Eine weite Reise. Von Biel bis Graz
In meiner so genannten Schachkarriere gab es also einige (Schein- bzw. Teil-) Erfolge. So einen ganz richtigen Durchbruch hatte ich nie. Dennoch gab es durchaus auch ein paar erlebnisreiche Reisen, selbst wenn sich vieles außerhalb des Schachs abspielte. So also auch diese Sommerreise im Jahre 1981.
Angie war meine Freundin. Leider war auch diese Beziehung von zahlreichen on-and-offs begleitet. Alterstypisch? Und auf irgendeine Art hatte ich auch das Gefühl Problem beladen? Wenn, dann war das sicherlich meinetwegen. Denn ich hatte bei allem, was nicht mit Schach zu tun hatte, oftmals das Gefühl, Zeit zu vergeuden. Und darunter musste Angie sicher leiden. Aber sie war mir dennoch eine ausgesprochen treue und liebe Gefährtin und Wegbegleiterin. Bis heute noch fühle ich mich ihr sehr verbunden bei den nach wie vor gelegentlich stattfinden Kontaktaufnahmen. Wir sind uns vertraut.
In diesem Sommer jedenfalls hatten wir eine Reise geplant. Diese sollte uns zunächst nach Biel führen. Ich schwärmte ihr von der malerischen Schweiz vor und auch von der Schönheit von Biel. Hatte aber rein egoistische Beweggründe: ich wollte das alljährlich stattfindende Schachfestival mitspielen. C. war auch dort angemeldet und erschien mit seiner Freundin Bärbel. Immerhin hatten wir die Hoffnung, dass sich die beiden Mädels anfreunden würden. Wir trafen uns tatsächlich in Biel zum gemeinsamen Zelten.
Christian hatte ich seit der ersten Begegnung, ebenfalls in Biel, immer „C.“ genannt. Das hatte eine einfache Ursache: Wir sahen uns, unterhielten uns, studierten beide auch tagtäglich die Turnierauslosung und das Gesamtklassement in Biel, was an einem (weißen) Brett vor dem Turniersaal hing. Hunderte von Teilnehmern, aber man kannte allmählich alle Namen. Die waren immer in der Form ausgedruckt: Paulsen, D. oder eben Maier, C. Eines Tages erkundigte ich mich also nach seinem Namen. Die Seelenverwandtschaft war längst ausgemacht. Er antwortete: „Maier“. Ich zurück: „Ach, der C.“
Das war die Geburtsstunde seines Spitznamens.
Wie wir nun bei Ankunft auf dem Zeltplatz feststellten, waren wir alphabetisch einwandfrei aufgereiht: A(ngie), B(ärbel), C(hristian), D(irk). Und das alles auf dem Z. Na gut, Angie und ich bauten unsere „Dilljurke“, wie U.Li., also Ulli Lindner, später treffend bemerkte, auf. Die ganze Woche war Regen. Das Zelt, das kleinste auf dem Zeltplatz, schwamm fast davon. Immerhin konnten wir einen Vormittag, den einziges Sonnentag, mal ins Schwimmbad gehen.
Dazu hatte ich einen ganz treuen Schachkameraden aus Berlin (zum wiederholten Male) dort getroffen: Bodo Kühn. Und er war nicht nur Freund sondern auch Gönner. Und wieso er es getan hat, kann ich Ihnen, eigentlich auch mir selber, kaum erklären. Aber Herr Kühn lud uns jeden Abend in ein tolles Lokal ein und wir bekamen einen regelrechten „Festschmaus“, zumindest für Schachspieler und sonstige Camper. So war Angies Laune einigermaßen gerettet, bis zum Schlusstag. Das Ergebnis vom Turnier weiß ich nicht mal mehr, war also sicher nicht berauschend, kein Geldpreis, das ist sicher.
Außerdem kam ja das große Abenteuer: Nach der letzten Partie, Herr Kühn hielt noch an dem Ritual fest, also mit warmer Mahlzeit im Bauch, und am späten Abend auf zum Bahnhof. Wir hatten bereits das interrail Ticket gebucht und in der Tasche! Also auf in den erstbesten Zug und… tja, mal sehen, wo der uns hinfährt. Interrail, das hieß normalerweise einen Monat lang reisen, mit der Bahn, an alle einen schon immer interessierenden Orte (in Europa).
