Achtelfinale Rückspiel in der Champions League Saison 2009/2010
So ungehörig es sein mag: Ich erzähle über dieses Spiel in der Ich-Form. So sehr es dadurch auch an Objektivität mangeln mag. Ich mache mich daran, dieses Urteil im Verlaufe des Textes zu widerlegen.
Das Hinspiel hatten die Bayern durch ein klar nachweisbares Abseitstor von Klose relativ kurz vor Schluss mit 2:1 gewonnen. Ein Sieg im Hinspiel ist heutzutage mehr wert, als es früher einmal war, zumal ein so knapper Sieg mit einem Gegentor. Früher hätte man wohl mit etwas mehr Berechtigung gesagt, dass „noch alles drin ist“ oder das „ein 2:1 Sieg ein gefährliches Ergebnis ist“. Dadurch jedoch, dass der FC Bayern, Favorit in dieser Paarung, den Sieg eingefahren hat, ist die Chancenverteilung für das Rückspiel doch recht eindeutig. Mein Computer spuckte mir aus exakt 40% Sieg Bayern, etwa 28% für das Remis und entsprechend 32% Sieg Florenz. Wenn man die Bayern Siege und die Remis aufaddiert, ist man bereits bei 68% fürs Weiterkommen (da Bayern beide Ergebnisse sicher genügen). Wenn man aber bedenkt, dass alle Niederlagen mit einem Tor, die höher als 1:2 ausfallen – also ab 2:3 –, auch noch die Bayern begünstigen, zum Weiterkommen genügen, und im Falle eines 2:1 Sieges für Florenz die Chancen – langfristig ermittelt – sich in der Verlängerung die Waage halten, zugleich das 2:1 das wahrscheinlichste Ergebnis ist (laut Computer 7.32% allein für das 2:1, und wenn man berücksichtigt, was der Computer nicht weiß, nämlich das bei einem Stande von 2:1 beide Mannschaften nicht mehr letztes Risiko gehen, da die Chance auf die Verlängerung besteht, man also noch nicht ausgeschieden ist, wenn es so bleibt, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für dieses Ergebnis sogar noch), so kommen von allen verlorenen Spielen aus Sicht von Bayern trotzdem noch stattliche 6.1% hinzu, so dass sie solide 40% (Siege), 28% (Remis) + 6.1% (Summe aller „günstigen“ Niederlage) aufs Weiterkommen haben. Meine Aussage also: Bayern kommt zu 74.1% weiter, Florenz zu 25.9%, gut gerundet drei Viertel Bayern, ein Viertel Florenz.
Als ich um ziemlich genau 20:45 das berühmte, schon von Reinhard Mey besungene „Luciano´s Restaurant“, die La Rocca am Ostpreußendamm/Wismarer Straße, betrat, saß die versammelte Tennis Expertenrunde – und nicht nur dadurch selbstverständlich auch Fußballexperten — bereits am Sechs-Mann-Tisch. Für mich blieb dennoch ein Eckchen quasi als „siebtes Rad am Wagen“ und beinahe überraschend, dass sogar noch ein Stühlchen aufzutreiben war, denn das Lokal „brummte“, war rappelvoll. Für Nicht-Fußballfans war an diesem Abend kein Platz, spielte doch quasi Italien gegen Deutschland.
Die weithin gut sichtbaren Großbildfernseher und der die ansonsten allgegenwärtige dezente, aber dadurch nicht weniger schöne italienische Hintergrundmusik verdrängende „Lautsprecher“ Marcel Reif – natürlich hatte sich der Oberindiander diesen Festschmaus nicht nehmen lassen – verhinderte jegliches sonst übliche romantische amouröse Zwiegespräch bei Kerzenschein. Heute war Fußball. Das sollte und durfte jeder wissen – sogar die Nachbarn des Lokals. Wer heute nicht schaut, ist selber Schuld.
