs moderat antworteten: „Ja, eine Grippe.“ Da ergriff Roland das Wort: „Und ich bin stolzes Vater von diese Grippe.“
Ein anderes Mal wurde ich auf einen Korb voller Getränke in seinem Wohnzimmer aufmerksam und fragte ihn, als ich sie bei einem späteren Besuch immer noch unberührt fand: „Roland, warum trinkst du denn das hier nie?“ da verwies er auf die Aufschrift auf den Fläschchen. Dort stand „analcoolico“. Er begleitete den Hinweis mit den Worten: „Das ist, warum ich nicht getrunken habe.“ Das klang mehr als einleuchtend. Es lag sicher nicht an der leichten Schlüpfrigkeit des Aufdrucks (anal…was?) sondern am fehlenden Alkohol. So war er halt, der Roland. Er bekam ja nicht ganz zufällig, man könnte beinahe sagen passend, den Spitznamen „Extremovitsch“.
Er hatte auch mal einen Goldhamster mit Namen „Cicero“. Und er sagte immer zu ihm: „Cicero, wolle Salate? Cicero, wolle wolle? Wolle Salate?“ Das prägt man sich einfach ein. Noch heute sage ich das zu unseren Meerschweinchen.
Roland war nicht nur auffällig groß, er war auch entsprechend schlank, eher müsste man sagen: dünn. Als ich ihn einmal wieder in der Ämtlerstraße 100 besuchte und keuchend die Treppen hoch stürmte in den 5.Stock, da hatte er auch für mich diese trostreichen Worte parat: „Das ist die Grund, warum ich bin so schlank.“
Als wir einmal bei wirklicher Eiseskälte den Weg zu Fuß in die Stadt zurücklegten, wobei man natürlich am Zürisee vorbeikam, der allerdings nicht zugefroren war, da habe ich mich doch um das Wohl der darauf schwimmenden Entchen gesorgt. Auf meine Frage: „Wie werden die sich jetzt wohl fühlen?“ hatte Roland auch wieder eine Antwort parat. In seiner Theorie sagten sie sich: „Schön warm heute, gell?“
Ich glaube einfach, niemand hat seinen Humor verstanden. Aber ich musste immer lachen. Es ging ja auch um die Art, wie er es immer aussprach.
Roland war also, wie sie den Geschichten schon entnehmen konnten, emigriert und Schweizer geworden. Ich habe ihn oftmals dort besucht. Es kam ja noch eine Kleinigkeit hinzu: In Zürich wurde wirklich relativ hoch Backgammon gespielt. Man fand dort immer eine Partie. Und Roland war ja auch ein Experte in dem Spiel. Wir teilten, was immer hereinkam. Nur einmal musste ich das bereuen: Da hatte er sich in wirklich richtig betrunkenen Zustand mit Thomas Lumper, einem sehr starken Spieler, hingesetzt und ein paar Partien gespielt (natürlich im Club of Clubs). Als ich das mitbekam, habe ich die Partie sofort abgebrochen für ihn. Roland hatte seine Steine nämlich bereits in die falsche Richtung bewegt. Da wurde es wirklich etwas schwer, noch zu gewinnen.
Anschließend, als wir das Lokal endlich Richtung Heimat verlassen wollten und er schon langsam ungeduldig wurde, sagte er: „Get your f***cking backgammon asses moving.“ Wie gesagt, er war auch sehr betrunken.
Für richtig Eingeweihte: Am nächsten Tag hatte er auch noch eine Rechtfertigung für sein Tun: Er meinte, „das ist gut für Backgame,“ Nun, ich kläre auch die weniger Eingeweihten gerne auf: Backgame ist eine Art Spielstrategie. Beim Backgame versucht man also, viele Steine nach hinten, also weit weg von ihrem eigentlichen Zielort zu postieren und dort für den Gegner ein paar Hindernisse aufzubauen, so dass dieser dort aufläuft. Man kann so wirklich teilweise recht effektiv gegnerische Steine abfangen. Die Strategie birgt aber allerhöchste Risiken, in vielerlei Hinsicht.
Also, wir verdienten eigentlich immer etwas, wenn ich in Zürich war. Dazu gefiel mir die Stadt einfach.
Zum Jahreswechsel 1985/86 hatte ich ihn also wieder mal besucht. Wir haben aber nicht einmal das Schachfestival mitgespielt. Wir wollten nur Backgammon spielen. Und es gab ein wunderbares Café im Herzen von Zürich, wo wir uns täglich aufhielten. Am besten dort: „Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti.“ Ein Gaumenschmaus für mich Banausen. Dazu gab es halt immer Backgammon Partie und meistens sogar Gewinn.