Bei uns sah das ein wenig anders aus: Ich als Berufshypochonder hatte ohnehin immer kleinere Sorgen und Wehwehchen. Und Zelt aufbauen und so Sachen waren mir auch anstrengend, und wo überhaupt? Also hieß es allabendlich: Gehen wir mal zum Bahnhof, steigen in den nächsten Zug und, tja, unser Dauerschlafplatz waren Zugabteils. Selbstverständlich nur die Sitze. Es sei denn, wir fuhren von Paris nach Amsterdam. Da hatten wir einen anderen Schlafplatz. Der Zug quoll über. Wir lagen irgendwann zwischen zwei Waggons, direkt vor der Toilette. Jeder, der dorthin musste, stieg über uns. Und das müssen Hunderte gewesen sein. Insgesamt kamen wir aber sicher auf eine halbe Stunde Schlaf.
Kein Problem, wir waren jung, außerdem ist viel Wahres an dem Spruch eines ehemaligen Arbeitskollegen von mir: „Der Stress von heute sind die guten alten Zeiten von Morgen.“ Also: Wovon sollte ich Ihnen denn heute erzählen, wenn nicht…? In Amsterdam angekommen gings zu … ja, einmal Macdonalds, eine warme Mahlzeit, am vierten Tag! Und Zähne putzen, auf der da fast freien Toilette!
Wir kamen in Paris vorbei, in Marseille, in Arcachon (bei Bordeaux) und dort blieben wir sogar drei Tage auf dem Zeltplatz, Atlantikküste, da wollte ich schon immer mal in den Ozean springen. Später London, einen kurzen Abstecher nach Penzance, einen weiteren nach Inverness zum Ungeheuer von… Ja, ich bin mutig in den See gestiegen, Angie mit Fotoapparat bewaffnet, wir wollten ein Kuschelbild von mir und ihm. Ich war ihm wohl zu hässlich, auch retouchieren half nicht viel, es blieb auch auf unserem Bild verborgen.
Ja, so ca. nach einer Woche, die wir uns sogar MacDonalds und ab und zu ein Mineralwasser in viel zu teuren Lokalen, gar einen Kaffee in Marseille und solche Dinge leisteten (ca. 10 DM für ein Wasser und einen Kaffee pro Nase!; aber das beste Mineralwasser meines Lebens; natürlich Perrier) und ich ohnehin in Budgetplanung auch damals schon extreme Schwächen hatte, stellte sich heraus, dass unsere Barschaften rapide zu Ende gingen. Wir wollten uns mit anderen Interrail Reisenden, Freunden, in Lulea treffen, am 8.August, Nordschweden. Der Traum war ausgeträumt. Aber der kleine Pauli hatte noch einen Pfeil im Köcher:
Es gab ein Schach Schnellturnier in Dänemark, in Vejle. Ich wusste, das Turnier war am kommenden Wochenende. Vom 8.8. – 9.8. Lulea war ohnehin geplatzt. Aber: vier Tage Zeit zur Anreise. Dazu noch war Vejle ganz in der Nähe von Tunö. Einer winzigen Insel im Kattegatt, wo ich als Kind viele sehr schöne Sommerurlaube verbracht habe. Was lag also näher, als Angie noch diese Insel zu zeigen?