Nun, da mir möglicherweise eine gewisse Expertise zugestanden wurde, wurde ich immerhin gefragt, wie nach meiner Einschätzung das Spiel ausgehen würde. Sicher ist mir in einem solchen Moment schon klar, a) warum ich mich in den letzten Jahren fast gar nicht mehr unter Menschen gewagt habe, wenn ich ein Spiel schaute, und b) auch, dass hier nicht lange rumzudrucksen sei. Kurz und knapp: „Wie geht’s aus?“ Da mir das partout nicht möglich ist, und selbst wenn mir der Ruf vorauseilen sollte, dass ich ein langfristiger Gewinner im Wettgeschäft bin, so hätte dies keineswegs weder zur Ursache noch zur Folge, dass ich in die Zukunft schauen kann. Abgesehen davon haben jüngste Resultate die Ansicht aufgezwungen, dass ich eher ein „Dauerloser“ als ein Gewinner bin. Mehr als eine Antwort „2:1 für Bayern“ war im Prinzip nicht gefragt. Ich machte mir den (zweifelhaften) Spaß und blieb bei meiner Außenseiterrolle. „Ich sage: 40% für Bayern Sieg.“ Trotz absolutem Desinteresse an Wahrscheinlichkeiten und nicht der gewünschten Antwort, brachte diese Äußerung für einen Moment Erstaunen hervor. „Ach, nur 40%? Dann hat Florenz also 60%?“
Meine Entscheidung, mich wieder unter Menschen zu begeben, um Fußball zu schauen, war keine reine Zufallsentscheidung. Da ich beschlossen habe, etwas über Fußball zu schreiben, möglicherweise gar journalistisch tätig zu werden, aber auch generell den Versuch, den Fußball attraktiver zu gestalten, mein Wissen und Verständnis über den Wettmarkt, Quoten, Berechenbarkeit des Fußball zu verbreiten, gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich das echte Fanverhalten und –denken leibhaftig miterleben müsste. Ich wollte auch die Reaktionen auf Kommentare, Schiedsrichterentscheidungen und „Fehler, Fehler, Fehler allerorten“ hören und sehen. Wie denkt und fühlt der Zuschauer wirklich? Was schaut er, wann schaut er, was macht ihm Spaß? Wie und wann leidet er, geht emotional mit, flucht oder jubelt? Und vor allem: Wie ist sein Umgang mit Einschätzungen, mit Wahrscheinlichkeiten? Wie groß sind die Verständnisdefizite? Wo besteht Interesse, wo Aufklärungsbedarf?
Diese Reaktion also, „wenn es 40% Bayern Sieg sind dann sind es ja 60% Florenz“, ist in etwa vergleichbar mit einem Mathe-Lehrer, der vielleicht in ein fremdes Land auf ein kleines Dorf kommt zum unterrichten in eine 9.Klasse und erfahren möchte, wie der Stand der Schüler ist und ob nun Nullstellenberechnung oder p-q-Formel ansteht, aber feststellt, dass es bei der Fragestellung „wie viel ist 3*3“ eine ziemlich breite Palette von Antworten gibt, alle mit einer gewissen Logik. Er erkennt also, dass er besser bei 1*1 anfangen sollte…
Ich reagiert also relativ gelassen und sagte: „Nein, es sind etwa 28% für das Unentschieden, demnach 32% für Florenz Sieg.“ Die Antwort war mit der Reaktion gleich. Abwinken und „ach, auch noch Unentschieden.“ Die andere Antwort: „Sag doch gleich, dass Bayern 2:1 gewinnt.“ Das „Gespräch“ war ziemlich abrupt beendet. Das wird ja nun wirklich zu kompliziert. Nachdenken? Unerwünscht! Wir schauen Fußball und Bayern kommt weiter. Basta!
Am Wettmarkt war die Einschätzung übrigens sehr ähnlich. Immerhin gibt es doch einen Wettmarkt, an dem gerade auf ein solches Spiel gigantische Umsätze gemacht werden? Wer macht die bloß? Jedenfalls kein Deutscher. Nein, hier wird nicht gewettet. Wir sind ehrliche Bürger. Hier gibt es keine Wahrscheinlichkeiten. Hier gibt es nur Versicherungen. Und demnach kein Risiko. Außerdem gewinnt am Ende eh immer Deutschland, das sollte die Welt wissen.
Wenn ich an dieser Stelle durchaus damit im Zusammenhang stehend meine eigenen Empfindungen auf ein solches Spiel, auf eine solche Paarung einbringen darf? Danke: Sicher, wenn ich mich zu Luciano begebe, habe ich schon eine kleine Hoffnung, dass ich bei einer Paarung Italien gegen Deutschland ein paar Fürsprecher, ein paar Italien-Anhänger finden würde. Denn bei mir sind die Sympathien eindeutig und ich staune, dass ich selbst mit so einem Gedanken, so einem Empfinden niemanden auf meiner Seite habe. Luciano bekannte sich recht bald zu den Bayern. (Dennoch hatte man während des Spiels das Gefühl, dass er doch für Florenz war, irgendwie eigentlich seine Italiener hochhalten musste, sich nur nicht traute.)