Am Sylvesterabend hatten wir diesmal anderes vor. Wir machten so eine Bummel durch Zürich, besuchten eine Bar nach der anderen. Und kamen tatsächlich ins Gespräch mit zwei Mädchen. „Meine“, wie man alsbald feststellte, hieß Carla. Sie kam nicht direkt aus Zürich. Carla war hübsch, klein, ich mag klein, und so richtig fröhlich (waren das etwa alle an diesem Abend?) Aber wir haben tüchtig mitgefeiert zum Neujahr und noch die halbe Nacht in diversen Bars verbracht. Anschließend gingen wir auch tatsächlich alle vier in die Ämtlerstraße 100, Rolands Wohnung. Ob Carla das auch nur wegen des gestiegenen Alkoholpegels getan hat? Jedenfalls war der Rest der Nacht so, dass es einen Kavalier zum Schweigen verurteilt. Nur bin ich keiner. Es war wunderschön.
Ich bekam auch ein paar Tage später einen einparfümierten Brief von ihr, der von wahrer Herzlichkeit und Romantik getragen war. Zu meinem größten Bedauern und ohne erfindlichen Grund haben wir uns trotzdem nie wieder gesehen.
Ach, jetzt muss ich noch etwas voraus und hinterher schicken: Wie bin ich eigentlich nach Zürich gelangt? Das war so: Ich habe mir einen uralten Audi „gekauft“ von einem Bekannten. 400 DM waren der Preis. Es funktionierte so ziemlich alles an dem Auto. Zumindest das, was man zum Fahren braucht, also der Motor und das Gaspedal. Mag sein, dass es sogar die Bremsen getan haben, ist sogar sehr wahrscheinlich. Und der Rest? Na ja.
Diese uralte Klapperkiste hatte aber ihren Dienst geleistet. Ich bin angekommen. Nun war es so, dass am auf Neujahr folgenden Wochenende, genauer gesagt am Sonntag, ein Backgammonturnier in Frankfurt stattfinden sollte. Ich war im Backgammonfieber. Das sowieso. Außerdem geschah etwas mit dem Spiel. Es begann ein kleiner Boom. Erst das Turnier in Hamburg, jetzt Frankfurt, also ich wollte unbedingt, nein, ich musste dabei sein. Was hätte mich abhalten können?
Ja, es war die langjährige „Verpflichtung“, die ich mit meinem Schachclub eingegangen bin. Immerhin wurde ich ja auch immer noch bezahlt für das Spielen in der 1.Bundesliga. Ich spielte noch (wieder) für meinen Heimatverein Lasker Steglitz. Und am gleichen Wochenende war Bundesliga.
Ich habe meinen Mannschaftsleiter angefleht, nur dieses eine Mal auf mich zu verzichten. Ich verwies sogar darauf, dass andere Mannschaftsmitglieder ihre Verpflichtung nicht ganz so ernst nahmen und es hier und da auch anderweitig Absagen gab. Er ließ sich nicht erweichen. Ich müsse spielen.
Natürlich hätte die Möglichkeit bestanden, einfach nicht zu kommen und basta. Aber Albrecht Colditz, der Mannschaftsleiter, war ja auch so lebenslang ein väterlicher aber richtiger Freund. Wir einigten uns auf einen Kompromiss: Ich würde am Sonnabend spielen. Da hätten wir ja auch den leichteren Gegner, König Frechen, die wir unbedingt schlagen mussten. Am Sonntag hätte die SG Köln Porz auf uns gewartet, gegen die wir sowieso fast chancenlos wären. Da könnte ich dann pausieren. Aber Albrecht musste eines wissen: Am Sonntag wäre ich weg. Es musste ein Ersatzmann mit.
Also am Donnerstag Nachmittag brachen Roland und ich auf. Klar, Roland wollte auch mitspielen in Frankfurt, beim Backgammon. Außerdem war er natürlich ebenfalls ein sehr starker Schachspieler. Warum am Donnerstag Nachmittag? Naja, wir hatten noch ein paar Zwischenstationen eingeplant…
- Nach Köln über ein paar Zwischenstationen
Zunächst mal war es der besagte kalte Winter, in dem die Entchen so schwitzten. Warum erwähnenswert? Mein Wagen startete einfach nicht. Wir brachten allmählich in Erfahrung, dass es am eingefrorenen Kühlwasser lag. Wir mussten irgendeine Werkstatt aufsuchen, ohne Auto, die dann eine Lösung für uns fand. Mittlerweile war es Abend.
