Der König der Reporter: Marcel Reif
Der Mann, an dem sich offensichtlich alle orientieren, der sozusagen „die pace“ macht, der das Tempo und damit – auf Berichterstattung übertragen — die Tonart einschlägt, den Jargon vorgibt, der die Richtung vorgibt, der Vorkämpfer, dem schon so zahlreiche Fernsehgeräte aufgrund der glücklicherweise verfügbaren Aus-, Umschalt- oder Tonabwürgoption nicht zum Opfer gefallen sind, der aufgrund dessen geeignet wäre, eine moderne Foltermethode auszuüben, in der die Flucht auf diese Art unmöglich gemacht würde. “Du bleibts hier sitzen und hörst zu.” “Nein, bitte, nur das nicht! Ich gestehe alles!”
Sein Name: Marcel Reif. Der Vorgänger seines jetzigen Arbeitgebers, “Premiere”, ist ihm schon zum Opfer gefallen, hat er – und seine Gefolgsleute – ruiniert, hingerichtet, nun ist der Nachfolger “Sky” an der Reihe. Noch haben die Engländer ein paar Euro auf der hohen Kante, weil es in England läuft, weil man nicht Leute belehrt, bevormundet, ihnen alles madig macht, weil man dort in einem Tonfall vorträgt, dass es hier etwas zu sehen gibt, dass man hier und bei diesem Ereignis nun wirklich dabei sein muss, dass man hier etwas zu verpassen hätte, dass hier Spannung und Unterhaltung großgeschrieben wird und dass man als Kommentator selbst gespannt ist — gegenüber der hierzulande einzig anzutreffenden Klugscheiberei und Besserwisserei, gelangweilt und genervt vorgetragen.
“Ein schwaches Spiel.” Wichtig, dass dieser Satz , einmal auf Schallplatte aufgezeichnet – wir rationalisieren, wo wir können: spart jede Menge Arbeit – in regelmäßigen Abständen per Knopfdruck abgespielt wird, damit jeder, der sich zufällig auf den Kanal verirrt auch ja rechtzeitig Bescheid weiß: hier läuft gar nichts. Bitte umschalten!
Der Guru der Reportergilde hat also befunden, dass es grundsätzliche Mängel gibt, die allerdings regelmäßig erst während der Spiele zutage treten. Aufgrund des gering ausgeprägten Gedächtnisvermögens ist er allerdings offensichtlich jedes Mal selbst wieder davon überrascht. Vor einem Spiel scheint er nämlich jedes Mal, wenn auch weiterhin und durchgehend herablassend, noch eine Art von Spannung suggerieren zu wollen, eine ganz minimal vermittelte Erwartungsfreude, die er selbst vermutlich nur so umschreiben könnte: „Nachdem ich letzte Woche alle Mängel in meiner Übertragung aufgedeckt habe – und ich betone ALLE –, besteht die Hoffnung, dass die Leute das verstanden und verinnerlicht haben, und es besteht die leise Hoffnung, dass sie die gezogenen Lehren heute umsetzen werden.“ Im Hintergrund steht wohl die Überlegung, dass man in den Genuss seiner Lehren immerhin ein bis drei Mal pro Woche kommt, die übrige Zeit hätte man ja dann noch,– als Trainer oder Spieler – um sich die Reportage wieder und wieder anzuhören, sich anhand dessen seiner eigenen riesigen Fehler gewahr zu werden – und endlich, endlich daraus zu lernen und sie abzustellen.
Wobei: wenn man es sich genau bedenkt, dann wäre die Frage, wie das Spiel eigentlich aussehen müsste, wie die Spielzüge, damit er zufrieden wäre, damit er von einem „tollen Spiel“ spräche oder von einer „gelungenen Aktion“? Denn es gibt immer nur zwei Möglichkeiten: 1) der Standardfall tritt ein und ein Angriff führt zu keinem Tor. Dann darf man sich eigentlich während des gesamten Angriffes anhören, wie er richtig durchzuführen gewesen wäre, damit es ein Tor werden könnte, oder 2) der Ausnahmefall tritt ein und der Angriff wird erfolgreich abgeschlossen, woraufhin man erfährt, wie einfach das war, da der Gegner von der 1 bis zur 11 gepennt hat. „Gut“ geht also nicht. Demgegenüber ist der Allmächtige jedenfalls ausgesprochen gnädig.
