Mittlerweile gereift und im Alter von 15 Jahren befindlich, produziert diese WM wesentlich weniger Erinnerungen als man annehmen müsste. Der Grund möglicherweise, dass im Pubertätsalter auf einmal das andere Geschlecht eine durch scheinbare Unnahbarkeit ausgelöste Faszination ausübte? Während mir in vorherigen Altersstufen das Ganze ziemlich unproblematisch erschien und ich mich ohne Weiteres auch mit 10, 11 oder 12 Jahren bereits zu Verliebtheiten bekennen konnte, so war es doch mit 15 — als man allmählich herausbekam, dass man sich irgendwann auch, außer einem Kuss, noch weiter körperlich „betätigen“ müsste – dass mir die Annäherung unvorstellbar erschien. Womöglich hat die unwiderrufliche Trennung und Scheidung der Eltern ihren Teil beigetragen, dass andere Dinge in den Lebensmittelpunkt rückten beziehungsweise sogar das gesamte Weltbild ein wenig wankte. Nicht zuletzt sei erwähnt, dass ich mittlerweile das Schachspiel erlernt hatte und diesem, an Mädchens Statt, verfallen war.
Insofern möchte ich hier auch nur die wirklich für mich faszinierenden Momente herausstellen, die sich einfach ins Gedächtnis einprägen mussten, und sei es auch nur das meinige. Denn ich denke schon, dass so manche Überlegung dabei noch nicht öffentlich, garantiert aber nicht lauthals, angestellt wurde und für einige Verblüffung sorgen könnte.
Eine Weltmeisterschaft in Deutschland (politisch korrekt hieße es natürlich: in der BRD…) könnte man insofern für etwas ganz Besonders halten, vor allem für einen Fußballenthusiasten, wie ich es für lange Zeit war, dass Spiele im eigenen Land stattfinden und man die Chance hatte, diese live zu beobachten. Dass nebenbei mit „abfiel“, dass sich die besten Spieler der Welt hier tummelten, sei hier ebenso nebenbei erwähnt. Nicht nur im eigenen Land fanden Spiele statt, es war sogar so, dass ein Spiel der deutschen Mannschaft im Berliner Olympiastadion ausgetragen wurde! Dennoch ließ mich dieser Aspekt erstaunlich kühl. Ich wollte keine Karten. Für mich hatte es etwas mit dem sportlichen Wert zu tun. Für mich war der Fall klar, dass Deutschland die Vorrunde überstehen würde. Es gab in diesem Sinne keinerlei Spannung, die ich empfand. Dass die auch damals schon weniger namhaften Gruppengegner der Deutschen, Chile, Australien und die DDR, entweder das später so häufig auftretende Losglück waren oder ob sie ihnen ausgerechnet für dieses Turnier einmal „zugeschanzt“ wurden, spielte für mich keine Rolle. Die Vorrunde packen sie, so oder so. Und in diesem Fall gibt es weder „Wenn“ noch „Aber“…
Die ersten beiden Spiele wurden in absolut farblosen Darbietungen gewonnen. Gegen Chile 2:0, gegen Nobody Australien 3:0, aber dafür schaue ich auch nicht in die Datenbank. Falls eines der Ergebnisse nicht stimmt, Beschwerden bitte an meine e-mail Adresse. Zumal ich für das brisante letzte Duell gegen die DDR auch noch wissen müsste, mit welchen Ergebnisses die DDR diese beiden Spiele abgeschlossen hatte, nur damit ich wüsste, ob der Bundesdeutschen Mannschaft auch ein Unentschieden zum zweiten Platz gereicht hätte. Fällt das unter die so genannte Polemik? Ich denke, es hätte nicht gereicht und eine Niederlage war erforderlich…
Aber der Reihe nach: Also BRD gegen DDR hieß das „brisante Duell“. Und ein derartiges Länderspiel konnte in Zeiten des Kalten Krieges nur unter solchen Umständen ausgetragen werden. Die Umstände die, dass es sich um ein Pflichtspiel handelte. Zu einem anderen Treffen hätte man wohl erst einmal den Begriff „Feindschaftsspiel“ in den Sprachgebrauch aufnehmen müssen. Dem Sieger dieser Begegnung an jenem denkwürdigen Abend in Hamburg winkte jedenfalls eine satte „Belohnung“. Er durfte sich in der Zwischenrunden nämlich mit ein paar wirklich „Walkovers „ begmügem. Die Namen jener waren Brasilien, Argentinien und die Niederlande. Der Verlierer kam dagegen in eine richtige Hammergruppe. Nun könnte ich mir aber vorstellen, dass der Aspekt des Zuschauerinteresses eher untergeordnet war. Dem Verlierer winkten also so klangvolle Namen wie Schweden, Jugoslawien und Polen.
