Mein Mannschaftskamerad und Schachfreund Thomas Grzesik hatte mir also das Buch von Edward Thorpe über das Black Jack geschickt. Ich habe Tile davon gelesen, und bei der Erkenntnis, dass es sich um amerikanische oder veraltete Regeln handelt, kurzerhand selber begonnen, alles auszurechnen. Dazu waren die Tage vorgesehen. Es juckte mich natürlich in den Fingern. Ich wollte das angeeignete Wissen so bald wie möglich anwenden. Zumal man die „Basic Strategy“ ja einigermaßen schnell erlernen kann und sich allein damit auch schon fast gerüstet fühlt, sich an den Spieltisch zu begeben und sich zumindest nicht zu blamieren wegen völliger Ahnungslosigkeit.
Und gerade eine Spielbank hatte ja für mich ganz klar einen besonderen Reiz. Noch war das Geldspiel nicht der zentrale Teil in meinem Leben. Die yamboss Partien waren zwar mit Einsatz, aber doch eher nur zum „Freundschaftstarif“. Man hatte zwar die Absicht, möglichst gut zu spielen und auch zu gewinnen, aber damit noch lange nicht die, den anderen zu „verletzen“, ihm also viel abzunehmen. Und selbst wenn die Backgammon Partien, die ich mittlerweile in Freiburg austrug, gelegentlich schon um 10 DM pro Punkt gingen und sogar ein Tag mal 300 DM einbrachte, war ich immer noch von der Mentalität her eher Schachspieler. Man spielt, wenn überhaupt, um kleines Geld. Mit der Meisterschaft der guten Züge kann man sich auch mal bei einem Turnier an die Spitze setzen und hier und da einen Geldpreis abstauben. Aber den selbstverständlich nur mit „harter und ehrlicher Arbeit“, so der Schachspieler. Gambling, Glücksspiel, nein danke, deshalb spielen wir ja Schach, könnte man es auch ausdrücken.
Ich war aber auf der Schwelle, einzusehen, dass diese Mentalität, so ritterhaft sie auch klingen mag, einem langfristig keine Gewinne und ernste Verdienstmöglichkeit bescheren würde. Dass also ein Glücksfaktor im Spiel eigentlich eher willkommen ist, selbst wenn es dem besseren gelegentlich einen Strich durch die Rechnung machen kann. Ein Schachspieler verabscheut so etwas, das ist seine Mentalität. Ich war also in der Phase des „Häutens“, wenn man es so ausdrücken möchte. Weg mit der Schachspielerhaut.
Was wusste ich bis zu diesem Tag über Spielcasinos? Otto erzählt doch diese hübsche kleine Geschichte. Ein Mann war irgendwo unterwegs, als er plötzlich eine Stimme vernahm. Die Stimme: „Anhalten.“ Der Mann hält an und fragt: „Was nun?“ Die Stimme: „Aussteigen.“ Der Mann steigt aus. Die Stimme: “Graben.“ Der Mann gräbt. Er gräbt und gräbt und findet eine Kiste voller Goldstücke! Die Stimme: „Nach Travemünde, ins Spielcasino.“ Der Mann rast los. Er geht ins Spielcasino. Geht an den Roulettetisch. Die Stimme: „Alles auf die 17.“ Der Mann setzt alles auf die 17, den gesamten Schatz, sein ganzes Bargeld dazu, sein Haus, seinen Hof, Alles. Die 12 gewinnt. Die Stimme: „Scheiße.“
Das wars, ansonsten hatte ich das vermeintliche Wissen, dass man es unter allen Umständen meiden müsste. Meine mathematischen Fähigkeiten waren ja zumindest auch so weit ausgebildet, dass ich den Bankvorteil beim Roulette berechnen konnte. Und auch meine kindlichen Experimente mit dem Roulette hatten, trotz der fast zuverlässigen Erfolge, mir nicht das Gegenteil aufschwatzen können.