Bei mir ist das historisch gewachsen. Die Sieg gewohnten Deutschen haben mir schon sehr bald das für sie Hoffen und Drücken verleidet. Das lag in erster Linie daran, dass ich schon früh zu erkennen meinte, dass es immer wieder eine Portion Glück war, die Deutschland in Anspruch nahm. Langfristig wurde es zu einer gigantischen Menge an Glück. Das würde mich vielleicht noch nicht stören, falls die Wahrnehmung auch „Glück“ wäre. Jedoch hat sich hierzulande irgendwann die Ansicht festgesetzt, dass es keineswegs Glück sein kann, und dass jedes Ergebnis verdient ist, vor allem jeder Sieg der Deutschen.
Un spätestens hier schalte ich mich aus. Da kann ich nicht mehr mitgehen. Denn dass Gascoigne, EM-Halbfinale 1996, Verlängerung, Golden Goal, am Ball vorbeiläuft, ihn um eine Zehenlänge verfehlt, weniger als einen Meter vor der Torlinie, das Chris Waddle in der Verlängerung 1990, Halbfinale, den Pfosten und nicht rein trifft, dass sowieso jedes Elfmeterschießen im Anschluss an Deutschland geht, man muss doch spüren, dass es Glück ist? Wie kann man da von „verdient“ sprechen? Wenn es nur diese beiden Fälle wären…
Ich kann nicht anders, ich bin gegen die Deutschen. Ich erkenne sehr wohl und sehr gerne gute Leistungen an. Ich ziehe den Hut, ich spreche meine Hochachtung aus, in jeder Szene gerne und auch in der Gesamtsumme. Ich traue mir zu, zu erkennen, ob ein Sieg glücklich oder verdient war und gratuliere einem Sieger auch gerne, selbst wenn der Sieg glücklich zustande kam. Es kann halt nur Einer gewinnen. Glückwunsch dazu, ebenfalls zu der tollen Leistung, selbst wenn sie um ein mü schwächer war als die des Gegners. Nur bitte, bitte, bitte, erkenne selber an, wenn es glücklich war oder wie glücklich es war. Dann ist alles wieder schick. Der Sport bleibt wie er ist, spannend, faszinierend, leidenschaftlich, emotional. Der Fußball ebenso. Aber bitte erkennt an, dass es Glück ist, wenn es so ist. Immer erinnern: Auch ein Sieger, der vorher bei einer 75% Chance fürs Gewinnen, fürs Weiterkommen steht, benötigt die restlichen 25% Zuwachs bis zum Sieg an Glück. Anders geht es nicht. Meine Abneigung hat nur etwas mit dieser Fehlinterpretation zu tun. Sie hat auch nichts mit Hass, Verachtung oder Geringschätzung zu tun. Nur kann ich mir nicht wünschen, dass sie weiter und weiter gewinnen.
Bereits nach der Auslosung beginne ich, mich über die (Fehl-)Einschätzungen zu verwundern, mich dagegen zu stellen. Wenn es heißt „Florenz ist eine machbare Aufgabe, da müssen die Bayern weiter kommen“, dann bitte ich zunächst ein wenig um Dank für das (im Ausland) beinahe sprichwörtliche Losglück der Deutschen, das hier die Bayern betraf. Es gab dickere Brocken. Als nächstes aber bitte ich um ausreichend Respekt für den Gegner. Selbst wenn Florenz in der Meisterschaft diese Saison nicht so gut steht – nur auf Platz 11 — , so sind sie immerhin Italiener – und die Italiener wissen, wie Fußball geht, und mit Mühe nur verkneife ich mir ein „im Gegensatz zu den D…“ –, außerdem kann man auch als klarer Favorit und als die bessere Mannschaft ganz bequem mal ausscheiden. Mit so etwas beschäftigt man sich hier nicht. Effenberg, befragt nach den Chancen und dem Los: „Da brauchen wir nicht drumrum zu reden. Das packen die Bayern.“ In dem Moment ist meine Sympathie eindeutig. Ich kann mir nur wünschen, dass er sich irrt. Das hat nichts mit Bayern zu tun. Es hat etwas mit Deutschland und etwas mit (nicht vorhandener) Ahnung (hier) vom Fußball zu tun.
