Die Dreipunkteregel
Diese Regel ist nun eine selten bis nie diskutierte, insofern optimal geeignet, an ihr etwas aufzuzeigen, was zum Kern der Gesamtproblematik vorzudringen helfen kann.
Die eine zentrale im Gesamttext vertretene Ansicht ist die, dass mehr Tore dem Fußball gut täten. Mehr Tore, mehr Spannung, mehr Action, mehr Spaß, mehr Zuschauer. Und immer wieder betont: mit „Zuschauer“ ist der neutrale gemeint, welcher nicht mehr existiert, aber zurückgewonnen werden könnte.
Die Fans dieser und jener Mannschaft mögen andere Interessen und Bedürfnisse haben als viele Tore – es sei denn, ihre Mannschaft erzielte sie –, jedoch „neutralisieren“ sich diese Interessen und Bedürfnisse, sowohl in ihrer Bauart als auch in ihrer Anzahl. Hier etliche, dort etliche. Diese wollen ein Tor für ihre, jene ein Tor für die gegnerische. Diese keines kassieren für ihre, jene keines kassieren für die gegnerische.
Insofern sind diese also nicht „stimmberechtigt“.
Der neutrale Zuschauer wäre zwar stimmberechtigt, nur ist er durch seine selbst gewählte Abwesenheit gar nicht stimmwillig oder stimmverfügbar. Er würde vielleicht schauen, wenn es Spaß machen würde. Das Schauen allein wäre dabei bereits eine Art Votum: „Hat Spaß gemacht, ich komme wieder.“ Auf den Kanal, ins Stadion. Und all dies ohne Fanbeziehung zu einer der beiden spielenden Mannschaften.
Die Erkenntnis wurde also von offizieller Seite ebenfalls gewonnen. Es könnte ruhig ein bisschen spannender und unterhaltsamer zugehen im Fußball. Speziell die Spiele, welche nach 70, 75 Minuten 0:0 oder 1:1 stehen von zwei Mannschaften auf Augenhöhe – und beides, Spielstände und Mannschaften auf Augenhöhe, treten sehr häufig auf — erscheinen uns (der FIFA, im Namen der Anhänger des Spiels) deutlich zu langweilig. Ballgeschiebe bis zum Schlusspfiff? Eine Art Friedensschluss? Ein „Remisangebot“ wie beim Schach, welches häufig genug beiderseitiger Angst vor der Niederlage zuzuschreiben ist? Dem wollen wir ein Ende bereiten.
Man kann auf keinen Fall behaupten, dass Zuschauer selbst auf die Idee kamen, noch weniger die Fans. Insofern dieses „wir“ für die FIFA. Es wurde ein Missstand erkannt und ein Versuch unternommen, gegen diesen anzugehen. Der Missstand: zu viele friedliche Übereinkünfte, zum Schaden von Spiel und Spannung. All dies ausschließlich von offizieller Seite.
In dieser Hinsicht müsste also Einvernehmen bestehen zwischen den hier allgemein vertretenen Ansichten und jenen an offizieller Stelle. Wir wollen mehr Tore, mehr Offensivgeist, mehr spannende Spiele, mehr späte Dramen, mehr Unterhaltung. Wie könnte man dies erreichen?
Die Idee war geboren und bereits 1981 in den englischen Ligen eingeführt. Nach und nach zogen andere Ligen nach. 1994 zur WM in den USA wurde es auch für die Gruppenphase erstmals so praktiziert. Nicht einmal eine schlechte Idee dort, denn bei drei Spielen pro Mannschaft kann man schon davon ausgehen, dass jede Mannschaft mindestens ein Spiel gewinnen sollte und demnach nicht von Anfang an das Remis festzuhalten versucht.
Eine Idee wurde geboren, für gut befunden, ausprobiert und schließlich dauerhaft in das Spiel integriert, offiziell eingeführt. Gar nicht ungewöhnlich. Man hat Ideen und probiert diese aus. Wenn es sich bewährt: weiter so.
Die Ungereimtheiten kämen erst im Anschluss daran. Gab es eine offizielle Sprachregelung, was man sich von der Einführung der Dreipunkteregel im Ligabetrieb versprach? Falls ja: hier nicht bekannt.
Insofern wird schlichtweg die oben angegebene Interpretation verwendet. Man wollte mehr Tore, den Offensivgeist beleben, dadurch, dass man bei einem ausgeglichenen Spielstand beiden Mannschaften einen lohnenden Zugewinn versprach, falls ihnen noch ein Tor gelänge.
So weit wäre die Theorie, und selbst wenn nicht offiziell so ausgesprochen, so ist es doch die einzig logische.