Aber jetzt gab es doch einen echten Grund, einmal dahin zu fahren? Black Jacj, und man konnte es bei gutem Spiel mit Vorteil spielen. Also gab es eine Rechtfertigung. Die Faszination, die auch so von einer Spielbank ausgeht, brauche ich Ihnen ja nicht noch näher zu erläutern. Jeder würde doch gerne, wenn man nicht wüsste…
Was lag Freiburg am Nächsten? Natürlich die zumindest bis dahin berühmteste und älteste aller Spielbanken, das Casino in Baden-Baden. Ich war ja nicht nur Schachspieler sondern ich war auch Freak. So eine Art Hippie. Sicher, Woodstock lag bereits 15 Jahre zurück und ich war da auch erst 11. Aber dennoch hat man einiges von dem Zeitgeist eingeatmet. Hippie, Flower-Power, lange Haare, bloß keene Drogen, nee Danke. Ich hab einmal einen Jungen auf dem Zeltplatz erlebt, der einen Horror-Trip hatte. Nicht nur, dass er verzweifelt schreiend über den Zeltplatz (man sagt dann gerne: wie von der Tarantel gestochen) raste, am nächsten Tag flog er mit seinem zusammen erwischten Kumpel von der Schule, woraufhin der Kumpel sich im Zelt verschanzte und den Gaskocher aufdrehte. Er wurde aber gerade noch rechtzeitig herausgeholt. Das hat mich auf Lebzeiten kuriert.
Aber dennoch hatte ich mir mittlerweile die Hippie-Mähne abgeschnitten und war auch schon zum Rasieren übergegangen. Allein diese zwei Merkmale reichten aber noch nicht aus, um sich Zugang zu einem solch exklusiven Ort zu verschaffen. Aber ich hatte im Sommer davor mit einem Freund eine Wette gemacht, dass ich während des Schachturniers in Berlin einen Tag mit Anzug und Krawatte erscheinen würde. Der Konfirmanden Anzug passte mir nicht nur von den Maßen her nicht. Also hatte ich den Auftrag, mir irgendwie einen Anzug zuzulegen, sei es nur für einen Tag. Als ich meinen Vater beiläufig fragte, ob er nicht eventuell einen passenden Anzug hätte, überraschte er mich mit seiner Version. „Mein Junge, wenn du einen Anzug brauchst, kauf ich dir natürlich einen.“
Mein Vater hatte praktisch nur gute Eigenschaften, eine dieser Eigenschaften nannte sich „Sparsamkeit.“ Aber er wähnte mich wohl auf einem guten Weg, als ich tatsächlich einen Anzug tragen wollte und war bereit, mich auf diesem zu unterstützen. Ich erinnere mich an wenige Einkaufsbummel mit meinem Vater (um genau zu sein nur den einen). Aber immerhin, diesen einen unternahmen wir. Ich, als völliger Novize und in völliger Verachtung des Establishment, was Geschmacklosigkeit beinahe automatisch mit einschloss (Motto: was interessieren bitte Äußerlichkeiten?), endete in einem, wenn ich es heute so recht betrachte, einem recht konservativen Outfit. Hellblaues Hemd, dunkelblaues Jackett, graue Hose, schwarze Halbschuhe, rot-weiß-blaue Krawatte. Aber immerhin: Ich hatte meinen Anzug. Und ich hatte die eine Verwendungsmöglichkeit. Mein erster Auftritt war mir nicht mal wirklich peinlich. Obwohl ich schon für einiges Aufsehen sorgte: Bei einem Schachturnier mit Anzug und Krawatte? Wo gibt’s denn so was? Na, bei Pauli eben.