Aber der Wagen fuhr. Zunächst brachte uns unsere Reise nach Freiburg, na klar. C. wartete schon mit ein paar Freunden. Zunächst mal wurden ein, zwei Bier getrunken (zumindest ich „nur“) und dazu ein zünftiger Dreizettler gerollt, also yamb gespielt. Das dauerte schon mal gut und gerne drei Stunden.
So gegen Mitternacht ging es dann weiter. Ich hatte noch einen Abstecher nach Karlsruhe versprochen, denn auch da hatte man mittlerweile ein paar Freunde. Bei ein paar Blitzpartien und höchstens zwei weiteren Bieren habe ich mich sozusagen auf das Schachwochenende „vorbereitet.“ Mein Gegner? Der Hajo Vatter.
Als auch diese Kneipe schloss, stand der Weiterfahrt nach Köln höchstens noch die 0,8 Promille Grenze im Wege. Die wurde schlichtweg ignoriert. Ich fuhr einfach los. Roland hatte keinen Führerschein, oder doch? Wissenszuwachs durch Weiterlesen…
Karlsruhe – Köln sind vielleicht 300 km. Also nicht all zu viel. Aber es war bereits spät nachts und meine alte Kiste gab auch nicht all zu viel her. Und meine Augen wurden auch nicht gerade leichter, zumal ich Schnarchgeräusche neben mir wahrnahm.
Meine Strategie sah dann so aus: An einem Parkplatz bin ich rausgefahren, weil die Augen zufielen. Dann bin ich kurz eingenickt. Aber nach wenigen Minuten wurde es so eiskalt, dass man einfach wieder aufwachte. Weiter zum nächsten Parkplatz. Die nächsten 5 Minuten Schlaf. So arbeiteten wir uns vorwärts bis wir schließlich so gegen 9 Uhr morgens in Köln eintrafen.
Das Hotel zu finden war kein Problem. Ich war ja etliche Male vorher schon in Köln. Außerdem lag das Hotel so wie auch der Spielort in Köln-Porz-Wahn. Also fast direkt am Flughafen. Und wir hatten sogar noch mehr Glück: Die Zimmer waren auch am Vormittag schon bezugsfertig. Wir nahmen also ein Frühstück ein. Schon bei Ankunft hatte ich so merkwürdige Geräusche gehört, die anscheinend aus meiner Matratze kamen. Ich musste nach dem Frühstück dringend mal daran horchen gehen. Es war ja bei genauer Rechnung Freitagvormittag und von meinen Schachkollegen fehlte noch jede Spur. Sie fuhren erst am Nachmittag los.
- Die freundlichen Kölner Beamten
Als es bereits wieder allmählich dunkel wurde und Roland und ich uns zu langweilen begannen, hatten wir eine Idee: Aufbruch nach Köln Innenstadt. Ich kannte da von früheren Besuchen her eine Disko, die ich gerne besuchen wollte. Wir fuhren also nach Köln hinein. Zunächst mal wurden wir an der berühmten Rheinbrücke von zwei überkritischen Beamten angehalten. Die waren der Meinung, dass es nicht ratsam wäre, ohne Bremsleuchten oder was auch immer es war, herumzufahren. Wie kleinlich. Die ersten 20 DM Strafe wurden fällig.
So ganz beiläufig erkundigten sich die Beamten noch nach meiner Fahrerlaubnis. Ich kramte in allen Taschen, sie war nicht aufzutreiben. Plötzlich fiel es mir ein: Ich hatte sie wirklich im Hotelzimmer liegen gelassen. Die Beamten waren zu keinerlei Kompromissen mehr bereit: Das Auto bleibt hier stehen. Die Fahrerlaubnis muss zunächst besorgt werden.
Aber, wie sagt man doch so schön? Die Polizei, dein Freund und Helfer. Sie hatten plötzlich eine Idee für uns: „Hat denn ihr Freund keine Fahrerlaubnis?“ Roland schüttelte zunächst den Kopf. Er hätte zwar eine, aber die galt nur für 10 Jahre und wäre eine schwedische. Die Beamten ließen nicht locker: „Ja, zeigen Sie doch mal.“ Roland kramte einen uralten Fetzen hervor. Immerhin war das Foto noch nicht gänzlich vergilbt. Wie die Beamten darauf kamen, dass es sich um eine Fahrerlaubnis handelte, bleibt wohl ihr Geheimnis. Oder sprach einer der beiden Schwedisch?