Hier nun mal kurz ein kleiner Auszug, wahllos herausgepickter Absonderungen, die in der Woche vom 20.bis 26. August 2010 — Bundesligaauftakt und Champions League Quali standen an — von ihm zu hören waren.
Er durfte sich, wie es dem Herrn und Meister selbstverständlich persönlich zusteht, das prächtigste aller Spiele auswählen. Seine Wahl fiel auf die Paarung Hamburger SV – Schalke 04. Es war das Spiel vom Samstagabend, 18 Uhr 30, also eine Einzelübertragung. Und man muss doch einfach zugeben, dass nicht nur die Paarung allein einen besonderen Knüller verspricht, sondern auch das Auftreten zweier absoluter Weltstars – van Niestelrooy und Raul –, mindestens einer davon längst in den Legendenstatus erhoben, als ewiger Torschützenkönig der Champions League, für zusätzliches und damit weit hinreichendes Spektakel sorgen würde. Von den anderen besonders hervorzuheben noch Zé Roberto, von dessen 36 Jahren man so gar nichts spüren mag und der regelmäßig überragende Leistungen abliefert.
Wie gesagt, wahllos herausgepickt. Das Spiel war toll und spannend, auf höchstem Niveau geführt und zu keinem Zeitpunkt entschieden. Wenn das einem Reporter nicht genügt, um für das Vermitteln von Spannung zu sorgen – bitte, wie sollte das Spiel dann aussehen? Lieber ein 0:0 ohne Tore und Chancen?
Der HSV drückte, war über die gesamte erste Hälfte die Ton angebende Mannschaft und es gelang ihm, nach der Pause durch ein in der Vollendung perfektes Tor — die Körperhaltung, die Bewegung zum Ball, der winzige Moment, in denen die Schritte beschleunigt wurden, um vor dem Verteidiger an den Ball zu gelangen, die perfekte Ball- und Körperkontrolle beim Abschluss – durch Ruud von Niestelrooy das verdiente 1:0. Marcel Reif schien für einen Moment ebenfalls begeistert. Das muss man einfach sein, wenn man sich irgendwie den „Fußball Anhänger“ auf die Fahnen schreiben möchte, aber selbst wenn man es nicht wäre und kommentieren „müsste“ könnte man doch nur Gutes sagen, dürfte man nur Gutes sagen? Nun ja, Marcel Reif begnügte sich damit, die Begeisterung ausschließlich in den Tonfall zu legen – vermutlich erschrak er über seine eigenen Empfindungen – und rief ein lang gezogenes „van Niestelrooy“ aus. Nein, wirklich, er rief es, es klang beinahe emotional, fast nach echter Begeisterung. Nur packte ihn sofort wieder die selbst auferlegte Verpflichtung zur Nüchternheit oder was auch immer es ist, das Verbot, Begeisterung, hier und an dieser Stelle zum Ausdruck zu bringen, die Sorge um die Herzkranken vor dem TV, die Angst davor, von eigenen Gefühlen davongetragen zu werden, und, noch bevor der Virus, den er eben in Umlauf zu bringen bereit gewesen schien, jener Virus der Emotionalität und Leidenschaft, der Millionen von Zuschauern irgendwann mal in ihrer Kindheit angesteckt hatte und den sie nicht mehr los werden und der auf die wenigen zuschauenden und noch nicht infizierten überzuspringen drohte, noch bevor der Fernsehzuschauer es überhaupt aus dem Sessel schaffen konnte, schob er, in einem bereits deutlich abfallenden Tonfall hinterher: „… wer sonst.“
Genau das ist die Frage, die einen jeden in dem Augenblick bewegte. „Wer sonst“? Man beginnt sofort nachzudenken, gell? Das kann doch nur einer machen? Genau. Wer anders als van Niestelrooy könnte jemals das Tor finden? Der Verweis auf so viel ihn umgebende Hilflosigkeit, oder worum geht es? Soll hier Sachverstand unter Beweis gestellt werden? Oder nein, er wusste bereits, dass es passieren würde, enthielt es uns vor, und nun konnte er es ja endlich rauslassen? „Wer sonst?“ Man frage sich das bitt selbst : wer könnte es sonst gewesen sein? Doch nicht etwa der Petric? Nee, der Stolperkönig trifft doch nicht mal n Lastwagen aus 3 Metern, nee, wenn einer, dann van Niestelrooy. Da hat er Recht.