Und diesen Anzug hatte ich sogar beim Umzug mitgenommen. Und plötzlich bot sich für diesen eine Verwendungsmöglichkeit. Nur ein kleines Problem hatte ich noch: Wie bindet man eine Krawatte? Aber es fand sich unter meinen studentischen Bekannten und Freunden tatsächlich einer, der auf seinem Ärmel ein Krawattensymbol trug. Ich fragte ich: „Hey, was bedeutet es eigentlich, wenn man ein Krawattensymbol auf dem Ärmel trägt?“ Er: „Das bedeutet: Man kennt jemanden, der zwei Krawattensymbole auf dem Ärmel trägt.“ Das half mir nicht unmittelbar weiter, aber dennoch folgte ich der Spur. Er stellte mir den Exoten mit den zwei Krawattensymbolen vor. Ich stellt die gleich Frage, nur diesmal im Plural. Die Antwort fiel absolut erstaunlich positiv aus, aber ich war jetzt auch schon recht zuversichtlich geworden: Er kannte Jemanden, der eine Krawatte binden konnte!
Ein Termin war schnell gefunden, quasi noch am gleichen Nachmittag, und schon war ich gerüstet für meinen ersten Spielbankbesuch. Falls es Sie noch interessieren sollte: Der Mann hatte drei Krawattensymbole aufgestickt, nur falls Sie mal so Jemanden begegnen sollten.
Die Anfahrt von Feiburg nach Baden-Baden war ziemlich exakt 120 km. Also eine gute Stunde, alles Autobahn. Ich habe mir selber ein Budget von 150 DM zur Verfügung gestellt (ok, vermutlich war es einfach alles, was ich hatte). Und es war wirklich ein Erlebnis. Ich kämpfte verzweifelt aber erfolglos dagegen an, nicht sofort als Ahnungsloser identifiziert zu werden.
Natürlich habe ich entsprechend die Roulettetische mit Nichtachtung gestraft und bin direkt durch zu den Black Jack Tischen. Ich wollte mich auf den erstbesten freien Platz setzten. Ein Croupier: „Nein, der Platz ist belegt. Der Herr kehrt gleich zurück. Hier wird nur gemischt.“ Und so weiter. Ich graste so ziemlich alle verfügbaren Fettnäpfchen ab (die „grast „ man doch nicht ab; mein Deutschlehrer: „Bildbruch“), unter anderem zog ich mein Jackett noch aus, was zumindest in der Zeit absolut nicht angängig war, vergaß den Einsatz zu platzieren, kam mit den Chips durcheinander, zog den Gewinn nicht rechtzeitig, wusste nicht, wie man eine weitere Karte bekommt oder wie man splittet. Einmal fasste ich sogar in die Spielkarten, woraufhin diese sofort ausgetauscht werden mussten (dichterische Übertreibung; die Übertreibung: In Wahrheit musste der ganze Tisch desinfiziert werden nach meinem Auftritt) ab und so weiter. Ich habe mich also nach allen Regeln der Kunst blamiert.
Aber dafür bekommt man dann immer als kleine Kompensation einen Begleiter zur Seite gestellt. Diese Begleitung ist die Glücksgöttin Fortuna. Die lächelt immer die ganz neuen und völlig Ahnungslosen an. So ist sie halt. Ich gewann, mit meiner absolut lächerlichen „Strategie“ 650 DM an diesem ersten Abend.
Sie können sich vorstellen, wo ich mich am nächsten Abend aufhielt? Genau, dort. Mit oder ohne Komma. Erst so ab dem fünften Abend begann es, schon wieder peinlich zu werden. Diesmal war es aber ein anderer Umstand: Krawatte, Jackett, Hose hätte man ja noch verkraften können. Aber spätestens da begann ein hellblaues Hemd doch hörbar (ok, sichtbar, aber da schreit man nicht) zu schreien: „Wasch mich!“
Aber bis dahin war ich auf der Erfolgsspur. Tagsüber habe ich zumindest versucht, die Basic Strategy zu verinnerlichen, so wie dann meine Berechnungstätigkeiten durchzuführen. Der Abend war ausschließlich für die Spielbank reserviert. Natürlich wurde mein Auftreten immer sicherer. Vor allem das an den Roulettetischen…
Was??? Ja, so war es. Fortuna hatte mir zugelächelt. So viel wusste ich schon. Trotzdem schien es natürlich auch mir einfach. Ich hatte irgendeine Hand, keine Ahnung welche, der Dealer hat sich ein paar Karten hingelegt und anschließend lag noch mehr Geld da als vorher. Das war meine Gewinnstrategie. Und ganz ehrlich: Es gibt keine bessere. Einfach gewinnen.
