Wanja spricht mit seinen Kindern, heute über…
Die Regeln
Es kam immer wieder zu diesen Gesprächsrunden. Die Kinder waren irgendwo fasziniert und zugleich befremdet. Aber sie wollten auch die Geschichte ihres eigenen Planeten und dessen Gründungsgedanken verstehen. Eine Art „Heimatkunde“ der hoch modernen Art. Man sprach natürlich auch darüber, wenn man selbst mal wieder das Glück hatte, ein paar Karten für ein Spiel zu erhaschen, die tatsächlich in Putoia verlost werden mussten, aufgrund des großen Interesses. Es war teils bei großen Spielen schon ein Glück, wenn man überhaupt noch eine Karte für die riesigen Flächen um die Stadien herum ergattern konnte, von welchen aus man freie Sicht auf … nur die Riesenbildschirme hatte, auf denen das Spiel übertragen wurde. Ohne Kommentar zwar, aber dafür dennoch immer auf Ballhöhe. Beides hatte seinen Reiz, aber die echte Stadionatmosphäre war noch immer vorzuziehen, so waren sich die meisten einig, obwohl es eher möglich war, dass meine eine spannende Szene von den Sitzen aus nicht so hautnah erleben konnte wie vor dem Stadion, auf den Leinwänden.
Wenn es also im Stadion irgendwann eine Spielszene gab, welche Wanja an frühere Zeiten erinnerte – beispielsweise tatsächlich ein Foulspiel, so selten dies auch vorkam? –, konnte er sich nicht zurückhalten. „Früher, auf der Erde…“… und er setzte fort, selbst wenn die Kinder den Wortlaut oftmals bereits kannten, aber dennoch hatte Wanja immer mal wieder eine Überraschung parat, also hatte er seine Zuhörer sicher, „wisst ihr, wie viele Foulspiele es pro Spiel gab?“ und die Kinder wussten dieses Detail vielleicht noch nicht. „Also, Papa, wie oft gab es denn diese Spielunterbrechungen, die hier keiner sehen will?“ „Ich habe mal eine Statistik gemacht und mich denn doch eher gewundert, dass es gar nicht so extrem viele Foulspiele gab, wie ich vermutet hatte. Es waren nur so zwischen zwanzig und dreißig pro Spiel.“ „Das ist doch aber enorm viel? Hier gibt es doch höchstens zwei, drei pro Spiel?“ „Ich meinte ja auch nur, dass es sich nach mehr anfühlte. Aber das lag sicher daran, dass es viel mehr davon gab, aber absolut nicht jedes gepfiffen wurde. Aber auch sonst kam es einem so vor, dass irgendwie dauernd eine Unterbrechung war, das stimmt schon. Schöner ist es, wenn der Ball rollt. Und dazu muss man sich ja nur an die Regeln halten.“
„Du sagst also, Papa, so zwanzig bis dreißig Fouls pro Spiel. Das ist eine Menge, finden wir, oder?“ Zustimmung der Geschwister, mit energischem Nicken. „Aber warum haben denn die Spieler ihrer Mannschaft so oft geschadet? Das wurde doch hier keiner tun, aus guten Gründen, denn ein Foul ist nicht nur hässlich, man könnte sich oder den Gegenspieler verletzen, keiner mag es sehen, aber dazu gibt es doch logischerweise eine Strafe, die der Mannschaft und dem Spieler selbst weh tut?“ „Ja, für euch hier ist das selbstverständlich. Deshalb lege ich euch ja auch einmal pro Woche übers Knie, für all die Sachen, bei denen ich euch nicht erwischt habe, weil Strafe muss sein…“ „… Papa, du legst uns doch nicht übers Knie? Was erzählst du denn da?“ „…hmm, nein? Aber dann sollte ich es wohl dringend mal anfangen?“. Er setzte, sehr viel ernsthafter fort: „Ja, wie ich euch schon sagte aber wie es ohne Weiteres eigentlich jeder versteht: jedes Spiel, welches man spielt, funktioniert nur dann richtig, wenn man sich an die Regeln hält.“ „Genau so haben wir es gelernt. Und – ja, Papa, wir wissen es –, das gilt auch für den Straßenverkehr zum Beispiel.“ „Ich sehe, ihr hört mir gut zu.“
„Euch muss man es also nicht näher erläutern, dass ein Foulspiel eine Regelverletzung ist und nicht etwa, wie man früher oft hörte, ´zum Spiel dazu gehört´.“ „Ja, klar. Und weiter, wie war es denn nun früher, auf der Erde? Warum haben sie nun ihrer Mannschaft so oft geschadet? Oder willst du etwa sagen, sie haben es gar nicht?“ „Genau darauf läuft es hinaus. In den ersten Regeln für das Spiel gab es noch gar nicht so viele davon. Es waren zwar nicht elf Mann pro Team, aber nehmen wir mal an, man spielte in etwa so: beide mit gleich vielen Spielern, ein Ball, zwei Tore, Ball darf mit allen Körperteilen außer den oberen Extremitäten – also Arm und Hand – gespielt werden. Tor ist, wenn der Ball mit vollem Umfang die Torlinie überschritten hat. Das Spiel wird mit Anstoß fortgesetzt. Geht der Ball an der Seitenlinie ins Aus gibt es Einwurf – ausnahmsweise mit der Hand auszuführen –, geht er auf der Grundlinie ins Aus gibt es Abstoß oder Eckball, je nachdem, wer den Ball zuletzt gespielt hat. Und eine Regel noch: jede Mannschaft hat einen Spieler, der das Tor hüten darf und dazu ALLE Körperteile innerhalb eines abgegrenzten Raumes – dem Strafraum – benutzen darf. Mehr war eigentlich nicht.“
