Das Thesenprinzip
Der Aufbau des gesamten Textes soll in etwa so aussehen: es werden ein paar Thesen aufgestellt, diese werden nach Möglichkeit gut belegt, es werden die Ursachen gesucht, es werden, Auswirkungen, Begleit- und/oder Folgeerscheinungen beleuchtet und es werden Alternativen angeboten.
Mit dem denkbaren und geplanten Aufzeigen von Alternativen wäre bereits angedeutet, dass es sich in der Regel um Missstände handelt, welche aufgezeigt werden. Wobei der Ansatz dennoch der positive bleibt: möge der Fußball möglichst lange erhalten bleiben und man (mit „man“ wäre tatsächlich jeder gemeint, sogar derjenige, der das Spiel entweder noch nie verfolgt hat oder sich von der Leidenschaft verabschiedet hat, aus diversen zugelassenen Gründen) noch jede Menge Freude daran hat.
Diese Thesen haben etliche Gemeinsamkeiten. Unter Anderem sind sie ohnehin miteinander verwoben, einem Uhrwerk vergleichbar, wo die Rädchen ineinander greifen müssen, damit man die Zeit ablesen kann, oder einem Puzzlespiel, welches erst ein klares Bild ergibt, wenn jedes Teilchen am richtigen Platz liegt. Eine weitere Gemeinsamkeit wäre: sie sind ziemlich einzigartig. Dies bringt jedoch bereits eine bedenkliche Gemeinsamkeit einher: sie werden reflexartig angezweifelt. Jeder, der sich mit Fußball auskennt – und das ist, genau wie das „man“ oben tatsächlich „jeder“, wobei hier die Einschränkung zuträfe, die oben ausgeschlossen wurde; jeder, der sich derzeit für Fußball interessiert –, kann sich dieses Reflex erwehren. Gerade wegen dieser Eigenschaft: Reflex. Über jenen hat man nämlich keine Kontrolle.
Um es direkt am Beispiel aufzuzeigen müsste man eine These aufstellen, die in etwa mit jenem Wortlaut begänne: „Der Videobweis muss her, weil…“. Das Problem tauchte dann nicht zwingend auf. Hier wird der Betroffene – Leser in dem Fall – durchaus erst einmal weiter lesen. Kein Reflex, kein direkter Widerstand. Er wird jedoch aufmerksam lesen, die These hätte sogar die Chance, seine eigenen Gedanken zu reflektieren, möglicherweise diesen zuwider laufen oder einige Ergänzungen verdienen, nach seiner Ansicht, in aller Regel jedoch dürfte er es eigentlich besser wissen und möchte am liebsten selbst zu Wort gebeten werden.
Der kleine Knackpunkt daran: eine derartige These wird man hier nirgends finden. Es werden keine medial vorgebebenen „großen Themen“ angesprochen, diskutiert und zerlegt, nein, eher im Gegenteil würden diese bevorzugt ausgespart. Es sind mit ziemlicher Sicherheit Thesen, welche man so noch nicht gehört hat.
Die Gemeinsamkeit des ausgelösten ablehnenden Reflexes erfordert entsprechend einfühlsames Vorgehen bei der Belegsuche und -aufbereitung. Wenn sich aber jemand mit einer Sache grundsätzlich „perfekt“ auskennt und dann mit etwas konfrontiert wird zu diesem Thema, was er noch nie gehört hat, dann muss der Thesenaufsteller eher damit rechnen, dass keiner einzigen These eine Berechtigung eingeräumt werden kann. Trotz dieser Gewissheit geht es nun mal nicht anders, als die Thesen irgendwann mal zu zu Papier zu bringen.
Hier einmal eine ganz kurze Auflistung, damit man direkt die Unsinnigkeit der Aussagen auf einen Blick erkennt und seine Reflexe auf ihre Qualität hin überprüfen kann.
These 1: Der Fußball heute ist ein reiner Fansport.
These 2: Mehr Tore täten dem Spiel gut.
These 3: Das derzeitige Regelwerk gibt es ohne Weiteres her, dass diese hilfreichen Extratore fallen könnten. Es ginge lediglich um die derzeitig gängige Auslegung, welche im Wege steht.
These 4: Die derzeitige Auslegung der Regeln benachteiligt Stürmer und Angriffsaktionen. Der Defensive wird Vorfahrt gegeben. Verteidiger dürfen Dinge tun, welche bei Stürmern ohne weitere Diskussion abgepfiffen würden. Foul ist nicht Foul sondern die Beurteilung hängt davon ab, wo die Aktion stattfindet.
