1) Freiburg
Es war das Jahr 1983. Ich war 24 Jahre alt. Zum Schachprofi reichte es wohl nicht. Man musste einen sehr großen Aufwand betreiben, viele Turniere gingen über eine Woche oder länger. Um an die Fleischtöpfe zu gelangen, die richtig guten Geldpreise, musste man schon wirklich überragend gut sein. Immer häufiger traf man auf Großmeister und Internationale Meister, die sich auch bei Open Turnieren (Turniere, wo jeder mitspielen durfte) ihr Geld verdienen mussten, wollten oder konnten. Der erste Preis war oft „nur“ 2000 oder höchstens mal 6000 DM. Und dafür so viele Bewerber, allesamt bärenstark? Und selbst für den Sieger sind ja 9 Tage harter Arbeit mit 6000 DM nicht mal fürstlich belohnt. 2-3 Monate konnte man sich davon gut ernähren. Dann musste der nächste Turniersieg her.
Mein bester Freund, Christian Maier, lebte in Freiburg. Freiburg war ohnehin für mich die schönste Stadt in Deutschland, noch vor Hamburg und München. Die Lage ist einmalig schön, die Umgebung malerisch. Und von Berlin kannte ich ja nicht mal eine Umgebung. Es gab nur Berlin oder (weit) reisen bis dahin. Also, ein mutiger Entschluss, Umzug nach Freiburg, auch als Akt des Beweises der Selbständigkeit. Ich kann mich um alles kümmern, eine Wohnung finden, mich immatrikulieren, ummelden, umziehen. Alleine und selbständig für mich sorgen.
Ich hatte auch ganz ehrlich die Absicht, mein Studium zu beenden. Deshalb gab mein Vater mir 600 DM monatlich, die zu der Zeit auch in etwa dem BaföG Satz entsprachen. Sie ahnen, was ich studiert habe? Ja, richtig, es war Mathematik. Und die Albert-Ludwig-Universität hatte auch einen sehr guten Ruf. Wie sich herausstellen sollte, war das für mich aber von untergeordneter Bedeutung.
Denn was haben wir da wirklich gemacht? Da wurde nur noch gespielt, Tag und Nacht. Wir haben ein Würfelspiel gespielt, yamb genannt, ein Spiel aus Serbien. Ich habe alles ausgerechnet und Statistiken angefertigt. Das konnte man doch auch studieren nennen, oder? Ich habe das gesamte Spiel ausgerechnet, alle Wahrscheinlichkeiten. Es wurde mit 5 Würfeln gespielt, so eine Art Kniffel. Man nennt diesen Teil der Mathematik übrigens bescheiden „Kombinatorik“. Und es ist nur ein winziger Teilaspekt der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Und selbst die ist ja nicht mal etwas für die „richtigen“ Mathematiker.
Immer, wenn ich mal die (richtigen) Mathebücher vor der Nase hatte und ernsthaft lernen wollte, klingelte es an der Tür. Irgendeiner wollte eine Partie yamb spielen. Auf ins Café und würfeln, was sonst hätte ich tun sollen? Yamb war wie erwähnt, ein serbisches Würfelspiel. Und „Professor Yamboss“, Dario Doncevic aus Koblenz, war auch eine echte Legende, davon aber später etwas mehr.
Das Schach hatte ich, trotz der Erkenntnis der mangelnden Profiperspektive, ja noch nicht endgültig aufgegeben. Von Freiburg aus konnte man auch tolle Turniere erreichen, vor allem in der Schweiz. Es gab gute Preise und nicht ganz so gute Konkurrenz. Dann bekam ich auch noch die Gelegenheit, für die Zeitung „Schach“ von Peter Boldt aus Freiburg, hier und da einen Artikel zu schreiben, eine Partie zu analysieren, auch ein kleiner Nebenverdienst.
Und dann gab es plötzlich das Spiel Backgammon. Ich hatte es schon zum Jahreswechsel 1982/83 beim Schachturnier in Zürich erstmals gesehen. Roland Ekström, der einer meiner besten Freunde wurde, hatte es schon sehr gut gespielt und ich schaute fasziniert zu. Ich traute mich nicht, nach den Regeln zu fragen, versuchte aber, durch zuschauen diese zu erlernen.