Und was war der Standard, wenn man in Baden-Baden ins Casino kam? Die Black Jack Tische waren voll besetzt. Zwei Tische á 10 Spieler. Aber es gab eine Warteliste. Man trug sich dort ein. Am ersten Abend habe ich das noch gut verkraftet, weil erstens die Wartezeit recht kurz und außerdem habe ich versucht, mich oberflächlich durch Beobachtung mit dem Spielverlauf vertraut zu machen. Das fiel an den anderen Tagen weg. Also, was tut man, wenn man warten muss und lange Weile hat? Man schlendert so umher. Ich hatte übrigens, Gott ist mein Zeuge, jeden Tag immer nur 200 DM mit. Mit 20 DM wurde der Tank aufgefüllt, 5 DM betrug der Eintritt, der Rest war zum Spielen. Aber ich habe nicht mehr mitgenommen. Dazu hatte sich mir Ottos Geschichte doch zu sehr eingeprägt.
Schlendern alleine ist das eine, Neugier ist das andere. Und wenn man einfach so, quasi geschenktes Geld, in der Tasche hat, warum nicht einfach mal einen 10er auf Schwarz? Da kann doch gar nichts passieren, oder? Doch, es kann. Man gewinnt nämlich, das ist einfach so. Ui, das ging ja einfach. Man platziert etwas später noch einen. Wow, noch ein Treffer! „Der Herr dort hinten, Ihr Platz am Black Jack Tisch ist frei. Sie hatten doch reserviert?“ Na gut, umso besser, an den Black Jack Tisch.
So ging es dann Abend für Abend. Und der Zeitvertreib Roulette gewann immer mehr an Bedeutung. Natürlich gab es einen guten Grund dafür, dass es Spaß machte. Ich gewann nämlich. Nur hat sich diese Geschichte allmählich verselbständigt. Ok, von meiner ursprünglichen Marschroute, immer nur 200 DM einzustecken, bin ich auch weiterhin nicht abgerückt. Außerdem habe ich ja meine „Hausaufgaben“ gemacht. Ich habe ja jeden Tag etwas Black Jack gerechnet. Aber ich wusste auch eines: Das Black Jack professionell und mit Kartenzählen erforderte ein bestimmtes Budget. Ich hatte das in etwa immer so auf 25000 DM festgesetzt. Ich kann mich aber allen Ernstes nicht erinnern, ob diese Zahl irgendeine rechnerische Grundlage hatte, oder ob ich sie einfach dem Buch entnommen hatte. Auch jetzt, beim Schreiben, gibt es keine Version von den beiden, die mir besser gefiele als die andere.
Ich hatte aber zwei Bekannten aus Freiburg vom Black Jack erzählt. Und die habe ich wohl etwas „infiziert“. Jedenfalls fuhren wir einen Abend gemeinsam ins Casino. Die Beiden haben sich ganz artig ihren Platz reserviert. Ich hingegen habe mein Spiel gespielt, und das war Roulette. Ich konnte es nicht verheimlichen. Die Sucht war ausgebrochen. Und ich fühlte mich, wie wohl jeder Suchtkranke, als a) gar nicht bis wenn völlig harmlos Erkrankter und b) hatte ich selbstverständlich „alles im Griff“.