These 5: Die Sequenz „Foul – Freistoß“ beinhaltet lediglich die Absicht, eine gleichwertige Ersetzung der mit dem Foul unterbundenen Szene zu bieten. Dies ist ein grundlegend falscher Ansatz. Ein Foul ist eine Regelverletzung. Eine Regelverletzung muss nachteilige Folgen für den Urheber haben, ansonsten wird die Regelverletzung eher beflügelt als unterbunden und je nach Situation von den Abwehrspielern zu ihrem Vorteil eingesetzt.
These 6: Es gibt nur eine Ausnahme zu These 5: die Elfmeter Entscheidung. Eine solche wäre eine sehr harte Strafe, denn fast immer wird die Situation, die zugrunde lag bei der Entscheidung, eine gewaltige Aufwertung erfahren was die Torgefahr angeht. Das Problem damit schon fast erkennbar: genau deshalb wird die Regel so schwerfällig angewandt. Foulspiel im Straufraum? Meist kein Elfmeter.
These 7: Der Zuschauer wird nicht befragt, was er gerne sehen möchte. Es gibt dazu keinerlei Erhebungen. Wobei „der Zuschauer“ immer wieder der, laut These 1 nicht vertretene „neutrale“ wäre. Dieser Neutrale ist nämlich deshalb nicht vertreten, weil er all das, was er zu sehen bekommt, nicht sehen möchte.
These 8: Im US-Sport steht die von jedem Spiel mit dessen derzeitigen Regeln ausgelöste Unterhaltung des Zuschauers an erster Stelle. Falls da was nicht stimmt: es wird verändert. Ungerechtigkeiten, für jedermann offensichtlich, würden niemals geduldet.
Im Fußball behauptet man irgendwo unterschwellig : hat man nicht nötig. Fußball ist so groß, da kann man machen was man will – spielt keine Rolle, geht nicht kaputt.
Provokante Frage: wer möchte Kopfballduelle sehen, bei welchen die Ellenbogen die Hauptrolle spielen und diese ihre perfekte Eignung, Nasen- und Jochbeine zu brechen, unter Beweis stellen?
These 9: Die Medien haben eine hohe Verantwortung und ihre Steuerungsmöglichkeiten. Wenn einem „dreckige Siege“ als erstrebenswert verkauft werden, dann muss man damit rechnen, dass diese Vorgabe umgesetzt wird. Wenn man angeblich „nächste Woche nicht mehr nach dem Zustandekommen fragt“, dann sind sie selbst es, die das nicht tun – aber durchaus das Gesetz außer Kraft setzen könnten, indem sie es täten. „Fußball ist ein reiner Ergebnissport“ gilt nur, weil die Medien ihn dazu erklären.
„Jeder kennt die Gesetze, dass der Trainer als erster dran ist.“ Genau dann, wenn die Medien dem Gesetz auf ihre Art Gültigkeit verschafften.
These 10: Die Berichterstattung hierzulande ist – um sich direkt des Reporterjargons zu bedienen – „unterirdisch“. Ein Marktschreier würde seine kleinen, faulen Eier an den Mann bringen mit seinem Unterhaltungs- und Verkaufsgeschick. Zumindest bei Sky Deutschland (woher hatte Sky England eigentlich das Geld, das marode „Premiere“ zu übernehmen?) zahlt man Unsummen für goldene Eier, stellt sich auf den Markt und murmelt vor sich hin, dass die Eier viel zu klein, faul und zu teuer sind – und wundert sich, dass keiner sie haben will.
Belege der Thesen
These 1:
Bei der ersten These „Fußball ist ein reiner Fansport“ müsste man zunächst um eine Präzisierung bitten: „Was meint das genau?“ Dann wäre die Folgefrage: „Ist das eine Bestandsaufnahme oder ein Kritikpunkt? Eine bedenkliche oder selbstverständliche, vielleicht gar erfreuliche Entwicklung, die dahinter steht?“
Sofern man Frage 2 vorausschickt wäre vielleicht die These selbst bereits anerkannt. So etwa: „Na und? Ist halt so. Was ist das Problem daran?“ Nachdem man dann das Problem beschrieben hat, kämen die Zweifel jedoch zwangsläufig – nur bedauerlicherweise rein logisch gesehen verspätet. Das nennt man dann „Gesprächstechnik“. Nur eben in unlogischer, aber gern verwendeter Abfolge.