Die Fortsetzung der Ungereimtheiten: wann wurde je überprüft, ob die gesteckten Ziele erreicht wurden? Gibt es einen durch die Regel induzierten, erhöhten Offensivgeist, eine erkennbar anwachsende Risikobereitschaft, gibt es mehr Spiele, die als Spektakel in die Geschichte eingehen, mehr Dramen in den Schlussminuten, oder, noch direkter gefragt: gibt es weniger Unentschieden und mehr Tore?
Da eine offizielle Untersuchung nicht bekannt ist und vermutlich demnach gar nicht erfolgte – was man als grobe Nachlässigkeit bezeichnen müsste –, wird diese hier einfach so angefertigt, als Auszug, da keine weltweiten Daten erhoben werden können, jedoch wohl unzweifelhaft, dass man diese als „repräsentativ“ ansehen kann.
Vor der Einführung der Dreipunkteregel, in den Spielzeiten 1993 bis 1995, gab es in 2040 Spielen der Ersten und Zweiten Fußball Bundesliga folgende Zahlen für die als relevant zu erachtenden Daten :
Remis: 29.75% Tore ø: 2.776
In den drei Spielzeiten nach der Einführung der Regel, also 1996 bis 1998, gab es in 1836 Spielen (in diesen Spielzeiten gab es jeweils 18 Mannschaften pro Liga, demnach 6 * 306 Spiele; davor gab es in der Zweiten Liga in 1993 24 Mannschaften, in 1994 noch immer 20 Mannschaften, dadurch die höhere Anzahl Spiele) folgende Zahlen:
Remis: 29.15% Tore ø: 2.729
Die Abweichungen sind so minimal, dass sich ein jeder Statistiker im Prinzip wundern würde, weil er höhere Abweichungen sehr wohl tolerieren würde, ohne sich dabei etwas zu denken. Sprich: die angegebenen Zahlen würde auf ihn bald schon wie manipuliert wirken. Da hat doch jemand was gedreht? Ist aber nicht der Fall. Genau so sind die Ergebnisse.
Falls also irgendjemand diese Zahlen sehen würde von Seiten der FIFA könnte er nur konkludieren:“ War ein hübscher Versuch, die Idee vielleicht gut, der erhoffte Effekt jedoch gänzlich ausgeblieben.“
Nun könnte man als Skeptiker behaupten, dass dies die Anfangsschwierigkeiten waren und dass sich Spieler und Trainer erst daran gewöhnen müssten. Es bietet sich also an, drei später liegende Spielzeiten ins Verhältnis zu setzen, ob sich denn mit anwachsender Erfahrung etwas getan hat? Vielleicht musste man erst begreifen, wie viel man herausholen kann mit erwähntem Offensivgeist?
In den Spielzeiten 2015 bis 2017 haben die Zahlen folgendes Gesicht:
Remis: 27.12% Tore ø: 2.678
Hier nun könnten einem folgende Gedanken kommen: „Siehste, hat doch geklappt? Weniger Unentschieden! Wusst ich doch.“ Der Statistiker vielleicht: „Wenn es nun doch ein paar Abweichungen gibt, nehme ich diese gern zur Kenntnis. Doch nicht manipuliert. Mal überlegen, was es bedeuten könnte.“
Es gab also weniger Unentschieden. Gut. Demnach wurde die Regel also nach und nach umgesetzt, hat sie sich bewährt? Hmm. Nun ja. Da die Tore zurückgegangen sind, scheint dieser Schluss doch nicht angebracht? Wenn es weniger Tore gibt, dann müsste es doch eigentlich mehr Unentschieden geben? Die Mannschaften „treffen“ sich häufiger beim gleichen Score sozusagen. Im Handball: fast nie ein X, weil so viele Tore. Falls der Schnitt bei 0.0 pro Spiel ankäme – im Fußball –, so wäre garantiert jedes Spiel ein X. Weniger Tore — mehr Remisen. Das wäre eigentlich die Logik.
Es gab weniger Tore, aber auch weniger Unentschieden. Wo liegt der Grund dafür? Eine Antwort wäre: reiner Zufall. Ein anderer wird etwas später noch erörtert, da die mögliche Begründung etwas tiefer liegt.
Generell wäre jedoch zunächst der Schluss erlaubt: eigentlich hat sich nichts getan. Vor allem gab es nicht mehr Tore, wie es Teil der Vorüberlegung gewesen sein müsste bei Einführung der Regel.
Nun dringt man zwangsläufig zu der Frage vor, warum die Regel nicht ihren Zweck erfüllte? Was hält Spieler und Trainer davon ab, ein erhöhtes Risiko einzugehen? Zwei gewinnen, wenn es klappt, nur einen hergeben, wenn es schief geht. Das muss sich doch rechnen?