Das durch den Tonfall (und hier ist tatsächlich der Fall, der Abfall der Stimme gemeint) angeregte Nachdenken, überhaupt schon die Aussprache dieses so beiläufigen Satzes, tötet jede Emotionalität. Er ist längst wieder „gefasst“. Das sowieso. Er zieht den Zuschauer aber mit runter. Das scheint heilige Pflicht. “Dass ihr euch auch ja nicht erfreut! Hier wird gearbeitet. Ich tue das, die Spieler tun das. Nüchternheit ist gefragt. Kommen Sie schön wieder runter von Ihrer Wolke, dass hier irgendetwas Erfreuliches, Schönes, Sehenswertes passiert.”
Damit war der Zuschauer aber lange noch nicht weit genug in seinen Sessel zurückgefallen, war bereits jegliche Leidenschaft und Begeisterung verflogen, nein. Er schob gleich hinterher, damit auch ja jeder weiß, wie das Tor zustande kam und welchem glücklichen Umstand der Torschütze das zu verdanken hat, denn, wie man weiß, Gott sieht einfach alles und irgendjemand schwingt sich grad auf zu ihm: „… aber sehr nachlässig von Matip da, das sehen wir gleich.“ Die ganze gewollte, beabsichtigte Ernüchterung, die er zu verbreiten gedenkt, damit man sich ja nicht sehr, zu sehr oder überhaupt über ein Tor freuen kann hat in etwa halb so lange gedauert, wie der brasilianische Sprecher braucht, um Luft zu holen, damit er sein emotionales, endlos langes „gooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooool“ ausrufen kann, welchem er dann meist noch das staccato „gol gol gol gol gol“ folgen lässt. Welche der beiden “Verarbeitungsmethoden” wäre vorzuziehen, was verspricht mehr Zuhörer/Zuschauer? Wo fühlt man sich gut aufgehoben und gut unterhalten?
Der Zuschauer hierzulande soll ab jetzt auf die Wiederholung gespannt sein, aber nur, damit er Zeuge dieser „großen Nachlässigkeit“ von Matip werden kann. Oder damit man sich nach Ansicht der Bilder verneigen kann vor so viel Sachverstand?
So ganz richtig wollte die Zeitlupe übrigens dann eine „Nachlässigkeit, die wir gleich zu sehen bekommen“, nicht aufdecken, so dass der Verweis darauf kurzerhand unter den Tisch gekehrt wurde. Das Versprechen, sie zu sehen, wurde nicht eingehalten. Sie existierte vielleicht gar nicht? Wichtig ist auch eher, dass es gesagt wird, und zwar genau jetzt. Freuen war früher. Heute werden Fehler aufgedeckt. Schamlos und gnadenlos. Und wenn keine da sind, werden sie erfunden.
Eine Zumutung, so der verbreitete Tenor, was wir hier zu sehen bekommen. Staunen, sich freuen, begeistert sein, das ist was für Laien. Ein echter Experte legt gleich die Finger in die Wunden, selbst wenn die Wunden erst noch eigenhändig mit Quaken gerissen werden müssen, und eigentlich im Trommelfell und im Logikverständnis liegen. Unsinn hoch drei, dafür gepaart mit einer dümmlichen Nüchternheit, die einem jegliches Vergnügen verleidet. Ton aus, da hilft nichts anderes. Wie es Tucholsky einst über die Essaysisten sagte: “Eine Sprache, aufegeblasen wie ein Luftballon, ein Stich mit der Nadel der Vernunft hinein – und es bleibt nichts als ein Häuflein schlechter Grammatik.” An der hohen Schule für Reporter-Deutsch wird allerdings unterrichtet, wie man den Luftballon nicht einmal vorher aufzublasen hat. “Schön immer Ball flach halten.”