In Freiburg gab es also dann die wöchentliche Chouette. Eine Chouette ist eine Spielvariante des Backgammon, bei der viele Teilnehmer mitmachen können, im Prinzip unbeschränkt. Einer sitzt dann „in der box“, er ist der Einzelspieler, er spielt gegen alle anderen. Sein Gegner, der die Steine setzt und würfelt, ist der „captain“ des teams. Der Einzelspieler spielt also gegen alle anderen, diese dürfen sich allerdings beraten. Das wird meist nur bei kritischen Entscheidungen gemacht, sonst zieht sich das Spiel zu sehr in die Länge. Ziel des „captains“ ist es dann, das Spiel zu gewinnen. Sollte ihm dies gelingen, kommt er selber in die „box“ und wird Einzelspieler. Der „captain“ wird dann reihum ausgetauscht. Jeder bekommt die Chance, Einzelspieler zu werden. Der Einzelspieler kann viel gewinnen, von allen Teilnehmern nämlich. Und wenn man einen „Lauf“ hat, gerade da und in der „box“, dann gewinnt man ja in jedem Spiel vielfach.
Ich war nun der Anfänger, wusste gerade mal, wie die Steine ziehen. Ich war zum Verlierer in der Runde auserkoren, wurde, wenn auch manchmal nur heimlich, ausgelacht. Und es wurde um Geld gespielt.
Ja, wir haben alle Spiele um Geld gespielt, natürlich kleines Geld. Auch im yamb ging es um Geld. Aber wenn man mal sehr viel Glück hatte, konnte man vielleicht 60 DM gewinnen. Nicht genug, um eine Freundschaft zu zerschlagen. Christians und meine Wut bekamen immer die Würfel zu spüren. Mal landeten sie auf einem Hausdach, mal im Teich. Wenn sie mal wieder weg waren, musste man immer nach Basel fahren, 60 km, um neue, nämlich nur die echten Pokerwürfel aus der Schweiz waren unser „Spielmaterial“.
Aber zurück zum Backgammon. Das Spiel war wirklich faszinierend. Außerdem hatte ich das Gefühl, das Spiel liegt mir. Ich dachte, ich war in einem früheren Leben schon mal Backgammon Profi, so sehr lag es mir.
Also habe ich mir Bücher besorgt, alle Bücher, die ich bekommen konnte. Und ich habe sie verschlungen. Dann wusste ich noch, dass Professor Yamboss, Dario,Doncevic der auch bei meiner ersten Deutschen Jugendmeisterschaft im Schach 1977 Deutscher Meister wurde, ein Experte in diesem Spiel war (außerdem war Dario auch noch ein exzellenter Bridge und Backgammon Spieler; der Mann konnte was; man wird ja auch nicht einfach so zum Professor erkoren, wenn auch nur h.c.). Und er hatte amerikanische Backgammon Bücher. Also bin ich auf nach Koblenz. Ich habe mir alle seine Bücher kopiert.
Das beste Buch war die Bibel des Backgammon, Paul Magriels Buch, schlicht „Backgammon“ genannt. Aber wer das gelesen (und verstanden) hatte, hatte den ersten (wichtigsten) Schritt zum Experten gemacht. Sagen wir mal, erforderlich ist Verstehen-Verinnerlichen, wenn Sie wissen, was ich meine.
In der Runde in Freiburg war ich bald Gewinner, sie hat sich dann auch schnell wieder aufgelöst. Aber es gab andere Leute, die um höhere Summen gespielt haben. Plötzlich 10 DM pro Punkt und sogar mehr, also richtiges Geld. Es konnte schon teuer werden, in die Hunderte gehen. Einmal, ganz am Anfang, habe ich 300 DM an einem Tag verdient. Das führte dann dazu, dass ich als noch völlig Ahnungsloser diese 300 DM mit der Anzahl der Tage im Jahr multiplizierte und mir ein Leben im Reichtum ausmalte. Tja, Kinderträume halt.
Aber Freiburg war klein.
2) Hamburg
So ergab es sich, dass ich eines Tages nach Hamburg kam. Dort gab es das berühmte, legendäre „Schachcafé“, Schanzenstrasse. Und dort wurde richtig gezockt. In Hamburg kannte ich auch viele Leute. Sicher, ich spielte ja immer noch in der Schachbundesliga. Und Hamburg war unser Reisepartner. Ich spielte ja (wieder) für meinen Heimatverein Lasker-Steglitz, für einen Berliner Verein also, der den Aufstieg in die 1. Liga geschafft hatte.