Man darf angesichts dieser Hochkaräter auch ruhig mal deren Erfolge aufzählen: Schweden war einmal im Finale. Das war bei der WM ´58. Und, wen wunderts, sie fand in Schweden statt. Die Jugoslawen waren sicher auch einmal im Halbfinale und sogar die Polen schickten sich an, dieses ein einziges Mal zu erreichen. Wohingegen in der anderen Gruppe Nobody Brasilien mit inzwischen fünf Titeln, Argentinien nur mit zwei und die Niederlande gar gänzlich ohne dastanden!
Kann man denn unter diesen Umständen allen Ernstes annehmen, dass sich die bundesdeutschen Kicker zerreißen würden, um endlich einmal auf Brasilien treffen zu dürfen? Wer kann denn wirklich glauben, dass dieses prestigeträchtige Duell, welches über Jahrzehnte hinweg als Highlight in die Geschichte der DDR einging und als Schandfleck der Bundesdeutschen gilt, mit identischem Einsatz, mit gleichem Siegeswillen durchgeführt wurde? Die DDR hatte ihr Traumziel mit dem legendären Sieg erreicht. Sie war sowieso nur Außenseiter im Turnier und konnte sich diesen tollen Sieg an die Fahnen heften. Aber die Mannschaft der BRD? Die überließ doch dem Gegner gerne Ruhm und Ehre in jenem Spiel. Sie hatten ein anderes erklärtes Ziel: Den Titel Fußballweltmeister zu ergattern. Und als die DDR Kicker über lange Zeit nicht in der Lage waren, den bundesdeutschen „Abwehrriegel“ zu knacken, da wurde sogar noch ein bisschen nachgeholfen, indem unter anderem Sepp Maier bei dem Schussversuch von Sparwasser in der 79. Minute eher nach dem Vorzeigemodell „Bahnschranke“ hinfiel. Anschließend, bei der offensichtlichen Ereiferung über die Nachlässigkeiten seiner Hinterleute – gut, aus seiner Sicht Vorderleute – legte er eine wesentlich bessere Parade hin. Er warf sich nämlich gleich nach dem Einschlag des Balles vor lauter Wut und Empörung noch einmal auf den Boden. Meine Theorie: Er wollte sich doch nicht das sich anbahnende Lachen anmerken lassen und stürzte so sein Gesicht in den umgepflügten Boden. Die andern bundesdeutschen Kicker waren bessere Schauspieler, Ihnen konnte man die Freude und Erleichterung wirklich kaum anmerken…
Die damals noch ausgetragene Zwischenrunde mit jeweils vier Mannschaften, bei denen jeder gegen jeden spielen musste und deren beide Sieger im Finale aufeinander trafen nahm den erwarteten Verlauf. Die DDR kassierte artig ihre Niederlagen und wurde Gruppenletzter. Die damals sehr starke holländische Mannschaft konnte sich gegen die auf unserem Kontinent oft nicht gar so überzeugenden südamerikanischen Spieler aus Brasilien und Argentinien nicht einmal überraschend durchsetzen. Sie hatten mit dem überragenden Johann Cruyff einen absolut gigantischen Leader einer perfekt eingespielten Truppe.
Die bundesdeutsche Mannschaft fertigte in einem wirklich tollen Spiel die Schweden in einer Regenschlacht mit 4:2 ab, besiegte auch Jugoslawien erwartungsgemäß mit 2:0 und musste nur noch im letzten Gruppenspiel gegen Polen nicht verlieren, um den Finaleinzug unter Dach und Fach zu bringen. Dass dieses Spiel auch noch denkwürdigen Charakter hatte für eine Fußballweltmeisterschaft liegt aber weniger an der Brisanz der Paarung oder an der Dramatik im Verlauf, sondern viel mehr daran, dass das Wetter nur dieses eine Mal ungnädig war mit dem Veranstalter. Es war sogar von Spielverlegung die Rede, da der Rasen nach Gewitter und sonstigen extremen Regenfällen einfach unbespielbar war. Ich erinnere mich noch gut, wie ich die zahlreichen Helfer über den Platz eilen sah, mit ihren riesigen Walzen, und so versucht haben, die Wassermassen zu bändigen. Die bundesdeutsche Mannschaft hatte insofern Glück, dass das Spiel dann doch unter erkennbar irregulären Bedingungen angepfiffen wurde – um den Zeitplan nicht zu gefährden – und der Gegner ja aus dem Spiel heraus ein Tor hätte erzielen müssen, um zu gewinnen, während die deutschen nur das 0:0 über die Zeit bringen mussten. Und mit einem Tor war wirklich nicht zu rechnen, da man den Ball meist nur über wenige Meter nach vorne bewegen konnte, es sei denn, es gelang einem, ihn hoch zu schießen. Nur ist eine solche Spielaufbaustrategie in der Regel ungeeignet, um ein Tor zu erzielen. Den Deutschen wurde dann ein Elfmeter zugesprochen, in der 81. Minute meines Wissens, der dann von Gerd Müller zum 1:0 verwandelt wurde. Deutschland war im Finale. Dank des Klassenfeindes und seines aufopferungsvollen Einsatzes!