Kurz danach wurde der weiterhin so bedauerlich laienhafte, aber vielleicht bisher trotz aller verbreiteten und ihm aufgezwungenen Emotionslosigkeit immer noch gespannte oder gebannte Zuschauer aufs Neue belehrt: „da kommtn bisschen wenig von Schalke nach dem Rückstand.“ Aha, er, der Schalke Fan hätte sich etwas mehr gewünscht? Oder wie kommt die plötzliche Parteilichkeit zustande? Ein Schalke Fan zum andern könnte das sagen, würde es zwar nicht, da er eher hoffen würde, aber es würde der Sorge (noch mehr) Ausdruck verleihen, dass das Spiel verloren gehen könnte. Was soll die Bemerkung vom Reporter? Sollen wir uns alle wünschen, dass „ein bisschen mehr kommt?“ Oder was? Was ist mit den HSV Anhängern, was mit den neutralen?
Für den Zuschauer, der zu keinem Zeitpunkt für eine der beiden Mannschaften ist, sondern nur für tollen Fußball, kann es “objektiv” nur so aussehen: Toll, dass ein Tor gefallen ist. Gut, dass es für die Mannschaft gefallen ist, die besser war. Mal sehn, was jetzt passiert. Ausschließlich in dieser Position hätte sich der Sprecher zu befinden – es sei denn, er würde eine Anhängerschaft vorab zu erkennen geben, eine Bevorzugung, was dann zwar unschicklich wäre, aber nur vom Veranstalter, der auf Neutralität bedacht sein müsste. „Es kommt zu wenig von Schalke“ ist deplatziert – und, wie gewohnt, negativ. Dummdreist fehlte noch?
Außerdem, so folgert man als verständiger Zuschauer, ahnt man recht gut, wie die Kommentierung ausfallen würde, wenn tatsächlich „von Schalke mehr kommen würde“. Es hieße automatisch: „da gibt der HSV nach der Führung die Initiative ab“, „der HSV zieht sich zu weit zurück“, oder „sie laden den Gegner ja regelrecht ein zum Tore schießen“ oder „da schalten sie schon früh auf Ergebnisverwaltung um, zu früh?“. Am einfachsten: “der HSV seit der Führung zu passiv.”
In diesem Spiel kam zu wenig von Schalke. Das war nun mal postuliert (allerdings gilt eine leicht modifizierte, berühmte Äußerung eines Politikers noch viel mehr für die Berichterstatter: „Was interessiert mich mein dummes Geschwätz von vor 10 Sekunden?“). Dann kam der Platzverweis gegen den Schalker Höwedes dazu. Natürlich weiß auch Schalke, dass es nun kaum noch zu packen ist. Immerhin blieb es spannend, da „nur“ das eine Tor fehlte. Marcel Reif orakelte, ebenfalls einer banalen, aber unwahren, Erkenntnis folgend. Es klang so: „Das ist der Vorwurf, den man ihnen nicht ersparen kann. 1:0. Nur 1:0.“
Zunächst mal negativ. Wie gewohnt. Dann: „.. der Vorwurf, …“. Möchte man einen Vorwurf machen? Nein, man muss, kann man nicht ersparen. Nur denkt man an sich gar nicht darüber nach. Jeder sieht doch, was los ist. Sie hatten schon vor dem 1:0 Chancen, sie hatten auch danach ein paar recht gute Chancen, haben einfach gut gespielt. Dieses „Vorwurf machen“ ist völlig fehl am Platze. Die Perspektive für die „Argumentation“ muss ja auch wieder geklärt werden: Als HSV-Anhänger ist man natürlich total begeistert von dem Spiel der eigenen Mannschaft. Es stört einen vielleicht nicht einmal, dass es „nur“ 1:0 steht, weil man gerade diese Anspannung daran liebt. Sicher, man möchte schon irgendwann gewonnen haben und viele, sicher alle Fans, wären auch dankbar für ein 2:0. Dennoch spürt man, dass es häufig genug vorkommt, dass man die ganze Zeit so gut spielt wie sie es getan haben, und gar nicht führt oder sogar zurückliegt. Man führt, man sieht ein tolles Spiel, man zittert ein wenig, ist begeistert und voller Vorfreude. Wozu „einen Vorwurf“ machen? Deplatziert, dumm, unangemessen. Vor allem herrscht im Stadion spürbar Begeisterung, die auch einem Reporter auffallen dürfte, an der er sich orientieren könnte. Der „Vorwurf“ kommt von ihm, und er ist total daneben. Für den Fernsehzuschauer (den einen, der noch zuhörte) sieht es so aus: “Es macht so oder so keinen Spaß. Mir nicht, und ich habe die Verantwortung zu tragen, dass es Ihnen auch so geht.”