Selbst wenn dies jedoch befriedigende oder einfach nur logische Antworten zutage fördern würde, dann steht noch immer im Raum: warum hat es keiner gemerkt bisher? Man hat einfach mal so, nach dem Zufallsprinzip, irgendwas geändert weil einen irgendwas gestört hat, aber man prüft nicht? Und wenn man gerpüft hat: woran lag es und noch viel brennender: wie könnten wir die Ziele vielleicht mit anderen Mitteln erreichen?
Bevor nun die sozusagen psychologische Untersuchung stattfindet, soll zunächst noch darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Regel außer keine Vorteile – wie statistisch nachweisbar – viel mehr Nachteile gebracht hat. Dazu sei zunächst auf die Tabellenbilder aufmerksam gemacht. Diese sind nicht mehr so schön lesbar wie früher. Nur die Pluspunkte zu zählen ist mangelhaft. Man kann nie wirklich was daraus ableiten. Punkte pro Spiel? Rechnet keiner, ist aber auch nicht so informativ, weil es davon abhängt, wie viele Remisen es in der Saison in der Liga allgemein gibt.
In der Ersten Bundesliga wurde immer die Rechnung angestellt, dass 40 Punkte genügen sollten. Dies war aber lediglich eine Art Richtwert, weil noch nie einer mit 40 Punkten abgestiegen ist. Früher, bei Plus- und Minuspunkten, ging es irgendwie besser, zu vergleichen auch und gerade, wenn Spiele ausgefallen waren (und dies in der wichtien Saisonphase, der Rückrunde nämlich, häufig auftretend).
Ein weiterer Nachteil ist die theoretische Manipulationsmöglichkeit: zwei Mannschaften aus dem unteren Mittelfeld haben je ein Spiel in ihrer Heimstätte auszutragen. Einigkeit: wird für beide eng in dieser Saison. Die Spiele selbst könnten es auch sein. Also: lieber Hinspiel ihr gewinnt, Rückspiel wir gewinnen. Jeder hat drei Punkte auf sicher. Die Konkurrenten erkämpfen sich vielleicht in Hin- und Rückspiel in Duellen auf Augenhöhe je ein Remis. Schon sind die beiden mit der Übereinkunft vorne, um einen ganzen Punkt. Die Konkurrenten haben nämlich nur je zwei Punkte ergattert.
Ein weiterer dringend zu erwähnender Nachteil ist, dass man für ein Unentschieden bestraft wird. Also angenommen, beide Mannschaften beherzigen die Regel und gehen voll drauf. Je zwei weitere Angriffspsieler eingewchselt, Innenverteidiger raus. Volle Offensive. Ergebnis: Risiko hat sich gelohnt. Beide schaffen noch ein Tor. 2:2 am Ende. Beide schleichen bedröppelt vom Platz, während der Sprecher noch höhnt: „Ein Remis, welches keinem der Beiden so recht weiter hilft.“ So ist es zwar, nur ist der Hohn ohnehin unangebracht, aber zum Teil auch der Ungerechtigkeit der Regel zu verdanken. Beiden wurde ein halber Punkt abgezogen (sie müssten ja eigentlich anderthalb Punkte bekommen, bekommen aber nur einen). Das ist nicht fair, das ist ungerecht.
Also: eine einfach mal eben so eingeführte Regel hat nichts gebracht außer Nachteilen. Und hält sich über zwanzig Jahre. Alternativen? Nie angedacht, nicht erwogen.
Nun zurück zu den Ursachen, dass die Regel keine Wirkung erzielte. Diese Untersuchung könnte man sich zwar sparen, da die Ergebnisse aussagekräfitg sind und man schlichtweg die Regel zurücknehmen müsste. War nix, wird nix, sieht man doch. Warum? Ist doch wurscht? Dennoch kann man die Frage stellen und nach Gründen suchen. Oder: als denkender Mensch neigt man dazu und ist dazu aufgerufen. Bringt Erkenntnisse, welche hier und da verwendbar sind?
Es gibt insgesamt drei ausgemachte Gründe, warum dies so ist. Wobei hier kein Absolutheitsanspruch gestellt wird. Die drei Gründe kurz gefasst:
- Die Medien machen die Vorgaben. Eine davon lautet: Verlieren verboten. Dies betrifft vor allem die Trainer. Denn bekanntlich als das „schwächste Glied in der Kette“ ausgemacht müssen sie gehen, wenn eine Niederlage zu viel eintritt (also zwei insgesamt; dies ist Sarkasmus, dennoch der Realität nahe kommend). Die Trainer werden alles tun, um nicht zu verlieren. Spatz in der Hand besser als Taube auf dem Dach. Verteidiger rein, Stürmer raus, steht doch 1:1, nur nicht verlieren. Die Spieler befolgen die Taktik, was auch sonst?