Jedenfalls gaben sie sofort ihr ok. „Ja, dann können Sie doch das Auto fahren.“ Nun gut, ich sendete ein paar Gebete gen Himmel, erörterte dann Roland in kurzen, groben Zügen, was ein Gaspedal und was eine Kupplung ist, wo sich die Schaltung befindet, das runde da ist das Lenkrad, hier der Blinker und so weiter. Aber man merkte sofort, dass er schon mal ein Auto gefahren war, so ist es nicht. Die Art und Weise, wie er den Wagen immer wieder abwürgte deutete auf einige Routine hin. Er rührte immer sehr aufmerksam in der Schaltung herum, und blieb dann zum Anfahren meist bei Rückwärtsgang oder dem 4. hängen. Nun ja.
Aber wissen Sie, was unsere Mission war? Die Beamten fuhren im Auto vor uns. Wir mussten hinter ihnen herfahren. Zielort: Das Hotel. Denn ich musste natürlich meine Fahrerlaubnis trotzdem nachweisen, sonst wäre die Strafe wesentlich härter ausgefallen. Abgesehen von der Weiterfahrt. Das nenn ich mal Deutsche Bürokratie. Auf der Fahrt wollten Sie wohl Rolands Fahreignung auch noch auf die Probe stellen: Am Autobahnkreuz fuhren sie mehrfach im Kreis, immer wieder rauf auf die Autobahn, runter von der, rauf auf die andere, wieder runter von der und wieder zurück auf die richtige. Oder hatten sie selber kurzzeitig die Orientierung verloren? War es ein Test, wann wir die Nerven verlieren würden und einfach ausbüchsen, woraufhin sie uns sicher eine Verfolgungsjagd geliefert und anschließend in den Knast gesteckt hätten? Jedenfalls sagte Roland, nach dem dritten Mal: „Wie ist das möglich?“
Die weiteren 10 DM Strafe für „Nichtmitführen der Fahrerlaubnis“ haben wir dann auch noch berappt, als wir am Hotel ankamen. Roland hatte quasi seine eigene Führerscheinprüfung auch bestanden (ohne Zertifikat), die Beamten waren mit ihren Werken zufrieden und verabschiedeten sich wieder. Alles hatte seine Ordnung. Deutsche Gründlichkeit eben. Und wir brachen ein zweites Mal auf Richtung Köln Zentrum.
- Wo gibt’s heutzutage noch Straßenbahnen?
Wir suchten uns dann erstmal ein Restaurant, um eine warme Mahlzeit einzunehmen. Es wurde jetzt so richtig Abend. Ich näherte mich anschließend irgendwie eher intuitiv der Disko. Wie hat man früher ohne Navi nur immer alles gefunden? Jedenfalls klappte es. Ganz spontan sah ich dann die richtige Straße. Ich bog unwillkürlich ab und überquerte die sicher so wie in Berlin noch teilweise als Makulatur und noch nicht entfernten Straßenbahnschienen. Oder „überquerte“ ich wirklich? Ich habe bis heute noch Rolands Aufschrei in den Ohren: „Häbäbäbäbäb.“ Und was immer das auf Schwedisch heißen mochte, es signalisierte irgendwie merklich Gefahr. Nur war es zu spät. Das Klingeln konnte ich gerade noch wahrnehmen, dann hatte mir doch tatsächlich diese dämliche Straßenbahn ganz handfest und unverrückbar den Weg versperrt. Oder war es eher ich ihr? Jedenfalls ging, wie im schlechten Film, die Hupe an, oder war das doch nur in meinem Kopf? Jedenfalls klebte mein Kopf an der Seitenscheibe. Die Frontscheibe war mir auf den Schoß gefallen, wozu brauchte man die auch noch?
Ein bisschen Schock, ein bisschen Kopfverletzung, ein bisschen Trance in den nächsten Sekunden oder Minuten. Zum Sprechen war ich nicht so recht fähig, als mich der Krankenwagen ins Krankenhaus brachte. Roland begleitete mich, er war unversehrt. Der Kopf wurde blitzschnell geflickt, die obligatorischen Tests, um das Auftreten einer Gehirnerschütterung auszuschließen, wie immer negativ, mein Kopf hat ja schon einige „Crashtests“ bestanden, schon konnten wir weiter.