Das, wie man es kommentieren müsste – zumal gerade an dem „Vorwurf“ jegliche Menschlichkeit verloren gegangen ist –, sieht so aus. „Mensch, nun haben sie so toll gespielt, so viele Chancen gehabt, da wäre ein 2:0 verdient. Und als Freund des Spieles Fußball wünscht man sich, dass das nicht am Ende noch gegen sie ausgeht.“ Wenn man überhaupt etwas in die Richtung sagen möchte. Als Kommentator und sonstiger Zuschauer sollte man eher dankbar für die erhalten gebliebene Spannung sein. Vor allem gäbe es für den aufmerksamen Berichterstatter genügend spannende Szenen auf dem Rasen, über die es zu erzählen lohnte. Ja, schade, das galt „für den aufmerksamen“. Hatten wir grad keinen zur Verfügung.
Das Orakeln ging weiter in der gewohnten Form: „wer so viele Chancen nicht nutzt, wird am Ende, einem alten Sprichwort zufolge…“ na, und so weiter. Bis wirklich das 1:1 fiel. Es gab nur die eine Chance. Es ist das, was den Fußball irgendwie mit ausmacht. Manchmal genügt eine Chance. Es kann passieren, es bedeutet, dass man immer eine Motivation zu schauen hat, zumindest, so lange es eng steht vom Ergebnis. Dieses Tor war toll erzielt, akrobatisch, passte genau, der Ball, nur nicht das Tor zum Spiel. Es war ungerecht und kein einziger Zacken aus der (selbst gebastelten und aufgesetzten) Krone könnte demjenigen herausfallen, der das erkennen und dem Zuschauer mitteilen würde.
Marcel Reif natürlich, dass auch ja keiner aufspringt: „Da isses passiert. 1:1.“ Das wars. Nix von toll gemacht – und das war es wirklich — nichts von vermittelter Spannung, nein, wäre hier auch gar nicht angebracht, hier müsste es einfach mal die Befähigung geben, Bedauern ausdrücken zu können. „Das ist nicht verdient. Es tut einem leid für den HSV, denn sie waren durchgehend klar überlegen. Aber noch ist ja nicht Schluss!“ Es ist das einzig passende. Hier das Orakel für erfüllt zu erklären ist einfach nur armselig. „Da isses passiert.“ Sozusagen „das, was ich die ganze Zeit vorhergesagt habe.“ Allerdings, ich habe es zwar irgendwie vorhergesagt, aber nur für den Fall, dass es auch eintritt. Wenn es nicht geschehen wäre, wäre davon weit und breit nichts mehr zu hören gewesen. Das ist klar.
Der HSV spielte einfach weiter so wie die ganze Zeit. Und dafür gebührt ihm jede Menge Hochachtung, denn ein solcher Schock ist wirklich nicht leicht zu verdauen. Kurz vor Schluss – also nur wenige Minuten danach — drang der ewig junge Zé Roberto auf links durch, van Niestelrooy erkannte ein weiteres Mal die Lücke und vollstreckte zum 2:1. Dies als „nur den Fuß reingehalten“ zu bezeichnen wird der Sache nicht gerecht. Es gehört viel mehr dazu. Die perfekte Körperkontrolle an erster Stelle genannt, aber auch das Erspüren, Erahnen der Situation. Antizipation wird das gerne genannt. Die Weltklasse stach heraus. Von beiden Akteuren.
Übrigens, damit die Objektivität für hier Geschriebenes nicht in zu große Zweifel gezogen wird: Marcel Reif sprach nach dem Spiel von einem „guten, spannenden Fußballspiel. Ein toller, gelungener Saisonauftakt.“ Hätte er mal während des Spiels so vermitteln sollen – vielleicht hätte ihm dann noch jemand zugehört beim Resümee?