- ) Es gibt ein erkennbares Dilemma an der Sache: jeder weiß sehr wohl, dass es lohnen könnte, das Risiko zu erhöhen, um ein weiteres Tor, das Siegtor, zu erzielen, wenn es Unentschieden steht. Dennoch lehrt die Erfahrung, dass man es doch etwas häufiger kassiert als man es erzielen würde. Mathematisch lohnend dennoch, da man ja zwei Punkte gewinnen kann und nur einen verlieren, dennoch etwas höher die Gefahr, zu verlieren. Also zu 40% ein Tor erzielt, zu 60% eines kassiert, rechnerisch ein guter Deal, da man in den 40% zwei Punkte gewinnt, in den 60% nur den einen hergegeben hat. Das Dilemma jedoch: beide wissen, dass es der Gegner eigentlich auch tun müsste. Man schiebt ihm also den Schwarzen Peter zu: „Ihr wisst doch, dass ihr angreifen müsst? Ihr verbessert eure Chancen, wenn ihr es tut.“ Nur sagt der Gegner genau das gleiche. Weil beide eben wissen: wer den ersten Schritt tut, wer sich darauf einlässt, der hat dennoch den Nachteil. Fangt ihr mal an, wir machen das Tor aus dem Konter heraus. Geschehen tut dementsprechend gar nichts. Es bleibt so, wie es immer war. Unentschieden.
- Ein vielleicht sogar wichtigerer Grund als der zweite: die Dreipunkteregel hat nicht nur ihren Effekt, wenn ein Spiel Unentschieden steht, sondern sie hat ihn auch, wenn eine Mannschaft führt. „Normalerweise“ führt sie mit einem einzigen Treffer, da alle Spiele eng sind. Selbst wenn also der Fall gegeben wäre – Punkte 1 und 2 ignorierend –, dass das Risiko erhöht wird, wenn ein Spiel spät ausgeglichen steht, dann gibt es eine noch höhere Anzahl von Spielen, wo eine Mannschaft mit dem einen Tor führt. Diese Führung ist als „extrem wertvoll“ zu bezeichnen. Denn: ein Gegentor zu kassieren würde nun zwei Punkte kosten. Man hat drei, fiele auf einen zurück. Demnach wird also nicht etwa der Offensivgeist beflügelt, sondern ab jetzt halten die „noch dreckigeren Siege“ Einzug. Wenn es eine Heimmannschaft ist: sogar die Zuschauer tolerieren, wenn alle Mann auf der eigenen Torlinie stehen. Denn selbst diese wissen, dass man auf keinen Fall den Dreier hergeben darf. Der möglicherweise induzierte Offensivgeist bei ausgeglichenen Spielständen wird also zumindest aufgewogen von diesem Gegeneffekt: bloß ja und mit allen Mitteln eine Führung festhalten.
Dieser Punkt nun endlich die mögliche Erklärung für die Zahlen aus den jüngsten drei Spielzeiten. Weniger Tore und weniger Unentschieden. Das passt zusammen, aufgrund der Tatsache, dass ein 1:0 heute mit Zähnen und Klauen über die Zeit gebracht wird und nicht etwa, wie früher vielleicht, ein 2:0 angestrebt wird. Es gibt also mehr knappe Siege, was die Statistik erklärt und eine Logik beinhaltet.
Demnach bleibt als Gesamtschlussfolgerung: die Regel hat nichts gebracht oder vielleicht sogar das Gegenteil. Keineswegs mehr Tore, keineswegs mehr spannende Action gegen Spielende, keineswegs mehr Unterhaltung, geschweige denn Gerechtigkeit. Irgendwie einen reinwürgen und den Dreier über die Zeit bringen. So spielt man heute Fußball – zum Teil sogar, wegen der Dreipunkteregel.
Unsinn und weg damit. Wenn man mehr Tore und mehr Spannung etc. möchte, muss man andere Wege gehen. Diese Wege sind in ausreichender Anzahl vorhanden und an allen Stellen in den Texten vorgeschlagen. Der schlichteste mal wieder hier angeführt: schaut mal in die Regeln und pfeift danach. Wenn es heißt: „bei Foul- oder Handspiel im Strafraum gibt es Elfmeter“, dann müsste man dies anwenden.
Wenn es bei engen Abseitssituationen heißt „im Zweifel für den Angreifer“, dann müsste man nur diese Winzigkeit beherzigen – alles wäre geritzt. Und überhaupt heißt es doch: im Zweifel für.. den Fußball.