Dies ist eine durchaus interessante Regel, wie man vielleicht erst auf den zweiten Blick feststellen wird. Zunächst mal sei erwähnt, dass auch diese Regel – als zweite neben der phantastischen aber leider in der Praxis nie so angewandten Regel, bei Abseitssituationen im Zweifel zugunsten des Angreifers auszulegen – von den USA zur WM 1994 durchgesetzt und eingeführt wurde. Sofern man Zweifel an der Kompetenz dieser völlig Fußball fremden Nation, den USA, hegt, so möge zur Zerstreuung derselben die Ansicht eines Fußballspieles vor der Einführung dieser Regel betrachtet werden.
Es ist teilweise eine Farce, was man da zu sehen bekommt und bei ausreichend gutem Einsatz sämtlicher Fähigkeiten aller Beteiligten können die Bedenken, auf die gesehene Art einen Vorsprung bei verbleibender Restspielzeit selbst von 20 Minuten über die Zeit zu schaukeln relativ leicht aus der Welt geschafft werden: Man kann beinahe unendliche Sequenzen beobachten, in denen der Torwart einen Ball zu einem beliebigen Feldspieler seiner Mannschaft abwirft oder abrollt und dieser – aufgrund der tatsächlich stattfindenden Attacke eines Gegenspielers — diesen Ball direkt wieder zum Torwart zurückspielt. Der dann angegriffene Torwart lässt, zur Demonstration der absoluten Souveränität und Kontrolle der Lage, den Angreifer bis auf wenige Zentimeter an sich herankommen – und greift erst dann den vor ihm liegenden Ball mit den Händen wieder auf. Danach wiederholt sich die Prozedur. Ausschließlich eine gewisse Form von Anstand hat zu jener Zeit der Tatsache, dass es möglich ist, dass Fußball spielen auf diese Art komplett zu unterbinden, im Wege gestanden. Nach dem dritten Durchlauf entschloss sich der Torhüter, den Ball weit abzuschlagen – ohne jegliche Notwendigkeit.
Insofern war die Einführung dieser Regel nicht nur wünschenswert, sondern, im Spiegel der Zeit betrachtet, ein definitives „Muss“. Dass die USA schon damals so weit waren, zu erkennen, dass es eine Notwendigkeit ist, ohne einen tieferen Einblick von Hause aus zu haben spricht Bände – nämlich für ihre Weitsicht und ihr Verständnis, die Zuschauerinteressen in den Vordergrund zu stellen.
Auf der anderen Seite hat ausgerechnet diese Regel (mindestens) einen Haken wie man bei noch genauerer Hinsicht heute recht einfach feststellen kann. Dazu muss man aber die Historie, welche, die intuitive Intelligenz der Spieler mit einbeziehend, eine gewisse Entwicklung mit sich brachte. Die Spieler (und Trainer) müssen nicht nur lernen, mit der Regel selber umzugehen, sondern auch mit der Art ihrer Auslegung und Anwendung, wie üblich. So ergibt sich irgendwann eine gewisse Einigkeit, von allen Seiten, wie sie zu agieren haben.
Kurios war eine der ersten Szenen nach Einführung der Regel: Im Regelwerk wurde ausdrücklich vermerkt, dass es nur um Rückspiele mit dem Fuß ginge, bei denen der Torwart das Recht verliert, den Ball mit den Händen aufzunehmen. Ein pfiffiger Verteidiger (aus der Erinnerung: er spielte für Fortuna Köln) war einigermaßen unbedrängt, wusste von der exakten Regelformulierung, ging also, in der Absicht, keinen Regelverstoß zu begehen, in die Knie und kickte den Ball mit selbigem zu seinem Torhüter zurück. Dieser nahm den Ball mit den Händen auf, wonach es dem Schiri nicht möglich war, dem Torhüter eine Regelverletzung anzukreiden. Jedoch entschied er spontan, dass der Verteidiger Unrecht begangen hatte und zeigte diesem die Gelbe Karte. Die Regeloffiziellen erkannten die Lücke in der Formulierung und ergänzten etwas, um ein solches Verhalten auszuschließen.