Marcel Reif hatte eine weitere Wahl für die Woche, und die fiel auf Werder Bremen in der Champions League Quali bei Sampdoria Genua. Natürlich war auch hier das Feld bestellt, an sich zum Durchwinken für Werder Bremen. Denn ein 3:1 aus dem Hinspiel für die nominell leicht bessere Mannschaft schien ein solides Polster. Das im Hinspiel kurz vor Schluss kassierte Gegentor versprach zwar keinen Spaziergang, jedoch wäre für jeden, der das Hinspiel gesehen hat, ein 3:0 nach Spielverlauf ein zu deutliches Ergebnis gewesen. Abgesehen davon war durch dieses Tor mit etwas Spannung zu rechnen, andererseits die Hoffnung groß, dass man eine Feierstunde miterleben durfte. Das galt sicher auch für den Kommentator.
Grundsätzlich soll einmal der Umstand erwähnt werden, dass die Kommentierung hierzulande von einem Spiel mit Beteiligung einer deutschen Mannschaft gerne unter dem Motto der Parteilichkeit stehen darf. Das ist keine Frage. Der zu beobachtende Effekt ist nur leider der, dass diese eindeutig parteiische Tonart oftmals auf die Kommentierung inländischer Spiele übernommen wird. Das zeigt sich, als Beispiel nur, in dem oben erwähnten Satz von Marcel Reif: „..da kommt zu wenig von Schalke.“ Es ist der Satz, den man, falls man parteiisch wäre, sagen dürfte, vielleicht sogar müsste – ergänzend: für den Fall, dass es zufällig mal stimmen sollte. In die Kommentierung eines innerdeutschen Spieles passt es nicht, gehört da einfach nicht hin, nur wird eben Jargon geredet, und dieser ist, ein bisschen wie das Wort schon andeutet, nicht besonders reflektiert. Man hat gar nicht darüber nachgedacht, dass man eigentlich unparteiisch zu sein hat, spricht weiter „Jargon“.
Hier waren die Vorzeichen anders. Werder ist deutsch, Sampdoria italienisch, und abgesehen von einer lange währenden „Feindschaft“ – die sich natürlich weder auf das Reiseziel noch auf die importierte Küche bezieht – ging es gerade zwischen diesen beiden Ländern in der UEFA-Fünfjahreswertung um den vierten Champions League Startplatz.
Werder kassierte sehr bald zwei Gegentore. Bereits nach 14 Minuten war dadurch Sampdoria in der Vorhand, da sie aufgrund der Auswärtstorregel bei diesem Resultat – trotz der Summe von 3:3 – weiter wären. Logischerweise Ernüchterung in der Reporterkabine – oh, aha, es gab ja nie Leidenschaft, Vorfreude oder Begeisterung, sorry, Herr Reif — , die alsbald in handfeste und messerscharfe Kritik überging. Nun hat man als so kritischer Reporter keine klare Linie, ohne dies zu wissen. Denn an sich sind Verlierer, Mannschaften, die 0:2 zurückliegen, die bedauernswertesten Opfer vernichtender Kritik. Andererseits sind es im vorliegenden Fall gerade die Deutschen. Hm, was macht man nun? Na, weiter faseln, das kann nie schaden (klar, da eh keiner zuhört) und eine Orientierung suchen. An sich sollten die Deutschen ja weiter kommen, wäre auch für den Sender gut, hm, indirekt geht es auch um meinen Job, um meine Zukunft. Tja, aber was schlecht ist, muss auch als schlecht dargestellt werden. Insofern darf man ruhig ein bisschen Hacken. Zumal: Welcher Zuschauer möchte sich schon mit Verlierern identifizieren?