Der Gegner dort war die wirklich überragende holländische Mannschaft, die einfach den Sieg verdient gehabt hätte. Ich habe das Spiel später noch einige Male angeschaut und darf einfach nur sagen: Der Schlechtere hat gewonnen. Nun ist das nicht unbedingt eine absolut kuriose Ausnahme. So viel schlechter waren sie gar nicht. Aber es trifft immer wieder die gleiche Mannschaft, die das Glück für ihre Siege in Anspruch nehmen musste. Und nach und nach wird es auffällig…
Kurios an diesem Spiel folgende Kleinigkeiten: Noch bevor ein deutscher Spieler den Ball ein einziges Mal berührt hatte, drang bereits Johann Cruyff mit einem seiner unwiderstehlichen Soli in den deutschen Strafraum ein. Er war nicht zu halten. Berti Vogts und Uli Hoeneß (!) versuchten es gemeinsam und man kann sicher einige Wetten damit gewinnen: Es war tatsächlich Hoeneß,, der den ebenso überraschend verhängten Elfmeter verursachte. Johann Neeskens hatte eine Strategie zum Verwandeln, die später nicht so oft kopiert wurde: Er hämmerte den Ball mit voller Wucht aufs Tor. Hauptsache, Tor treffen. Und den soll mal einer halten aus der Distanz (um an dieser Stelle mal wieder Zeugnis abzulegen von meinem chaotischen Geisteszustand mit den zahlreichen sprunghaften Assoziationen, aber auch meinen Fußballwissen: Es gab eine Wiederholung einer solchen Elfmetertaktik: Bei der EM 1996 in England kam es im Halbfinale zu der Paarung Frankreich gegen Tschechien. Und dort kam es zum Elfmeterschießen. Die Tschechen hämmerten allesamt den Ball nur mit Neeskensartiger Wucht aufs Tor, während die Franzosen ihre Technik ausspielten und präzise verwandelten. Die Neeskens Taktik ging nach dem 6.Elfer, alle verwandelt, auf. Ein Franzose verschoss).
Im Spiel Deutschland gegen Holland 1974 musste man nur darauf warten, dass es die „ausgleichende Gerechtigkeit“ gab. Denn in der ersten Minute ein Elfer gegen den Ausrichter? Das war schon dreist. Und tatsächlich: Ich sag es ungern, aber der Rasen war wohl an dieser Stelle schlecht gemäht, als Hölzenbein seinerseits in den Strafraum eindrang und dort über einen hervorstehenden Grashalm stolperte… Der Schiri ließ sich erweichen, gab Elfer, das 1:1, dann „Knubbel“ Müller in unnachahmlicher Art kur vor der Pause mit seiner blitzartigen Drehung und dem Kullerball ins lange Eck zum 2:1, danach noch eine Halbzeit lang Dauerdruck der Holländer aber ein diemal wirklich überragender Sepp Maier hielt den Sieg fest.
Ich konnte mich nicht wirklich freuen, so viel weiß ich noch. Für mich blieb alles fad. Der Gegner war besser, das war offensichtlich. Und warum sollte dann immer und immer wieder Deutschland am Ende der Sieger sein? Noch war es nicht so weit, aber …
Als Glück muss man doch jedenfalls in diesem Turnier verbuchen, dass sie eine extrem einfache Vorrundengruppe erwischt hatten. Dann, dass es zwei so ungleiche Finalgruppen gab. Und dass man noch dazu „zielen“ konnte, in welche man lieber wollte. Wie hätte die BRD denn in diesem Jahr in der Zwischenrunde gegen Brasilien, Argentinien oder Holland ausgesehen? Und der Finalsieg selber kam auch nur unter glücklichen Umständen zustande. Ist Gott doch ein Deutscher? Heute, Ende 2009, kann man das immerhin vom Papst behaupten. Und teilweise genügt es ja sogar schon, den in der Tasche zu haben, wie man munkelt…