Und dort, in diesem Schachcafé, wurde auch gespielt, noch mehr Leute, höhere Beträge. Das Studium war damit quasi gescheitert. Ich war nicht zu bremsen. Dazu traf ich noch diese Frau, Britta. Ich hab mich gleich verliebt. Also Wohnungswechsel, Hamburg. Es war ein kleiner Boom ausgebrochen. Viele Leute spielten plötzlich das Spiel, und dankenswerterweise ziemlich schwach. Also es gab einiges zu verdienen. Nicht großartig aber ausreichend. Nur bei Britta konnte ich einfach nicht landen. Irgendwas hab ich falsch gemacht. Nichts mehr zu machen. Alle Türen zu. Eine falsche Bemerkung. Oder etwa doch? Mit Hartnäckig- aber Unaufdringlichkeit? Mal sehen…
Zufällig war auch in Hamburg das erste offizielle Backgammonturnier. Ich war sehr aufgeregt. Hatte ich wirklich besondere Fähigkeiten? Startgeld war 100 DM, also ein ganz stattlicher Betrag. Allerdings waren die Glücksspielgesetze in Deutschland so, dass es keine Geldpreise geben durfte. Also der Sieger erhielt zwei goldene Würfel. Aber ich hatte schon einen Abnehmer, angeblicher Wert 2000 DM. Und ich gewann tatsächlich!
Mein Gegner im Finale war übrigens ein gewisser Gerd Schiesser, von dem später noch die Rede sein wird. Aber beim Stande von 16:16 und einem guten Anwurf von mir bot er mir Teilung an. Ich akzeptierte, wohl aus Angst, der zweite Preis waren silberne Würfel. Also hatte jeder nachher einen goldenen und einen silbernen Würfel, Turniersieger wurde dennoch ich.
Ich bekam 600 DM für den goldenen, für den silbernen weiß ich es nicht mehr. Aber immerhin, es war ein bisschen Geld. Noch wertvoller war für mich ideell der Turniersieg. Es schien so einfach.
Ein paar Monate habe ich mich dann in Hamburg aufgehalten. Die Nächte wurden im Schachcafé verbracht. Der Tag zum Schlafen, Studieren (aber nur Backgammon) und auch Faulenzen genutzt. Mein Freund und Partner war Andreas Förster. Und Andreas war überragend. Er hat zwar sicher viel von mir gelernt (Widerspruch, Andreas?), aber er war der Killer. Ich konnte ihm blind vertrauen. Und vor allem hat er alle besiegt. Oftmals kam er zu mir, nach einer längeren Nacht und Sitzung und drückte mir 400 DM in die Hand, er hatte gewonnen, 800, 400 war mein Teil. Ich hab es nicht anders gemacht. Aber ich hab mich schwerer getan mit dem gewinnen, zumindest im reinen „moneygame“, im Geldspiel.
3) München
Aber es reichte zum Leben, wir verdienten ganz gut. Dann fühlten wir uns natürlich stark. Wir dachten, wir wären die Besten. Aber es gab Legenden. Eine war, dass in München wirklich die creme de la creme des Backgammon beheimatet ist. Wir hatten also ein paar Tausend DM zusammen. Und wir wagten es. Aufbruch nach München, in die Höhle des Löwen.
Und in München erwartete uns wirklich eine andere Welt. Das spürte man gleich. Ich konnte zwar bei meinem guten Freund, dem „Bobby Taeger, den ich seit dem Schachturnier 1980 in Badalona, Spanien, kannte, unterkommen. Aber gewinnen konnten wir dort nichts. Sagen wir mal: Ganz im Gegenteil. Wir haben alles verloren. Andreas traf auf Peter Blachian. Der war schon mal in Monte Carlo, bei der Backgammonweltmeisterschaft. Auch Karl Laubmeier, ein richtiger Gigant. Dazu traf ich erstmals Phillip Marmorstein, der später selber Weltmeister wurde.
Also nach ca. 2 Wochen war unser Geld komplett alle. Andreas ging, etwas kleinlaut, zurück nach Hamburg. Ich blieb noch ein paar Tage bei „Bobby“. Wir machten Radtouren und badeten in der Isar („brrr“). Ohne Geld hat man eben andere Freuden im Leben. Nur muss man irgendwann was essen. Und das kann ohne Geld schon mal zum Problem werden.