Das Spiel war spannend von Anfang an. Das war Fußball auf höchstem Niveau. „Höchstes Niveau“ bedeutet heutzutage jedoch leider, dass man zwar an allen Ecken und Enden mit der Zunge schnalzen könnte über gelungene Abwehraktionen, perfektes Stellungsspiel oder allgemein taktisches Verständnis, einen klugen Pass, ein gelungenes Dribbling, jedoch sollte man kaum mit Torchancen, nicht einmal mit –Schüssen rechnen. So war es auch wirklich die ersten 25 Minuten.
Meine Pizza Mozzarella mit Salami und das Bier dazu schmeckten phantastisch, auch Fußball in Gesellschaft zu schauen hat sich entwickelt. Obwohl ich hier und da ein paar komische Bemerkungen bemüht „überhöre“.
In der 30, Minute ein einziges Mal Platz für einen Italiener, ca. 30 Meter vor dem Tor. Er führt einen sehr gekonnten Schuss mit perfekter Körperabstimmung aus, welcher als Aufsetzer am Fünfmeterraum sich Richtung linkes Toreck drehte. Torhüter Butt, der bis dahin noch kein einziges Mal wirklich eingreifen musste, war überrascht, wie schnell und platziert der Schuss kam. Sicher, er kam heran, jedoch konnte er den Ball nur schräg nach vorne abprallen lassen. Man sieht noch immer keine rechte Gefahr, da ein Bayer und ein Fiorentiner Angreifer zwar gleichzeitig zum Ball gehen, jedoch der Winkel sehr spitz ist, und von dort kaum ein Tor fallen kann. Der Stürmer hat aber tatsächlich die Fußspitze als erster dran und schafft es, den Ball am sich gerade aufrappelnden Butt vorbei gekonnt ins lange Eck zu schlenzen. Das 1:0.
Auf die Kommentare war ich eher weniger gespannt sondern, man könnte es so nennen: ich war perfekt vorbereitet. Marcel Reif beschäftigt auch nur der eine Gedanke: „Torwartfehler oder nicht?“, so auch alle Umsitzenden. Das Urteil fällt dann eindeutig aus: „Torwartfehler.“ Den darf er nie und nimmer nach vorne abklatschen lassen.“ „Den muss er festhalten.“ „Deutschland hat ein Torwartproblem.“ oder „zur Seite boxen oder fangen.“ „Das ist sein Ding.“
Mit meiner Ansicht, dass es ein guter Schuss war, stehe ich auf Lebzeiten alleine da. Zumindest in Deutschland. Ich weiß aber, dass einem Engländer mehr zu der Szene einfallen würde als „Torwartfehler.“ Der Kommentar, beispielhaft an dieser Stelle, den ich so gerne hörte: „Look at that. Excellent shot. Full concentration on the ball, steadies himself and lets one fly. Maybe the goalkeeper could have stopped it right away. But it is the first shot on target, and it´s a brillant one. Good goal.“ oder so.
Das ist das Mindeste. Etwa muss uns doch zum Fußball schauen bewegen außer Fehlersuche und Gewinnen müssen? In Deutschland nicht. Gute Aktionen? Die gibt es nicht?!
Das Tor war alles andere als verdient. Es kann passieren. Es war eine gute Aktion, sie hat das Tor gebracht. Nur werden heutzutage sehr viele Spiele so entschieden. Spielkontrolle? Das ist ok, aber Chancen bekommen und diese nutzen ist eine andere Sache. Das war nicht einmal etwas, was das Prädikat „Torchance“ verdient. Es war nur ein Schuss. Der war gut. Er brachte Erfolg.
Wie geht Bayern nun vor? Sie haben das Potential, das ist gewiss, zumindest ein paar Chancen herauszuspielen. Vor dem 0:1 mussten sie nicht, jetzt schon. Sie brauchen ein Tor, Florenz war bei dem Spielstand weiter.
Kurz danach direkt die erste dicke Chance für Bayern. Meine Analyse jedoch sofort: Das war Abseits. so sehr ich sonst dagegen bin, diese Aktionen zu unterbinden. Hier war es so: Ein Pass kommt in den Strafraum, ein Stürmer (Müller) steht im Abseits (?), er lässt den Ball aber vorbei, hinter ihm kommt Robben völlig frei aus etwa 12 Metern, halbrechter Position zum Schuss. Ein toller Schuss, das muss das Tor sein? Nein! Der Torwart kommt mit den Fingerspitzen an den Ball, eine tolle Parade, und lenkt ihn knapp vorbei.