Nun kam eine zweite Phase, in welcher die Regel „abgeklopft“ wurde. Die Torhüter, welchen gemeinhin eine geringere Ballfertigkeit unterstell wird – sicher nicht völlig zu Unrecht – wurden von Angreifern attackiert, nachdem ihnen ein Ball zugespielt wurde. Nun gerieten als Folge einige Torhüter in Panik und droschen den Ball nur weg. Sie durften ihn nicht mehr – der alten Gewohnheit folgend – mit der Hand aufnehmen und noch waren andersartige Fähigkeiten nicht ausreichend trainiert. Der Ball wurde dann, da er unkontrolliert nach vorne geschlagen war, oftmals postwendend zurückgespielt, von einem von diesem Zufall profitierenden Gegenspieler. Nun aber stellte sich heraus, dass der den Torhüter attackierende Spieler so weit aufgerückt war, dass er im Abseits stand. Er hatte zwar theoretisch erfolgreich den Ballverlust provoziert aber durch das weite Aufrücken – welches ja erforderlich war, um Druck auf den Keeper auszuüben – ein Ausnutzen des Ballverlustes unmöglich gemacht.
Hm, also schien auch dieses Verhalten ungeeignet, zumindest, wenn man sich mit Torerzielungsabsichten befasste. Die Angreifer wurden wieder ruhiger, da ein direktes Ausnutzen der Spielsituation auf diese Art nachweislich nicht in Frage kam. Eventuell Balleroberung, ja, das geht. Aber ein Tor erzielen? Nein, so weit kommt es noch. Also, wenn es sich anbietet attackiert man zwar, aber nur, um ganz eventuell den Ball für das eigene Team zu erobern. Denn parallel dazu entwickelten ja auch die Torhüter ein gesteigertes Verständnis und gut möglich, dass auch Torwarttrainer sich veranlasst sahen, an den technischen Fähigkeiten der Betreuten zu arbeiten.
Nun begann eine neue Zeitrechnung. Diese bestand für alle Beteiligten darin, einen angemessenen Umgang mit der Regel zu finden. Natürlich war es eine Art Reflex für den Torhüter, den Ball, sofern mit dem Fuß zu ihm zurückgespielt und einigem Druck ausgesetzt, diesen niemals mit der Hand aufzunehmen sondern ihn stattdessen ins Feld zurückzuschlagen, gegebenenfalls, bei besonderen Drucksituationen, gar ins Aus. Aber aufnehmen? Nein, das tat man nicht. Denn das hätte ja einen indirekten Freistoß zur Folge.
Allerdings stellt man nach und nach fest, dass die Schiris durch längere Abstinenz der Anwendung der Regel allmählich aus dem Gedächtnis verloren, wie sie überhaupt funktioniert. Ein Torwart nahm den Ball eben nicht auf, sofern er mit dem Fuß zurückgespielt war. Diesen Umstand begannen nun ihrerseits die Torhüter auszunutzen. Sprich: Wenn ein Ball von einem Fuß doch zurückgespielt wurde, konnte man ihn unter gewissen Umständen doch aufnehmen. Hier war das Stichwort: Kontrolliert. Hatte ihn der Verteidiger überhaupt kontrolliert zurückgespielt?
Nun begann es, dass sich eine Grauzone installierte. Der Torwart war oft genug ratlos, ob der Ball als kontrolliert zurückgespielt gelten würde, falls er ihn aufnähme? Würde der Schiri also das händische Aufnehmen des Balles ahnden, sofern er es täte? Diese Hürde wurde durch allmähliches Herantasten bewältigt. Ein Torwart hatte ein paar recht einfache Gedanken im Kopf: „Wenn ich diesen Ball aufnehme, kann es eigentlich nicht als Rückspiel gelten, da der Ball doch ziemlich unkontrolliert berührt wurde. Ich versuche es mal.“ Der Ball wurde aufgenommen, der Schiri war vielleicht für einen Moment irritiert, entschied jedoch auf Weiterspielen.
So kam es, dass die Torhüter sich allmählich bis dahin herantasteten, dass eigentlich gar nichts mehr als Rückpass eingestuft wird, sofern sie den Ball nur mit der Hand aufnähmen. Die Entscheidung über kontrolliert oder unkontrolliert obliegt dem Torhüter höchstselbst. Falls er ich aufnimmt, war es offensichtlich kein Rückpass. Denn: Wer wäre schon so blöd, dem Gegner einfach so, ungehindert, unerzwungen, einen Freistoß – meist aus gefährlicher Position – zuzugestehen? Nein, so dachte wohl der Schiri. Der Torhüter, der den Ball aufnimmt, hat es sicherlich nur deswegen getan, weil es sich nicht um ein – laut Regel für die Ahndung erforderliches – kontrolliertes und beabsichtigtes Rückspiel gehandelt hat.