Es soll hier doch bevorzugt der Weg der Logik eingehalten werden. Zunächst Belege für die These. Dazu wäre die höchst schlichte Frage, die man sich selbst aber auch jedem anderen dem Fußball auf diese oder jene Art verbundenen stellen – und irgendwie ist dies doch fast jeder? –, die da lautet: „Schaust du Fußball?“ „Ja, ab und zu. Sicher.“ „Was für Spiele schaust du?“ Nun, hier kämen jetzt ein paar Fallunterscheidungen, welche da in Frage kämen. Stadiongänger, der kleine Dorfverein, der eigene Heimatverein, die Jugendspiele der eigenen Kinder, die großen Turnier im Fernsehen, Bayern- Dortmund, wenn es geht, der Sky-Abonnent, der die Konferenz einschaltet, wenn „seine“ Mannschaft nicht spielt, oder, alternativ, „seine“ Mannschaft in der Einzeloption.
Nun hätte man die Chance, die leicht provokante Richtung einzuschlagen: „Ich schenke dir ein Ticket zu einem Spiel.“ „Ach, ja?“ „Welches ist dein Lieblingsverein?“ „VfB Stuttgart! Schon von klein auf!“ „Ok, ich gebe dir Karten für das Spiel Eintracht Frankfurt gegen Werder Bremen. Freust du dich?“ Nun wäre man vielleicht verblüfft, verwundert, aber der geschenkte Gaul? Dennoch hätte man sicher arg mit sich zu kämpfen, sich über das „Geschenk“ zu freuen. Warum sollte man sich dieses Spiel denn anschauen?
Vielleicht hat die kleine Geschichte schon einen kleinen Fingerzeig gegeben. Man könnte auch schlicht so fragen: „Du warst doch schon immer ein Anhänger des Fußballs.“ Allein schon hier die große Frage, wie man den „normalen“ Bürger hier klassifizieren sollte. „Freund des Spiels“, „Anhänger“, „leidenschaftlicher Stadiongänger“, „Sportschaugucker“, „Zeitungsleser“, „nur am Randevervolger“. Also, umformuliert: „Du bist doch so wie ich auch irgendwie Fußball…“ „Ja, ok, weiter?“ „Wann hast du zuletzt ein Spiel geschaut über 90 Minuten, ohne, dass deine Mannschaft vertreten war?“ Also weder Deutschland noch Dortmund im Europacup gegen eine ausländliche Mannschaft oder was auch immer eine deutliche Positionierung mit sich brächte.
Bei dieser Frage fühlte man sich vermutlich leicht in die Enge gedrängt. „Ich kenne mich aus im Fußball, ich weiß immer, was Sache ist, die großen Themen? Müsste man mich mal zu fragen. Ich kenne die Tabelle und weiß, wo der Trainer wackelt und wer enorm unter Druck ist und wer gerade im Höhenflug. Aber warum bringst du mich hier in Verlegenheit?“ Irgendwie spürt man also, worauf es hinaus läuft. Man schaut einfach kein Fußballspiel, ohne diese emotionale Verbundenheit. Nicht über 90 Minuten. Zusammenfassungen gehen immer, klar. Ein paar schöne Tore, die Atmosphäre eingefangen, ab und zu mal ein emotionaler Ausbruch, mal die Schönheit, mal ein übles Foul, eine rote Karte, eine üble Verletzung, mal ein paar Böller und ein paar Fanausschreitungen. Alles bei Chips und Bier und in Kurzfassung. Aber 90 Minuten? Nein, das ginge zu weit.
Die Präzisierung wäre somit wohl mitgeliefert. Es bliebe noch immer im Raum die Frage nach der Problematik dabei. Die Stadion sind voll, der Rubel rollt, die Umsatzzahlen von Fanartikeln und bisher nie erreichten Dimensionen, die weltweite Verbreitung des Fußballs eher anwachsend. „Reiner Fansport“ hin oder her.
Konsequenzen, Begleiterscheinungen, Folgen
These 1:
Sofern die These „Fußball ist ein reiner Fansport“ Anerkennung fände, so wäre die folgende Argumentation, auf alle weiteren Thesen bezogen, erheblich vereinfacht. These 1 ist sozusagen die „Basisthese“. Denn: das Thesenprinzip auf die hier vorgestellte Art hat als entscheidende Hürde generell die Anerkennung der selben beziehungsweise mit dem spontan ausgelösten Reflex zu kämpfen, der den Widerspruch auslöst, von welchem es kein Zurück gibt: „Das stimmt nicht und dabei bleibe ich!“