Die Ansicht „Abseits“ wird in der Halbzeit von Ottmar Hitzfeld bestätigt. Denn der Angreifer Müller, der aus dem Abseits kommt, hebt das Bein, um den Ball durchzulassen. Das ist ein aktiver Eingriff, der als Finte geeignet ist, die Verteidigung zu irritieren, und somit den anderen Angreifer in Schussposition bringt. Die Erklärung „ich wollte extra nicht rangehen, da ich Abseits stand“ zieht nicht. Das ist „aktiv“. Ich persönlich hatte nur ganz geringe Zweifel, ob sich Müller wirklich im Abseits befand, welche in der Widerholung für mich nicht völlig einwandfrei beseitigt werden konnten.
Die Halbzeitanalyse fiel auch sonst überall gleich aus. a) die Bayern waren noch nicht richtig im Spiel und b) sie machen noch ein Tor und kommen weiter. Herrlich. Wie schön muss es sein, Deutscher zu sein, mit Leib und Seele? Es wird einfach immer gewonnen. Und wenn einmal, ein einziges Mal nicht, dann nennt sich das „Vorenthaltung eines Glücksgefühls“ und kann mit faulen Tomaten und Eiern als Wurfgeschosse auf die Heimkehrer bekämpft werden. Obwohl diese Loser eine solch bevorzugte Behandlung gar nicht verdient hätten- Es genügt auch ein schlichtes „Scheiß Millionäre“ und „die loofen nich mal für die janze Kohle, die unsereins schippen muss.“
Die zweite Halbzeit begann. Ich genoss meine eigenen Glücksgefühle mit der temporären Führung und mit der Paulaner Werbung mit der wirklich für mich schönsten Frau der Welt. Man muss das Glück nur wahrnehmen! Es lauert überall!
Die Fiorentina präsentierte sich als echte italienische Mannschaft und ließ nicht viel zu. Der Unmut um mich herum wuchs. Der eine oder andere wollte sich bereits an Luciano wenden und nach ein paar auslaufenden Lebensmitteln fragen, da die Leistung von diesem und von jenem mehr und mehr Richtung „unterirdisch“ mutierte. Marcel Reif machte die pace, die Restaurantbesucher stimmten in den Tenor mit ein. Schwach, das war schwach von Bayern, ganz schwach. „Von Bommel schon wieder mit einem Fehlpass“, Schweinsteiger „hab ick überhaupt noch nich am Ball jesehn“ und Müller „kommt nicht zum Zuge“. „Gomez kann ich überhaupt nicht sehen.“ Ach so der war auch schon ausgewechselt, was Luciano zu der Bemerkung veranlasste: „Schade, mit Gomez hätte Florenz eine Chance gehabt.“ So ergänzten sich die Kommentare glänzend. Die für die entgangenen Glücksgefühle Verantwortlichen wurden allmählich ausgemacht.
Dann auch noch das hier: Ein toller Angriff von Florenz, über Außen in den Strafraum, ein kurzer Pass und eine phantastische Weiterleitung, quasi ein Stoppen mit der Hacke spielt den heranstürmende Jovetic frei, in der Näher vom Elfer, und er verwandelt platziert ins lange Eck. Das Zungeschnalzen hatte ich mal wieder exklusiv, allerdings wollte die Fehleranalyse auch keine rechten Anhaltspunkte bieten. Wer war bloß Schuld? Im Notfall das „Kollektiv.“
Nun konnte ich ein paar Rechenexempel anhören. Einige lassen eine mögliche Versetzung in die zweite Klasse in den Bereich des Möglichen rücken. „Na, die Bayern brauchten vorher ein Tor, und jetzt brauchen sie auch ein Tor. So viel hat sich nicht geändert.“ Die Reaktion stimmte bedenklich. „Ach, bei einem 1:2 wären sie weiter?“ „Nein, dann gäbe es Verlängerung.“ So weit richtig. Nur: Für den Wettmarkt, für den Wahrscheinlichkeitsrechner, hat sich doch eine ganze Menge verändert. Erstens ist es so, dass das 1:2 zwar zur Verlängerung verhelfen würde, jedoch ist das ein gewaltiger Verschiebung in der Chancenverteilung gegenüber einem vor dem 0:2 noch möglichen Tor zum 1:1, für das Weiterkommen. Das 1:2 böte auch n der Verlängerung nur etwa 50%. Abgesehen davon kann man ja wohl ein weiteres Tor für Florenz nicht ausschließen. Ein drittes, welchem sie jetzt per Summen- oder Differenzbildung viel näher sind als vorher. Stimmen tut jedenfalls: Sie brauchten vorher ein Tor, jetzt brauchen sie auch eins. Das hat auch Marcel Reif sofort erkannt und ausgesprochen.