So kam also die Zeit, wo gar kein Freistoß mehr ausgesprochen wurde aufgrund eines Rückpasses. Die Schiris lassen grundsätzlich laufen, es kann gar nicht mehr geahndet werden. So einen Regelverstoß gibt es nicht. Jeder Torwart weiß, dass er den Ball nicht aufnehmen darf, wenn er mit dem Fuß kontrolliert und beabsichtigt zu ihm gelangt, also nimmt er ihn nur dann auf, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind. Der geneigte Leser möge gerne in der Erinnerung nach derartigen Verstößen fahnden. Die Suche verläuft – fast – ergebnislos.
Denn es gab diesen einen praktischen Fall: Die deutsche Meisterschaft 2002 war seit etwa 3 Minuten entschieden. In Schalke jedenfalls wurde ausgelassen gefeiert. Ein unfassbarer Triumph, der dort alles in den Schatten gestellt hätte oder hatte. Dann nahm im doch noch nicht beendeten Spiel in Hamburg, gegen Bayern, HSV-Torhüter Schober einen Rückpass auf, direkt an der Torauslinie. Es war kein kontrolliertes Rückspiel, zumindest keines, was mehr Ahndung verdiente als irgendeines von 50 anderen während der Saison gespielten zuvor – die allesamt ungeahndet blieben. Das ist die Krux an der Sache: Wieso wurde ausgerechnet diese Meisterschaft entscheidende Szene nur in diesem einen Falle so ausgelegt, wie es möglicherweise zwar richtig, regelkonform, vertretbar, was auch immer war? Genau das hätte Schalke mit einigem (Gewohnheits-)Recht den Offiziellen ankreiden können.
Sie befanden sich nach dem aus dem indirekten Freistoß in Hamburg resultierenden Ausgleichstor und der dadurch verlorenen Meisterschaft längst in Agonie. Dort, wo der abgebrochene, im Halse stecken gebliebene Jubel für solche Unfassbarkeit, Ungläubigkeit, für so viele Tränen gesorgt hatte, war man schlichtweg sprachlos. Und einem anderen Organ hätte man nicht zugehört, den Betroffenen aber die übliche „schlechte-Verlierer-Mentalität“ übergestülpt. Weniger wahr ist die Anmerkung davon aber nicht: Man kann eigentlich nicht ein einziges Mal in einer Saison (bitte, gerne werden anders lautende Recherche Ergebnisse zur Kenntnis genommen) einen Rückpass als illegal abpfeifen ausgerechnet dann, wenn er über die Meisterschaft entscheidet. Nein, das geht nicht. Da muss eine andere Methode dahinter stehen. Selbst wenn in diesem einen Falle die Entscheidung als „regelkonform“ eingestuft wurde – und auch sein mag. Dass der (indirekte) Freistoß damals aber von Verteidiger (!) Andersson (nach Ablage) versenkt werden musste, darf getrost als Jahrhundertereignis in die Geschichte eingehen.
Eine andere Szenenbeschreibung wurde leider in der Praxis bisher von Autorenseite noch nicht beobachtet, das Ergebnis, wie Torhüter, Medien und Regelkommissionen reagierten, würde aber mit Spannung erwartet werden. Hier die Spielsituation:
Ein Rückpass wird klar erkennbar mit dem Fuß und absichtlich zum Torhüter zurückgespielt. Aus welcher Drucksituation heraus möge zunächst offen bleiben. Allerdings ist der Ball so ungenau gespielt, dass er Richtung Tor anstatt zum Keeper geht. Dieser hätte nun nur eine einzige Möglichkeit, den Ball vom Überschreiten der Torlinie abzuhalten: Mit den Händen. Sei es, dass er unter Umständen zu hoch ist (ein springender Ball, der dennoch beabsichtigt und/oder kontrolliert gespielt wurde), dass er den Torhüter passiert hätte und er nur noch mit Hechtsprung hinterher kommt, oder es irgendwie anders zustande kommt, ist ebenso zunächst irrelevant. Er hat einen Rückpass mit der Hand gespielt, vorsätzlich, als einzige Möglichkeit, ein Gegentor zu verhindern.