„Gut, und wie gab es nun Probleme mit den Regelverletzungen?“ „Nun ja, man spielte gerne und spielte auch immer besser, nur kam allmählich das ins Spiel, was vielleicht die Menschen doch irgendwie auszeichnet: der eine wollte besser sein als der andere. Nennen wir es ´Ehrgeiz´, das dürftet ihr ja wissen und auch kennen.“ Zustimmung. „Und wenn ein Spieler es mit dem Ehrgeiz ein wenig übertrieb, dann konnte es schon mal vorkommen, dass er zu unlauteren Mitteln griff….“ „… und beispielsweise dem Gegner ein Bein stellte?“ „So oder ähnlich. Nun gehörte sich das nicht und der Gegenspieler war sicher erbost, aber man musste ja irgendwie weiter spielen. Man hat dies anfangs vielleicht sogar noch für unabsichtlich erklärt, so was passiert schon mal, also gibt es Freistoß und das Spiel geht weiter. In der Anfangszeit hat sich eben noch niemand so recht damit beschäftigt, ob das ein Zuschauer sehen will oder ob es Vor- oder Nachteile einbringt. Man spielt halt weiter, die Mannschaft des gefoulten Spielers bleibt ja schließlich in Ballbesitz, wenn man in Tornähe kam, konnte man den Ball sogar direkt aufs Tor schießen, da er lag und man in die Regeln schrieb, dass die gegnerischen Spieler mindestens zehn Yard entfernt sein müssten. Das war doch eine ganze Menge Platz?“ „Also hier in Putoia sind es elf Meter. Und das ist doch mehr als zehn Yard?“ „Ja, hier habe ich auch mitgewirkt, nur auf der Erde war es so, dass es einmal aufgeschrieben war und dann eben nie mehr geändert wurde. Keiner hat sich damit beschäftigt, ob oder wie sinnvoll diese so etwa 1861 aufgenommene Regel wäre. Zehn Yard, einmal notiert, fertig. Kann man nix machen. Aber darüber reden wir ein anderes Mal. Heute wollte ich doch mehr über die Einhaltung der Regeln sprechen?“ „Ok, erzähl einfach weiter. Anscheinend war es eben so, dass man mit einem Foulspiel gar nicht wirklich Schaden anrichtete?“
„Genau so war es. Die Spieler bestritten die Zweikämpfe mit mehr und mehr Einsatz. Die Abwehrspieler lernten dabei: wir bekommen oft den Ball, wenn wir ein wenig schubsen, ein wenig zerren, ein wenig schieben, ein bisschen sperren, das Hinterteil ausfahren oder kurz mal mit der Hand ans Trikot gehen, aber wirklich nur ganz kurz und alles nur ein ganz klein bisschen, so, dass man das doch nun wirklich nicht pfeifen kann, und schon kam der Stürmer nicht mehr weiter. Aber die Krönung war ja dies: falls es doch mal abgepfiffen wurde, dann gab es halt Freistoß. Und ein Freistoß hat keine persönliche Strafe nach sich gezogen und die Spielsituation, die sich durch den Freistoß ergab, war auf keinen Fall günstiger als jene, die es gegeben hätte, wenn das Foulspiel gar nicht stattgefunden hätte.“ „Also hat man einfach gefoult und entweder den Ball erobert oder, das Schlimmste, was passieren konnte war ein Freistoß gegen einen, aus dem der Gegner aber überhaupt keinen Vorteil ziehen konnte? Das ist doch total ungerecht!“ „Das war ja genau das Problem. Es hat sich alles so nach und nach eingeschlichen. Die Verteidiger merkten immer mehr, wie sie so geschickt foulen konnten, dass es erst gar nicht geahndet wurde, nur wenn es passierte war es nicht mal ein Problem. Das war das reine Paradies für Abwehrspieler.“ „Nein, zeig uns doch mal eine Aufzeichnung von früher, das können wir uns nicht vorstellen. Hat denn keiner was gemerkt?“ „Nein, das war nie ein Thema.“
„Das war ja nicht einmal der einzige Vorteil, welchen die Abwehrspieler hatten. Ihr müsst euch nun mal vorstellen, dass ein Stürmer einem Abwehrspieler den Ball abluchsen wollte.“ „Na, dann hatte er doch wohl die günstigere Seite? Nun hatte er endlich mal die Chance, vom Verteidigerbonus zu profitieren, nun konnte er ungestraft stochern oder einhaken oder was auch immer, oder?“ „Nein, genau das eben nicht. Wenn ein Angreifer auch nur anfing, sich um den Ball zu bemühen, dann wusste der den Ball führende Verteidiger ganz genau: ´wenn ich jetzt den Ball verliere, falle ich einfach hin. Dann bekomme ich IMMER einen Freistoß.´“ „Und warum sollte das so gewesen sein? Nein, das glauben wir nicht, das kann man sich einfach nicht vorstellen.“ „Doch, genau so war es. Wir schauen uns mal ein Spiele oder wenigstens ein paar Szenen an von einem irdischen Fußballspiel? Was meint ihr?“ „Schaurig-schön!“