Ich konnte noch dazu den beiden die volle Wirkungskraft meines „Systems“ vorführen. Mein „System“ ist schnell erklärt: Ich habe immer cheval gespielt, dass sind zwei auf dem Spieltisch (nicht im Kessel) benachbarte Zahlen. Meine ausgewählten „Glückszahlen“ waren die chevals (ok, plural chevaux) 17/20, 26/27 und 28/29. Dafür gab es auch eine wirklich gute Begründung: Die 17 war Angies Geburtstag und seitdem sowieso mein „Glückszahl“. Noch dazu war sie im Kessel schwarz, und das Glück, dass mir die schwarzen Zahlen brachten habe ich ja beim ersten Satz ermittelt, die 20 liegt unter der 17 auf dem Tisch und ist auch Schwarz. Die 27 ist zwar Rot, aber mein eigener Geburtstag, der eine Nachbar, die 26, wieder Schwarz, die 29 war nicht nur C.s Geburtsdatum sondern auch noch unsere Hausnummer in der Lehener Straße und die 28 war ebenfalls Schwarz und ein Nachbar der 29. Außerdem sind die Zahlen 26, 27, 28, 29 doch alle bildhübsch, finden Sie nicht?
An diesem Abend mit den beiden Bekannten hatte ich das Glück, drei Mal hintereinander eine dieser Zahlen zu treffen. Ich hatte aber, in aller Bescheidenheit, nur jeweils 10 DM gespielt. Für ein cheval bekam man für die Chance 2/37 natürlich das abzüglich des Bankvorteils (von wegen; mein System hat es bewiesen, wer den Vorteil hat, hehe) ausgezahlt, also 18:1, das heißt 180 DM. Mein Einsatz war 30 DM, also pro Treffer 150 DM Gewinn. Ich präsentierte ihnen den Chipshaufen. „Spielt ihr mal schön Black Jack. Ich hab ein besseres System.“ Die beiden schüttelten nur den Kopf. Hatte ich ihnen denn nicht vom Black Jack vorgeschwärmt und gesagt, ich würde jeden Tag gewinnen? Stattdessen spielt ich Roulette. Aber solch glückliche Gewinner wie ich, die legen sich immer irgendeine Haar sträubende Theorie zurecht. Liebe macht blind, gewinnen macht dumm.
Es war ja nicht etwa so, dass ich jeden Abend ein paar Sätze machte und diese gewann und ich wieder nach Hause fuhr, nein. Das Spiel entwickelt ein Eigenleben. Ich erfuhr plötzlich die Aufs und Abs. Ich gewann hintereinander, kam auf 600 DM, plötzlich ging es runter auf 100. Dann rannte man dem Geld wieder hinterher. Nur habe ich in diesen Tagen einfach das Glück gehabt. Ich habe es an einem Abend zwei Mal erlebt, dass ich nur noch 10 DM hatte. Beide Male bin ich an den gleichen Spieltisch gegangen, habe diese 10 DM auf die 17 gesetzt (ja, Otto, das geht!) und beide Male kam die 17! An eine Nacht erinnere ich mich auch noch, wo es hin und her ging aber vor dem von der Spielbank ausgerufenen letzten Spiel hatte ich noch 230 DM (ja, mittlerweile konnte es passieren, dass ich bis zum Schluss blieb). Ich setzte 220 DM auf Schwarz, die anderen 10 DM auf die 0. Was sich in meinem Kopf wirklich in diesen Momenten abspielte, kann ich schwerlich beschreiben. Aber ich hatte ja die Bankzahl abgedeckt damit. Was das soll? Man weiß es nicht. Könnte sein, dass man es in den Selbsthilfegruppen für Spielsüchtige erfahren kann. Aber es kam Schwarz! Wieder ein guter Tag, ohne jeden erkennbaren Grund. Blinde Hühner oder was auch immer…
Ich habe wirklich jeden Tag gewonnen. Es war aber genau zum Jahreswechsel 1983/84. Und ich erinnere mich noch genau an die Sylvesterparty, auf der ich war. Und wie ich dem Mädchen, das ich dort kennen lernte, sagte, wir würden uns morgen wieder sehen. Nur wollte ich zum nächsten Wochenende nach Berlin. Nicht nur, dass Berlin noch immer meine Heimat war, es gab zwei Termine dort: Die Berliner Blitzmeisterschaft, die ich doch immer noch mitspielte (immerhin: ich war auch Titelverteidiger) und am Wochenende danach ein Bundesligakampf. Außerdem und das Allerwichtigste: In Berlin gab es auch ein Spielcasino.