Man musste über Hov, einem kleinen Dorf an der Küste. Dort waren wir als Kinder auch immer angekommen, haben dort übernachtet und am nächsten Morgen mit dem Postboot rüber nach Tunö. Aber das war 1968, auch noch 74, aber jetzt, 1981? Wir standen auf dem Bahnhof von Hov, spätabends. Kein Zug, kein Mensch, kein Geld für Übernachtung. Das war ungewohnt. Aber wissen Sie was? Jürgen Prochnow alias Kaleun sagte doch auch, als „Das Boot“ in der Meerenge von Gibraltar abgeschossen wurde und er noch, wohlüberlegt, volle Kraft voraus Richtung Afrikas Küste steuerte, als das Boot endlich, bei 260m Tiefe aufsetzte: „Der liebe Gott hat uns eine Schaufel Sand unter den Kiel geworfen.“ So auch hier: Unsere Schaufel Sand war eine junge Frau, die plötzlich und unerwartet auf dem Bahnhof auftauchte. Suchte sie nach „gestrandeten“ Interrail Reisenden? Eine andere Erklärung kann ich bis heute nicht finden. Als sie, ihrer Bestimmung folgend, herausgefunden hatte, dass wir absolut nicht mehr weiter wussten, sagte sie, wir könnten mit zu ihr kommen. Es war ein wunderschönes, großes Haus. Es gab ca. 5 Mitbewohner, mit denen wir sogar noch gemeinsam ein Abendbrot essen konnten. Und wir bekamen ein Zimmer mit Bett, ganz für uns alleine! Eben eine Schaufel Sand…
Am nächsten Morgen, das Postboot fuhr auch ´81 noch, sind wir dann wirklich weiter nach Tunö. Wir bauten unsere Dilljurke dort auf, wo ich mit meinen Eltern (nein: sie mit mir) auch immer gezeltet hatten. Dann liehen wir uns Räder aus, machten eine Radtour einmal um die Insel (ca. 11 km), ein paar „Röd Pölser“ geholt beim alten Brugsen, den gabs auch noch, Stegte Lög (Röstzwiebeln), Remoulade, Mayonnaise und ein Weißbrot. Dann, zum Sonnenuntergang, ein Lagerfeuer, wie früher, direkt am Wasser. Brot und Würstchen hielt man ins Feuer, Mayonnaise, Remoulade zum Tunken, Stegte Lög drüber, fertig war der Hot Dog. Aber was für einer!
Am nächsten Tag Abfahrt, weiter nach Vejle. Auf dem Zeltplatz die erste Riesenüberraschung. Michael Bilek, mein erster echter Schachfreund und Konkurrent aus der Jugend, aus meinem Schachclub war auch da, auch mit Freundin! Schön, seine Freundin war sogar auf unserer Schule. Die Mädchen kannten sich, wie erfreulich. Etwas weniger Lange Weile für Angie.
Das Turnier lief gut für mich. Ich war immer vorne dabei. In der letzten Runde musste ich gegen Gerd Müller (nein, nicht diesen) ran. Ein starker Spieler aus Hamburg. Angie war das einzige Mal mit im Turniersaal. Ich hatte Schwarz. Ein Sieg und ich bin im (guten) Geld. Mein Gegner eröffnete. Angie saß noch auf meinem Schoß. Ich fragte Gerd (klar, man kennt sich, aber nicht besonders gut): „Darf meine Freundin den ersten Zug ausführen?“ Gerd bejahte. „Warum nicht?“
Nun war ich mir nicht ganz sicher, ob Angie die Gangart sämtlicher Figuren kannte. Bei den Bauern aber war ich mir in so weit sicher, dass sie diese nicht seitwärts bewegen würde. Und am Anfang kann man ja fast nur Bauern bewegen, und schon rein mechanisch kaum zur Seite. Also Gerd hatte 1. Springer nach f3 eröffnet. Es hätte jetzt alles passieren können. Aber Angie war ein echtes Talent. Sie zog den Damenbauern ein Feld vor (kannte sie den Doppelschritt?). 1. d7 – d6. Ich verstand ihre Idee alsbald. Alle Figuren hatten glänzende Ausgangspositionen. Ach, so meinte sie das! Ich gewann die Partie, im großen Stile. Und damit ca. 400 DM für Platz 2. Und was antworte ich bis heute auf 1. Sf3?
Wissen Sie, was uns die 400 DM in erster Linie einbrachten? Eine heiße Dusche. Und das ging so: Wir fuhren sofort weiter nach Kopenhagen. Gönnerhaft konnte ich Angie sogar ein Kleid versprechen. Und eine Nacht in einem richtigen Bett! Wir bezogen unser Hotelzimmer und … jetzt wurde es uns klar, was wir am meisten vermisst hatten: Eben diese Dusche. Und was das für eine Dusche war! Ein ganzes Zimmer war nur Dusche. Die schönste Dusche meines Lebens! Die Nacht war auch richtig erholsam, Kleid und Tivolibesuch auch schön, aber was so ein richtiger, echter Schachprofi ist, und das war ich wirklich an jenem Tag, der hat auch andere Verpflichtungen.
Jaaa, ich durfte Nationalmannschaft spielen. Zwar nur für die Junioren, aber immerhin. Die Mannschaftsweltmeisterschaft fand in Graz statt. Am kommenden Freitag war Start. Also so bald wie möglich zurück nach Berlin. Und dann auf nach Graz.