Gesagt – getan. Nur wenige Minuten später die eine Aktion, die den Anschluss – und damit das Gesamtremis einbrachte. Interessanterweise genau nachdem sich wieder mal einer beschwert hatte, dass Robben und Ribery, die Weltklasse Flügelzange der Bayern nicht recht zum Zuge kommen würde, woraufhin ein wirklicher Experte – bis dahin weitest gehend schweigsam – erklärte, dass die beiden es nicht einfach hätten, da sie immer gedoppelt würden. Auch die Reaktion darauf ließ Fußballverstand durchschimmern: „Na, wenn die immer gedoppelt werden, muss doch woanders Platz sein?“ Auch das richtig. Nur konzentriert man sich einfach auf die besten Fußballer. So machen das Italiener eben. Die anderen können ruhig etwas Platz haben. Exzellent! Innerlich gab ich zwar sofort beiden Recht, jedoch ging meine Beobachtung noch darüber hinaus: Die beiden Außen wurden sogar getripelt! Das dafür erforderliche Spielerrmaterial bezieht eine italienische Mannschaft aus dem Angriff.
Diese jetzt erfolgte Aktion aber bestätigte die Richtigkeit alles Gesagtem und Gedachtem: Ribery konnte sich auf Außen mit einer geschickten Körpertäuschung einen Moment Freiheit und Raum verschaffen. Diese nutzte er zu einem exzellenten Pass an die Strafraumgrenze. Der für den Pass bestimmte wurde sofort von aufspringenden Gästen angeschrien: „Durchlassen! Durchlassen!“ Der Ruf wurde bis Florenz gehört. Müller ließ passieren zu dem hinter ihm stehenden, besser postierten Von Bommel, der aus 18 Metern mit der Innenseite gekonnt ins entlegene Eck schob. Ein Tor, welches ich vor sehr langer Zeit bereits von seinem Landsmann Dennis Bergkamp gesehen habe und was ich immer wieder als Vorzeigetor für „ überlegt, platziert, geschoben“, gegenüber der hierzulande eher üblichen „rohen Gewalt“ vor Augen habe. Und obwohl die beiden vorzitierten aus dem noch weniger geliebten „unterirdisch“ flachen Nachbarland stammen, so hatte sich zumindest der eine von ihnen einen noch besser als den „Durchlassen“ Ruf vernehmlichen Jubelschrei verdient. Wir sind doch „one world, one people“, oder?
Noch hatte die Fiorentina aber einen Pfeil im Köcher. Das altehrwürdige Artemio Franchi in Florenz war zwar nicht bis auf den letzten Platz gefüllt, jedoch reflektierte die Stimmung sehr wohl, was das Publikum vom Spiel und vom Auftritt der eigenen Mannschaft hielt. Es war Begeisterung. Gegentor hin oder her – noch war ja alles offen. Italien ist auch zu mehr Objektivität fähig als die im Ausland so bezeichnete „Schwarze Bestie“, „la bestia negra“, die einfach nicht kleinzukriegen ist, der man den Erfolg nicht gönnt, die einem aber immer wieder den Respekt abnötigt, da sie wieder und wieder das Jubeltreppchen besteigen darf. Insofern überwiegt dort einfach die Freude an einem tollen Spiel, die Begeisterung für eine tolle Fußballshow, die Leistung steht im Mittelpunkt, der dargebotene Fußball, der am Leistungslimit vorgetragen eben am Ende das Ergebnis bringt, welches er bringt. Eine´ Niederlage, die zwar Bedauern und Trauer auslöst, die aber längst nicht den aufopferungsvollen Kampf in den Hintergrund drängen kann. Gut gespielt ist gut gespielt. Ergebnis ist Ergebnis. Das weiß ein Italiener. Ein Deutscher? Nun ja… Ergebnisse kennt er, sicher. Das kommt vor. Ab und zu. Sofern Deutsche beteiligt. AC Milan – Manchester United? Keine Ahnung, nicht gesehen, vergessen. Spielt kein deutscher mit (RR: War vor zwei Wochen, 2:3).