„Wenn sie nicht bald mehr tun“ oder „endlich aufwachen“, dann wird es „hier ein Desaster geben“. „Jetzt müssen sie bald die Reißleine ziehen, einen Fuß auf den Boden bekommen“ oder was auch immer. Lauter Banalitäten, die mit Sicherheit ungeeignet sind, um für Spannung zu sorgen. Der Zuschauer weiß auch so, dass die Lage kritisch ist. So vergingen insgesamt 70 Spielminuten, plus 15 Minuten Halbzeitpause. Dann passierte es: Sampdoria erzielte in der 83. Minute durch Cassano per Hacke das 3:0. Marcel Reif konnte nicht mehr an sich halten, er murmelte empört ins Mikrofon: „so, und nun ist es aus, Werder ist raus aus der Champions League. Das wars.“
Möglich, dass ein neben ihm sitzender Reporterkollege – ein deutschsprachiger – ihm in die Seite stieß, oder das die ersten Hausfrauen und Grundschüler empört anriefen, weil auch jene die angeblich „so komplizierte Europapokal Arithmetik“ längst verstanden haben. Jedenfalls gelang es ihm, Scham hin oder her, das innerhalb einer guten, aber für seine so zahlreichen Fans – äh, wenn man davon nur einen fände, da würde sich das Autogramm von diesem sicher lohnen, weil, das müsste aufgrund seiner absoluten Einzigartigkeit einen extrem hohen Wert haben – quälend langen Minute zu korrigieren: „Na, also Werder braucht weiterhin ein Tor, dann gäbe es Verlängerung.“
Nun, wenn man sich jetzt in die Rolle des Programmdirektors versetzt und sich erinnert, dass eine Dame für weit weniger als das – wie drückte es Olli Dittrich einmal so geschickt aus, „sie hätte Schalke null fünf gesagt, obwohl die vier null gewonnen hatten“ – vor die Tür gesetzt wurde, und sich zusätzlich erinnert, dass ein berühmter Trainer einmal während der Halbzeitpause geschasst wurde, dann müsste man die Reaktion eigentlich vorhersehen können: Es war der vorletzte Satz, den man von ihm ertragen musste. So etwas darf nun wirklich nicht passieren.
Wie kann man ein Spiel kommentieren für ein Millionen Publikum und nicht die einzelnen, möglichen Ausgänge mit ihren Folgewirkungen kennen? Noch viel mehr: Wenn man es wirklich nicht wüsste, mit welcher Dummheit, Dreistigkeit und Arroganz muss man dann ausgestattet sein, sich zu wagen, die Unwissenheit, Dummheit und Ignoranz sofort über den Äther zu blasen? Falls man sich tatsächlich so wenig mit der Materie beschäftigt hat und auskennt, dann wäre man ohnehin fehl am Platze – Schweigen wäre allemal ratsam, denn die Informationslücke war ja offensichtlich.
Es geht nicht, es kann nicht sein. Da gibt es nun wirklich kein Pardon, welches er selbst zum Beispiel Matip weiter oben nicht gewährte. Das ist, eine seiner so schicken Wortschöpfungen angewendet, „unterirdisch“. Es passt auch ein anderer, von ihm so häufig eingesetzter Spruch: „Den MUSS er machen“. Ja, das ist wahr, den konnte er, Herr Reif, ja, Sie ganz persönlich, einfach nicht daneben setzen. Falls man irgendetwas auf sich selbst – noch immer – hält bleibt nur der Rücktritt, sofern der Stuhl nicht längst vor der Tür steht, jedoch muss man wirklich annehmen, dass auch der Programmverantwortliche nicht zuhört, und das ist sehr, sehr ernst gemeint.
Zumal, zumal, zumal, es reicht damit, es kommt für diesen Fall noch hinzu, dass er geschlagene 85 Minuten Zeit hatte, sich auf dieses Szenario vorzubereiten, noch während des Spiels, sofern er es nicht als Hausaufgabe gemacht hätte, einmal kurz rekapitulieren. Hinspiel war 3:1 für Werder. Jetzt steht es 2:0. Werder braucht ein Tor, das haben wir schon mal geklärt — “komplizierte Arithmetik” und so –, sonst sind sie raus. Wenn sie eins machen steht es 1:2. Dann wären sie weiter. Wenn Sampdoria eins macht? Weiß nicht. Dann sind sie raus?
Wenn das 3:0 fiele, dann wäre man genau ein Tor entfernt vom Hinspielergebnis. Dieses eine Tor fehlte Werder. Geht es eigentlich noch einfacher? Nun steht es 3:0 – und ich befinde: “Das war es, Werder ist raus.” Es ist vermutlich der Unwillen, sich mit einem Verlierer zu identifizieren. “Die liegen 0:3 zurück und ich habe sie die ganze Zeit schon madig gemacht. Und jetzt soll ich ihnen die Daumen drücken oder sich mit ihren verbliebenen Chancen beschäftigen? Nein, die sind so schwach, jetzt sind sie endgültig und unwiderruflich raus, so schwach wie sie sind.”