Wie würde der Spielleiter nun reagieren? Es ist alles klar an der Situation. Die Behauptung ist natürlich hier, dass er nicht auf Freistoß entscheiden würde. Die üblichen Gründe wären dafür hauptverantwortlich. Jedoch würde er ebenso rasch wie er auf Weiterspielen entscheidet, sich eine Rechtfertigung dafür überlegen. Vermutlich wäre es diese: „Wie soll man den von einem kontrollierten Rückpass sprechen, wenn der Ball so ungenau gespielt ist, dass er nicht einmal zum Torwart kommt?“
Das wäre die eine Seite der Medaille, praktische Beispiele wären interessant in diesem Zusammenhang. Die andere Seite wäre die, wie die Medien darauf reagieren. Weil: Einerseits wird sich mit Sicherheit auf dem Feld der eine oder andere Spieler der gegnerischen Mannschaft beschweren, andererseits kann eine solche Szenen ohnehin nicht an den Kameras und einer Kommentierung vorbei. Sicher würden etliche Verantwortlich dazu befragt werden, der Verteidiger würde erklären, dass er nur aufgrund der Attacke des Gegenspielers den Ball nicht ordentlich hinbekommen hätte, der Torhüter wird sich darauf berufen, dass er gar keine andere Chance gehabt hätte und in dem Moment nicht weiter nachgedacht hätte – abgesehen davon, dass er natürlich, für jedermann verständlich, keine bessere Chance hätte, ein Tor zu verhindern, denn, selbst wenn gerechtfertigt, wäre der indirekte Freistoß noch lange kein Tor – und der Schiri sagt, was er sich weiter oben ausgedacht hat.
Die Regelmacher würden eine längere Analyse der Spielszene anstellen und vermutlich feststellen, dass er eigentlich hätte pfeifen müssen, dass man aber im Einzelfall dem Schiri natürlich keinen Vorwurf machen würde, da, wie üblich, alles so schnell ging und der blitzartig reagieren müsse (wieso es dann immer gegen die Torchance ist, ist ein leidiges, aber nicht weiter an dieser Stelle erwähntes Thema, vor allem nicht von dem Gutachter). Falls die von dem Wind ausgelösten Wogen besonders hoch wären, würde man sich eventuelle eine Umformulierung in der Regel bemühen, die diesen speziellen Fall behandelt, natürlich, wie anzunehmen ist, dem Torhüter im Nachhinein das Recht einräumen würde, in der Sondersituation doch die Hände verwenden zu dürfen.
Hier nun endlich als Schlussfolgerung die Bedenken an der Rückpassregel. Sie ist die einzige Regel, bei der eine echt messbare Zeit abläuft, bevor über Vergehen oder nicht Vergehen befunden werden kann. Es ist eine Kombination von Aktionen, die zu beurteilen ist. Der Ball wird zurückgespielt. Er ist unterwegs. Und der Torhüter ist nicht informiert darüber, für diese Zeitspanne, ob der zu ihm gepasste Ball nun mit den Händen gespielt werden darf oder nicht. Theoretisch hätte er diese Zeit, um den Spielleiter zu fragen: „Hey, Schiri, darf ich diesen Ball nun aufnehmen oder nicht? Bitte sag es mir, aber sag es mir schnell. Ich möchte keine Regel verletzen, nur weiß ich nicht, ob ich im Begriff stehe, es zu tun.“ Der Schiri seinerseits könnte jene Ansicht vertreten: „Lass mal sehen, was du mit diesem Ball machst. Ach, aha, du hast ihn aufgenommen? Hehe, das hättest du aber nicht gedurft. Dies ist ein Freistoß.“ Oder, alternativ: „Ach, du hast den Ball freiwillig ins Aus oder zum Gegner geschlagen? Ja, du hättest mich doch nur fragen müssen: Natürlich hättest du den aufnehmen dürfen!“ Eigentlich müsste ein Lämpchen eingeschaltet (oder nicht) werden, sowie der Ball Richtung Torhüter unterwegs ist. „Den darfst du“ , „den darfst nicht“.
Eine kuriose Regel. Sie ist gut, sie ist nötig. Aber irgendetwas stimmt an ihr nicht. Vor allem Schalke müsste spätestens nach diesen Äußerungen das Liedchen anstimmten, welches man später dann davon regelmäßig singen könnte…