Wir begaben uns in einem kurzen Fußmarsch direkt zurück an den Unfallort. Die Unfallstelle war fein säuberlich geräumt. Kein Blechteil, keine Blutspuren. Nur einen Blechhaufen fanden wir. Nämlich mein Auto. Das stand aber, ganz ordentlich, am Straßenrand. Den Autoschlüssel hatte ich wohl vorsorglich abgezogen nach dem Unfall, ich hatte ihn folglich in der Tasche. Wir stiegen ein ins Auto. Beziehungsweise versuchten wir es. Die Glassplitter hielten uns davon ab. Nun, einfache Lösung, sie werden, so weit bei Dunkelheit möglich, entfernt. Die Frontscheibe war bereits „entsorgt“. Jetzt der spannende Moment: Würde das Auto anspringen?
Es sprang an! Ich fahre noch heute Audi. Es rollte sogar los. Kein platter Reifen, keine schleifenden Blechteile, die seitliche Verbeulung nahmen wir gerne in Kauf. Allerdings, wie bereits erwähnt, war es ein recht strenger Winter, auch in Köln. Und die Heimfahrt führte immerhin ca. 20 km über die Autobahn. Wenn Sie mal einen echten Härtetest machen wollen, dann rate ich Ihnen: Bei –10 Grad Celsius ohne Frontscheibe Autobahnfahren. Dann stellt sich nur permanent die Frage: Doch mehr Gas geben und noch schlimmer frieren oder langsam fahren und dafür etwas weniger, aber länger frieren? Wir entschieden uns für die Männerversion. Kurz aber heftig.
- Eine Schachpartie
Wir kamen also in gewisser Weise unversehrt und wohl gelaunt wieder im Hotel an. Wenn man von den vier Geldstrafen (der Schaden an der Straßenbahn kostete reichlich; meine aufaddierten Verkehrsvergehen selber auch noch), der Platzwunde, dem Schrottauto und der Schockfrostung mal absieht, gab es auch absolut nichts, was einem die Laune hätte verderben können.
Meine Mannschaftskameraden waren mittlerweile eingetroffen. Sieben an der Zahl. „Wo ist denn der Ersatzmann für mich am Sonntag?“ „Was für ein Ersatzmann? Du spielst doch am Sonntag?“ Tja, so war das mit den Absprachen. Die Leute waren der festen Überzeugung, einen absolut verrückten Schachenthusiasten vor sich zu haben, wie sie ihn noch aus dessen Kindheit kannten. Aber damit war es vorbei.
Am nächsten Tag hatten wir den wichtigen Kampf gegen König Frechen. Ich hatte einen wirklich schwachen Gegner, zumindest auf dem Papier. Ich verlor auch sang- und klanglos. Die Mannschaft fuhr einen einfachen Sieg ein, ich war der einzige Verlierer. Ich schiebe das auf keinen Fall auf die vorabendlichen Geschehnisse. Ich war einfach schlecht.
Roland und ich hatten aber am Sonnabendvormittag noch zwei andere Missionen: Das Auto zum Schrottplatz bringen (und man stelle sich vor: der Schrotthändler hat uns den Wagen gratis abgenommen, so hoch schätzte er den Schrottwert!) und zum nahe gelegenen Flugplatz. Wir hatten Flug gebucht und Tickets gelöst. Der Flug nach Frankfurt ging Sonntag früh um 6:30. Das Turnier begann um 10 Uhr. Ich hatte auch gar nicht mehr geplant, meine Mannschaftskameraden davon zu unterrichten. ich war ein bisschen sauer. Außerdem hatte ich ja längst am Telefon gesagt: Ich spiele nur Sonnabend.
- Wer ist Tony Miles?
Der ganze Sonnabend aus meiner Sicht ist relativ schnell erzählt: Aufstehen um 5 Uhr, Sachen gepackt, Taxi zum Flughafen (für 5 DM, so kurz war die Strecke), Abflug um 6:30, Ankunft in Frankfurt, Aufbruch zum Turnierort, ein ausgiebiges Frühstück unterwegs, Teilnahme am Turnier.
Die Szenen, die sich in Porz abspielten, kann ich nur Augenzeugenberichten entnehmen. Unser Gegner hieß SG Köln Porz. Das war eine der Top Adressen (wenn nicht gar die -) im deutschen Schach. Klar, dass man an den Spitzenbrettern mit Top Gegnern rechnen musste beziehungsweise diese garantiert waren. Ich schätze mal, dass eine ganze Menge, auch enthusiastischer, aber auch Hobbyspieler, starke bis sehr starke, sich danach gesehnt hätten, einmal gegen einen Top Großmeister der Welt zu spielen. Und zu diesen gehörte Tony Miles (Gott hab ihn selig) in der Zeit zweifellos. Ich habe sicherheitshalber das Internet befragt. Es gab mir mal wieder Auskunft: Seine höchste Elo-Zahl betrug 2610. Diese hatte er im Jahre 1986 (!) erreicht und war damit die Nummer 9 der Weltrangliste.