Selbst wenn diese Erklärung der Wahrheit am nächsten käme: es wäre auf keinen Fall als “Entlastung” geeignet. Unüberlegt wäre geschmeichelt für etwas, was man nur als “dumm” bezeichnen kann. Zumal er ja nun mal dran blieb, bleiben musste, und die Folge bezeugen und rüberbringen musste. Könnte ja mal gelegentlich auffallen, dass man sich gehörig blamiert hat? Stattdessen wächst die Borniertheit.
Nachdem Werder dann tatsächlich das 1:3 in der dritten Minute der Nachspielzeit – für deutsche ist dieses Glück zur Selbstverständlichkeit geworden, im Ausland hat es ihnen durchgehend den Begriff „die schwarze Bestie“ eingebracht und dass es insofern relativ unkommentiert, unerkannt bleibt, darf einen nicht weiter wundern – das 1:3 gelang, wurde für Marcel Reif die Kommentierung noch einfacher. Der Prophet, der noch gerade 9 Minuten zuvor ein „das ist das Aus für Werder“ abgelassen hatte, orakelte nun schon wieder, direkt nach dem Tor: „Ja, jetzt allerdings sind sie klar im Vorteil. Psychologisch gesehen. Das kann Sampdoria nicht so leicht wegstecken. Die sind kräftemäßig am Ende.“ Also grad eben wusste er noch nicht einmal, dass ihnen dieses Tor zur Verlängerung reichen würde, und nun erdreistet er sich dazu, dass sie quasi weiter sind? Schuss nicht gehört?
Und, siehe da. Werder schaffte das 2:3. Vom Glück, was man einfach auch mal rüberbringen könnte, war keine Rede. Nein, Herr Reif fühlte sich nun bemüßigt, dem Zuschauer die Europapokal Arithmetik genau zu erklären. Was dieses Tor nun bedeutete, bei welchen Spielständen sie weiter kämen und wie sie noch rausfliegen würden. Vermutlich hat er sich das eine Band, welches den Mitschnitt einer der anrufenden Hausfrauen nach seiner — ach, „peinlichen“ trifft es gar nicht –Bemerkung darstellte, in der kurzen Unterbrechung vor der Verlängerung von der Redaktion vorlegen lassen, es angehört, und, sogar fast fehlerfrei, wiedergegeben. Wie kann man nur? Nein, peinlich trifft es wirklich nicht.
Während der Verlängerung nun, nach dem 2:3, nutzte er die weitere Gelegenheit, die italienischen Zuschauer im Stadion zu verhöhnen. Denn: diese waren einfach nur begeistert (von ihrer Mannschaft). Sie feierten ihre Helden und dankten ihr für das tolle Spiel und die tolle Leistung. Ein schönes Bild, so etwas zu sehen und zu hören, nichts weiter, und es wurde einfach nur der Situation gerecht. Wie schwer ist es, das anzuerkennen? Sampdoria hat ein ganz phantastisches Spiel gemacht, von der ersten bis zur letzten Minute, was sich in dem 3:1 nach 90 Minuten auch ausreichend gut widerspiegelt. Dazu noch waren sie nur eine gute Minute von einem Traumziel entfernt. Die italienischen Zuschauer wussten das zu schätzen, dankten und feierten, sich und ihre Mannschaft. Ein bisschen drückt es auch die Kapitulation vor der Bestie aus. „Wir können alles schaffen, wir können den Gegner vernichtend schlagen, wir spielen bärenstark. Aber eines können wir eben nicht: Die schwarze Bestie bezwingen. Sie hat nicht nur sieben Köpfe und sieben Leben, sondern auch noch die gigantischen Tentakel, von denen sie irgendwann einen entscheidend ausfährt. Dazu hat sie, wenn gar nichts mehr geht, Gottes Hilfe.“
Marcel Reif bedauerte und belächelte die Zuschauer. Jetzt auch noch hämisch sein? Nicht nur, dass die deutsche Mannschaft gerade noch von der Schippe gesprungen ist – wie man doch einfach merken muss? –, auch er hat sich doch ausreichend blamiert. Nein, man kann sofort wieder hacken, höhnen, auslachen. Genau, peinlich ist das falsche Wort dafür, da muss mal eins erfunden werden… marcelunreifisch?