4) Bad Aibling
Also Bobby wollte zu einem Schachturnier nach Bad Aibling. Oh, Schach, das hab ich doch schon mal gehört? Warum also nicht? Auf nach Bad Aibling. Aber meine Taschen waren wirklich leer. Doch was für Zufälle es gibt: Ich lernte am ersten Abend die Tochter des Turnierleiters kennen. Wirklich attraktiv und noch dazu mit Motorrad, so eine war das. Soll ich jetzt sagen, für die erste Nacht war also gesorgt?
Ein bisschen war es wohl so, aber es waren eher alle Nächte. Ich weiß nicht mehr, wie und wieso. Aber sie brachte mich im Hotel unter, ohne Bedingungen, nennen wir es „gratis“? Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich von diesem tollen Mädchen nicht mal den Namen weiß. War der Nachname „Nuhr“? Danken tu ich dir trotzdem!
Also, ich war untergebracht und bekam sogar gelegentlich etwas zu essen. Es war ein Open Turnier, jeden Tag eine Partie, 9 Runden. Es war eine Art k.o. Turnier. Aber wenn man verlor, spielte man weiter, eben im Open. Sieger wurde aber nur einer, und zwar derjenige, der nie ausschied, wie im Tennis. Endete eine Partie Remis, bekam man zwar für das Open nur den halben Punkt. Aber der Sieger wurde anschließend durch eine oder zwei Blitzpartien ermittelt.
Also ich gewann und gewann. Und wenn ich mal Remis spielte, gewann ich im Blitz. Irgendwann musste ich auch gegen Bobby himself ran. Aber ich gewann auch da. Der stärkste Gegner im Turnier war Klaus Klundt. Er hatte Deutschland sogar mal bei einer Schacholympiade vertreten. Aber, einmal im Lauf, besiegte ich auch ihn, und zwar im Finale. Ich war Turniersieger!
Ich hatte mich im Verlaufe des Turniers schon mal nach den Preisen erkundigt, versteht sich. Bad Aibling war ein familiäres Turnier (richtig, sehr familiär?!). Es gab nur Sachpreise, das wusste ich schon. Aber es hieß „wertvolle Sachpreise“. In früheren Jahren gab es wohl mal Farbfernseher oder Fahrräder. Ich hoffte also auf einen solchen Preis, um das erworbene „Gerät“ dann umgehend zu verschleudern. Der Hunger wurde doch immer stärker.
Ich war also Turniersieger geworden. Jetzt war die Zeit der Enthüllung. Und was durfte ich feststellen, was der erste, also der wertvollste Preis war? Eine bestickte Kuhhaut! Das konnte doch nicht wahr sein! Ich fühlte mich, neudeutsch, vera…
Ich habe also die Zeit der Siegerehrung im wunderschönen Park von Bad Aibling verbracht. Das einzig Essbare, was ich unter den Preisen ausmachen konnte, war übrigens eine Schachtel Pralinen.
Die Tochter des Turnierleiters suchte mich, richtigerweise im Park. Der Bürgermeister wäre dort, ich müsse hinein kommen. Ich lehnte ab. Ich sagte, der einzige Preis, der für mich in Frage käme, wären die Pralinen. Und das würde ich dem Veranstalter auch nicht zumuten wollen. Ich war wirklich sehr beleidigt, und hungrig.
Was soll ich Ihnen sagen? Ich erinnerte mich an ein Buch von Ernest Hemmingway, was ich 16-jährig mal gelesen hatte: „Der Sieger geht leer aus.“ Ich hatte immer versucht, den Sinn des Titels zu ergründen. So einfach war die Antwort…
Kurz nach der Siegerehrung erfuhr ich, dass ich lebenslang gesperrt bin für das Turnier in Bad Aibling… Klaus Klundt nahm mich mit, er hatte die Kuhhaut, zurück nach München.
Und noch etwas. Ich habe gesündigt, ich beichte hier: Im Verlaufe des Turniers habe ich etliche Spieler kennen gelernt. Einen davon wagte ich, zu fragen, ob er mir etwas Geld geben könnte. Ich fand ein „Opfer“. Er stellte mir einen Scheck aus über 400 DM. Dazu gab er mir seine Bankverbindung. Seitdem ist der Kontakt abgerissen…
Was tut man nicht alles, wenn der Magen knurrt?