Der Pfeil im Köcher war ein Angriffsduo namens Gilardino und Jovetic. Der mit J spielte den G-Man im Strafraum hoch an, anders ging nicht, rückte sofort energisch nach, Gilardino gelang es, trotz Bedrängnis, den Doppelpass per Kopf direkt in den Lauf zu vollziehen, der Nachgerückte hatte sich den einen Meter Freiraum verschafft, der im modernen Fußball so wertvoll ist, drängte erfolgreich van Buyten ab und vollstreckte überlegt durch die Beine von Butt. Ich hatte das Gefühl, dass sich angesichts dieses tollen Tores doch ein paar bis dahin vermummte Italiener im Lokal befanden, welche sich in dem Moment zu erkennen gaben und die zum gemeinsamen, eingeschränkten Jubel bereit waren. Auch Luciano ließ etwas wie verhohlene Freude erkennen. Lag es nur daran, dass er kurz zuvor mit einem Gast gewettet hatte, um einen Kasten Bier, wer das Spiel gewinnen würde?
Apropos diese Wette: Ich hatte den gesamten Dialog zu Beginn der zweiten Halbzeit mit angehört. Immerhin ging es ja ums Wetten. Und ich habe Ohren. Ich war auch in diesem Falle ziemlich überrascht, wie wenig Verständnis und Einigungs- oder Absprachebedürfnis dann vorliegt. „Ich wette, Bayern gewinnt.“ „Ok, ich wette, Florenz gewinnt.“ So Luciano. „Kasten Bier?“ „Kasten Bier!“ Handschlag. In diesem Moment wollte ich unter keinen Umständen etwas sagen und kurze Zeit später konnte ich auch erkennen, warum. In Gedanken sah ich aber bereits, dass es zwangsläufig bei aller Freundschaft und allem gegenseitigem Wohlwollen eine Diskussion bezüglich der Auszahlungsmodalitäten geben würde. Wer hätte wann gewonnen?
Die Wette wurde beim Stande von 2:1 abgeschlossen. Nach dem 3:1 hätte es sicher keine Diskussion gegeben. Da aber die Bayern postwendend zurückschlugen, ergab sich beinahe zwangsläufig die Überlegung: Wer hätte nun gewonnen? Es wurde rasch eine Absprache nachgeschoben: „Ok, bei Unentschieden ist die Wette pari, keiner hat gewonnen.“ „Ok.“ Die lag aber quasi schon in der Formulierung. Jedoch hätte ich für möglich gehalten, dass sofort darüber Einigkeit bestand, dass ein Sieg ein Sieg ist, und dieser sich in dem Falle auf das Gesamtergebnis, also das Weiterkommen beziehen könne, ohne dass die Protagonisten das mir zu Ohren gebracht hätten. Möglicherweise war es ja nicht die erste Wette und man wusste schon, was man sagte? Auch da wurde ich durch die Folgen belehrt. „Du hast gesagt, Bayern gewinnt diese Spiel.“ (Nicht vergessen, er ist Italiener! Deshalb „diese“). „Na, ich meinte ein Sieg ist ein Sieg, auch im Elfmeterschießen.“ Für mich hätte das geklungen wie „wer kommt weiter“ nur war es eben nicht ausgesprochen. Denn: angenommen, das Spiel endet 2:1 nach Verlängerung, Bayern gewinnt das Elfmeterschießen mit 5:4, dann hätte es ja theoretisch erneute Diskussionen geben müssen: „Nein, das Spiel war 2:1, plus die 4:5 in Elfmetern, macht summa summarum 6:6, also Unentschieden. Ich habe gewonnen!“ Und so weiter.
Als ich ganz kurz Stellung nahm – mir selbstverständlich nicht gebührend – wurde ich sofort zurechtgewiesen mit der Bemerkung, dass ich zum Quatschen und Unsinn von mir geben weiterhin meinen Friseur verwenden solle…
Der Bayern Vertreter hatte durch das 2:3 gute Laune und fand sich mit der Auszahlung, sofern es so bliebe, ab. Das unfassbare, phantastische Tor durch eine Einzelaktion von Robben, der einen kurzen Slalom durchs Mittelfeld mit einem Schuss aus 22 Metern, welcher sich genau in den äußersten Torwinkel drehte, abschloss, hatte das 2:3 besorgt und damit den Bayern das Weiterkommen gesichert. Für den Fall dass es so bliebe. Die danach erfolgende Analyse, welche die Tischnachbarn anstellten angesichts der möglichen Spielausgänge, wer wann und warum weiter käme möchte ich mit Verweis auf „wirklich zu kompliziert“ sparen. Warten wir mal ab, was die Offiziellen sagen… oder so. Das 2.3, so viel unstrittig, genügte den Bayern.