Ich fuhr also am 1.1.84 los nach Berlin. Es war ein recht winterlicher Tag. Die Nacht vorher war kurz und die Fahrt war ziemlich lang. 800 km für Freiburg – Berlin. Dazu gab es diese unsägliche Transitstrecke. Gerade über Hof kommend musste man 300 km auf ausgesprochen schlechter Autobahn mit maximal 100 km/h fahren. Als ich in Hof zu später Stunde ankam, fasste ich den Entschluss: Übernachtung in Hof. Das war insofern bemerkenswert, als sämtliche überflüssigen Geldausgaben für eine Schachspieler typischerweise vermieden wurden. Bei mir war das jetzt anders: Ich war nämlich reich. Ich hatte 2000 DM dabei. Vier 500er Scheine. Alles im Spiel gewonnenes Geld, das meiste aber im Roulette.
Die Nacht war aber sowohl billig als auch kurz. Schon um 6 Uhr brach ich wieder auf und nahm den Kampf gegen die Transitstrecke auf. Erfolgreich. Am späten Vormittag erreichte ich Berlin. Ein spätes Frühstück (demnach Spätstück), ein bisschen Schlaf noch, und dann hatte ich ja meine Mission. Berlin war ganz anders als Baden-Baden. Man konnte ja am Nachmittag schon ins Casino gehen, warum denn nicht? Man konnte ja wieder raus und später wieder hin Keine 120 km Anfahrt mehr. Außerdem lag das Casino im Europacenter, einen kurzen Fußmarsch nur vom von mir so oft besuchten Belmont, dem Berliner Schachcafé. Außerdem macht der sichere Erfolg nicht nur größenwahnsinnig, sondern auch leichtsinnig. Ich habe zwar vorsorglich die ein Hälfte der 500er zu Hause gelassen, die anderen beiden aber mitgenommen.
Gut, ich ließ den einen, in der mir weiterhin zugeordneten strengen Disziplin, nahm aber diesmal 500 DM mit. Ich hatte ja auch nur 500er, so meine „Ausrede“ (hatte ich extra in Freiburg gewechselt). Ok, das dauerte in etwa 20 Minuten. Dann waren die 500 alle. Kein einziger Anzahler. Alle Sätze weg. Das Auto stand beim Belmont, da wollte ich ja nachher hin. 5 Minuten hin, 5 Minuten zurück. Weitere 20 Minuten und der nächste 500er war aufgebraucht. Merkwürdige Gefühle, die man dann hat. Das musste wohl am Casino liegen? Was war plötzlich los?
Nun, der Boden der Realität eben, auf dem ich gelandet war. Hart, wie gewohnt. Ich hatte ja noch 1000 DM. Aber meine Spielsucht war ganz plötzlich geheilt. Irgendwie hat das kleine Häufchen Restverstand mir doch recht bald gesagt, dass ich einfach vorher ne Menge Glück hatte und dass ich froh sein konnte, immer noch vorne zu liegen. Der Tausender wurde nicht angerührt, nicht heute und auch nicht in den nächsten Tagen. Nicht zum Roulette Spielen jedenfalls.
Ich bin natürlich später oft noch ins Casino gegangen. Ich habe dort auch Roulette gespielt. Aber in diesen merkwürdigen Trancezustand, in dem man denkt, alles geht von alleine, man gewinnt einfach und fertig, Wahrscheinlichkeiten spielen keine Rolle, den habe ich nur dieses eine Mal erlebt. Gehört der Abschnitt doch eher ins Kapitel „Spielsucht“?