Tony hatte mich ja auch am Vortag gesehen. Abgesehen davon war es in der seit 1980 ausgetragenen 1. Bundesliga bis zu diesem Tage noch überhaupt nicht passiert, dass eine Partie kampflos entschieden wurde (das hat nur mein Idol Bobby Fischer im Weltmeisterschaftskampf gegen Boris Spasskiy in der zweiten Partie gemacht; apropos Vorbild; aber Bobby konnte sich das leisten).
Jedenfalls wurde mir berichtet, dass Tony irgendwann mal gefragt hätte, wann ich denn käme? Weil er ein wenig irritiert war ob der Geringschätzung. Auch meine Mannschaftskameraden konnten ja keine verlässliche Auskunft geben. Nur so viel, dass mein Hotelzimmer leer war und ich auch beim Frühstück nicht erschienen war. Die Uhr tickte runter, nach einer Stunde, der so genannten „Karrenzzeit“, wird die Partie dann als verloren gewertet. Schuld war nicht ich. Es war der Mannschaftsleiter. Er hatte mich nicht ernst genommen. Oder: Wenn man es auf schachlichem Wege nicht schafft, berühmt zu werden, müssen eben andere Mittel herhalten. Allerdings nennt man diese Form der erlangten Berühmtheit auch gerne mal „traurig“.
- Frankfurt
Das Turnier in Frankfurt lief wesentlich besser für uns. Wir hatten ja ohnehin Teilung der Preisgelder vereinbart. Und Roland erreichte tatsächlich das Finale im Jackpot (auf ihn war auch immer Verlass). Ich habe aber auch einen kleinen Preis erhalten, weiß aber nicht mehr, wofür.
Ich wurde Augenzeuge des Finales. Roland war klar auf der Siegerstraße. Die entscheidende Partie. Nur noch 9 Steine zum Ausspielen. Dann der unsägliche Wurf: Pasch 2. Roland hatte nur eine mögliche Ausführung. Es war der schlechteste Wurf, mit großem Abstand. Er ließ einen Schuss, noch dazu war die Stellung ruiniert. Der Gegner traf, gewann die Partie und das Match. Platz 2: 1000 DM, Platz 1: 2000 DM. Das war der Unterschied. 1000 DM für einen solchen Horrorwurf. Wir waren irgendwie glücklich und traurig zugleich. Die Höhe der Geldpreise waren eine andere Dimension als im Schach. Einen Preis von 1000 DM gab es im Schach nicht so ohne weiteres. Nicht an einem Tagesturnier. Aber es war ja sogar noch mehr drin, beim nächsten Turnier vielleicht?
Wir hielten uns noch ein paar Tage in Frankfurt auf. Das legendäre Frankfurter Schachcafé mussten wir einfach mal besuchen. Dazu gab es das berühmte „whorehouse“, was Roland fortan doch ziemlich regelmäßig besuchte. Ich hatte auch meinen Auftritt dort: Eine wirklich attraktive junge Frau an der Tür, ich trat zu ihr ein, gab ihr die 30 DM, ließ mir alles erklären, was man wie machen würde, dürfe, und was nicht, und verließ das Zimmer wieder. Ehrlich! Also wirklich ganz ehrlich!! Supersupersuperehrlich!!! Ehrenwort. Es war so, will ich damit sagen.
Ok, ich habe geschwindelt. Diese wertvollen Auskünfte einzuholen hat in Wahrheit 50 DM gekostet. Von wegen, 30 DM, in so einem exklusiven Etablissement, und das in den 80ern. Ok, ertappt.
Abgesehen davon musste ich an dieses Mädchen wirklich häufiger denken, wenn ich mal nicht einschlafen konnte, wenn Sie verstehen, was ich meine… Weil, sie war wirklich sexy.
Wenn es Ihnen übrigens allmählich unheimlich vorkommen sollte, dass ich immer wieder von den von mir besuchten Städten schwärme, zwei Anmerkungen zur Beruhigung: Ich habe natürlich bevorzugt die Städte angesteuert, in denen es mir gefiel. Und: Frankfurt zählt garantiert nicht dazu.