Ein paar Beobachtungen von mir noch zum Spiel: Als Bayern die Verpflichtung von Arjen Robben bekannt gab, war ich ziemlich überrascht, dass ihnen ein solcher Coup gelungen war. Der Man ist einfach Weltklasse. Jedoch habe ich persönlich in der gesamten letzten Saison eine Menge Spiele von Real Madrid live gesehen (ja, und das obwohl kein einzige Deutscher dort spielt! Und auch Bernd Schuster ist nicht mehr Trainer…). Erkenntnis: Arjen Robben hat eine Krankheit. Das sind nicht seine Glasknochen. Er war in jedem Spiel auffällig der beste Spieler. Jedoch ergab es sich immer wieder, dass er die komplette Hintermannschaft ausspielte und dann entweder ein Tor erzielte — oder eben kein Tor erzielte. Nur erübrigte es sich irgendwann, dass die Mitspieler sich bewegten. Wozu auch? Sie bekommen den Ball nicht.
Selbstverständlich übertreibe ich maßlos. Und ein solcher Weltklassemann müsste doch in der Lage sein, dazu zu lernen? Schließlich bekommt er auch die besten Trainer. Andererseits sieht man Ansätze dieser Krankheit bis heute, Das Übel besteht auch nicht darin, dass es nicht nach Torgefahr aussieht und nicht oft genug einschlägt. Das Übel ist, dass die Mitspieler sich nicht mehr anbieten. „Mach du mal.“ Dann wird es kritisch. Da bei Real Madrid eine Vielzahl von Weltstars spielen, bedeutete das nach meiner Ansicht dort für ihn das Aus. Die bewegen sich gar nicht mehr und mosern. Bei Bayern ist es ein klein bisschen weniger Weltklasse als bei Real – außer Robben. Dieses Tor war unglaublich, Robben auch. Trotzdem sah man Ansätze, in denen die Mitspieler auch bei Bayern gestern Abend aufhörten, sich anzubieten. Sogar anderen Zuschauern fiel das auf. „…Zeitpunkt zum Abspiel verpasst.“ Ich ahne, dass er in seiner Dynamik , seiner Schnelligkeit und seiner Brillanz oft genug denkt: „Wenn ich jetzt spiele, gibt es Abseits.“ Und es deshalb nicht tut. Dennoch … er ist Weltklasse. Aber er könnte noch mehr rausholen, wenn er die Mitspieler mehr einsetzen würde.
Eine andere Beobachtung war die: Nach dem 2:3 war Bayern weiter, falls es so bliebe. Jedoch deutschen Mannschaften fehlt die Befähigung, auf Ergebnis zu spielen. Insbesondere das Umschalten „eben brauchten wir noch, jetzt haben wir, jetzt schalten wir um auf Halten, Rückwärtsgang rein.“ funktioniert überhaupt nicht. Sie spielen weiter nach vorne. Für den Zuschauer spannend, dramatisch, bis zum Schluss erfreulich. Es wird Fußball gespielt. Ziel des Spieles ist es, Tore zu erzielen. Wir wollen ein Tor, die endgültige Entscheidung. Alles gut und schön. vor allem spannend. International ist es einer der Gründe, warum die deutschen Mannschaften im Europapokal ziemlich weit hinter England, Spanien, Italien liegen. Obwohl es in dieser Saison aufwärts geht.
So war es also bis zum Schluss ein tolles Spiel. Es blieb beim 3:2 für Florenz. Laut Marcel Reif „eine der schönsten Niederlagen der letzten Jahre“ für die Bayern. Auch der Bierkastenverlierer hatte glänzende Laune und hätte vielleicht für dieses Glücksgefühl auch zwei Kästen springen lassen. Ich erkenne sehr gerne an, dass der Gesamtsieg der Bayern verdient war. Aber es war sehr eng, was nicht nur das Ergebnis zum Ausdruck bringt mit einem 4:4 insgesamt. Ich gratuliere, ziehe den Hut, danke für ein tolles Spiel und schwinge mich aufs Fahrrad gen Heimat. Gedanken? Nichts Unangenehmes. Ein wenig Glück war aber dabei. Das dürfte man ruhig sagen.
Ok, ich komme wieder. Fußball in Gesellschaft? Es geht. Ich bleibe aber immer Außenseiter, damit muss ich mich abfinden.